Helga Schneider - Als wir Kinder waren

  • Kurzbeschreibung
    Blendendes Weiß. Unendliche Flächen unberührten Schnees – jeden Morgen bietet sich dem neunjährigen Kurt das gleiche verstörende Bild. Dabei sehnt er sich so sehr nach dem Anblick des heimatlichen Gutshofes, dem süßlichen Geruch des Stalls und den vertrauten Geräuschen der Tiere, die sie in jener eiskalten Winternacht zurücklassen mußten. Das Jahr 1945 hat gerade begonnen, als die Familie Linke sich zur Flucht aus Ostpreußen entschließt. Ihr ständiger Begleiter ist die Angst – die Angst, das Pferd könnte lahmen, die Muttermilch für das Brüderchen versiegen, die Angst vor Krankheit, Hunger und dem Erfrieren. Als Kurts Großvater den täglichen Überlebenskampf verliert, muß der Junge die Führung durch die eisigen Weiten übernehmen. Achtundfünfzig Jahre später sieht Kurt seine Jugendfreundin Helga in Hamburg wieder. Gemeinsam mit ihr wagt er den Schritt in die lange verdrängte Vergangenheit.


    Über den Autor und weitere Mitwirkende
    Helga Schneider, geboren 1937 in Steinberg, heute Polen, wuchs in Berlin und Österreich auf und lebt heute in Bologna. Wie bereits in ihren autobiographisch geprägten Büchern »Laß mich gehen« und »Kein Himmel über Berlin«, die in alle europäischen Sprachen übersetzt sind, gewährt sie in ihrem dritten Buch »Als wir Kinder waren« erneut Einblick in ihre bewegenden Kindheitserinnerungen. Weiteres zur Autorin: www.helgaschneider.com


    Leseprobe. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. Alle Rechte vorbehalten.


    Hamburg, Februar 2003


    Er hatte mich in der Kerner Show gesehen. Am nächsten Tag brachte er irgendwie in Erfahrung, in welchem Hotel ich wohnte, und rief mich an.
    Als ich ihn an der Rezeption stehen sah, erkannte ich ihn sofort: Er war immer noch schlank, Kurt Linke, wenn auch etwas gebeugt und mit graumeliertem Haar. Ein Mann im fortgeschrittenen Alter – so wie ich eine Frau im fortgeschrittenen Alter war.
    Was uns verband, war die Erinnerung. Die Erinnerung an einen ganz besonderen Sommerurlaub im Jahr 1949, in einem Haus am Attersee in Österreich. Er war mir als magerer, verhaltensgestörter Junge im Gedächtnis geblieben, ich ihm als dürres, halsstarriges Geschöpf.
    Es war unser Sommer gewesen: ein wirklich wundervoller Sommer, nachdem ich ihm, beinahe mit Gewalt, seine Geschichte entrissen hatte – die Geschichte eines damals neunjährigen Jungen, der Dinge erlebt hatte, mit denen ein Kind nicht fertigwerden konnte.
    Nach diesem Sommer waren wir getrennte Wege gegangen und hatten uns aus den Augen verloren.
    Aber während wir uns an diesem strahlenden Februarmorgen gegenseitig unsere Leben erzählen – die so unterschiedlich und so sehr voneinander entfernt gelebt worden waren –, ist es, als hätten die Jahre keine Spuren hinterlassen, als wären sie an uns vorbeigeflossen wie die Elbe, draußen, vor dem Fenster der türkischen Imbißstube.
    »Hast du Kinder?« fragt er mich.
    »Einen Sohn. Und du?«
    »Zwei. Einen Sohn und eine Tochter. Das Mädchen heißt Martina und …«
    Ein Schatten senkt sich über das ungetrübte Blau seiner Augen.
    »Und der Junge heißt Nikolas, stimmt’s?« frage ich mit einem Lächeln.
    Wie hätte er auch anders heißen können?


    Attersee, Österreich, Dezember 1948


    Im Frühjahr 1948 verließen mein Bruder und ich zusammen mit Ursula, der zweiten Frau unseres Vaters, Berlin, das nur noch ein einziger riesiger Trümmerhaufen war. Mein Vater hatte nach langer Suche in Österreich Arbeit gefunden, war dort zu seinen Eltern gezogen und hatte die Erlaubnis erhalten, uns nachkommen zu lassen.
    Davor verbrachten wir aber noch ein paar Monate in einem Flüchtlingslager bei Lübeck; auch das war eine ziemlich harte Zeit, vor allem für uns Kinder. Mitte November brachte uns dann ein Güterzug alle drei zur österreichischen Grenze; von dort ging es in einem alten Bummelzug nach Salzburg weiter.
    Im Bahnhofsrestaurant nahmen wir ein karges Mahl zu uns: Während unsere Stiefmutter einen Salzhering mit Semmel verzehrte, mußten mein Bruder und ich uns ein Paar Frankfurter und eine Scheibe Schwarzbrot teilen.
    Von Salzburg gelangten wir in einem Regionalzug nach Vöcklamarkt und dann in einer kleinen Panoramabahn nach Attersee. Und dort gab es nach sechs Jahren endlich ein Wiedersehen mit den Großeltern.


    Meine Meinung


    Ein unscheinbares, weil nicht sehr dickes Büchlein - das es aber gewaltig in sich hat. Man erfährt vom Schicksal der kleinen Helga und auch des kleinen Kurt, die die Kriegswirren auf unterschiedliche Weise, jeder aber auf seine Art furchtbar traumatisch erlebt haben. Es dauert seine Zeit, bis Kurt sein Trauma überwindet und endlich wieder lernt, Vertrauen zu fassen und mit Helga Freundschaft schließt.


    Ein Bericht, der unter die Haut geht.


    Sprachlich oder vom Zusammenhang her hätte es noch etwas ausgefeilter sein können, daher 6 von 10 Punkten.