Nachdem ich kürzlich das Erstlingswerk des Autors Lutz Rocktäschel in die Hände bekam, in dem es um Energiewesen und ihre Verbindung zur Erde bzw. den Menschen geht, kam ich nicht umhin, den zweiten, aktuell erschienenen Roman „Vuvuzela oder Die Stimmen der Götter“ zu lesen. Zumal eine der Figuren des Romans „Die Stimmgabel – Berichte aus dem Wimpernschlag“ auch in diesem Buch vorkommen soll.
Auch für sein zweites Buch hat der Autor ein schlicht wirkendes Cover ausgesucht, das mich sogleich ansprach. Ein weißer Spiralnebel vor einem schwarzen Hintergrund. Der farbige zweite Nebel stellte sich beim zweiten Hinsehen als Vuvuzela heraus.
Was verrät die Rückseite des Buches?
Zitat... Kohlpeter, ein ehemaliger Wirtschaftsagent, besucht auf Anraten seines Freundes ein international beachtetes Klangsanatorium bei Berchtesgaden. Dort will er sein Ohrenrauschen, ein furchtbares Tröten, wie von einer Vuvuzela, behandeln lassen. Ergebnis der Klangtherapie ist eine Hyper-Sensibilisierung, die es ihm ermöglicht, mit dem Tinnitus kreativ umzugehen. Auf einer nächtlichen Wanderung durch das Sanatorium hört er Stimmen und entdeckt ein experimentelles Labor zur kosmischen Fernerkundung. Der Akustik-Thriller nimmt seinen Lauf ...
‚Vuvuzela oder die Stimmen der Götter‘ hat mich auf zwei Arten begeistert. Zum einen, weil sich der Autor sehr authentisch mit den Themen Hören und Tinnitus auseinandersetzt. Seltsamerweise stört genau diese genaue Auseinandersetzung aber den futuristischen Grundgedanken der Geschichte nicht. Es verdeutlicht im Gegenteil sehr vieles. Zum Zweiten – obwohl es auch hier um Weltraumreisen und die Frage nach extraterrestrischem Leben geht - ermüdet der Autor nicht durch Aliens und/oder die akribische Beschreibung irgendwelcher waffenstrotzender Schlachten zwischen Menschen und Außerirdischen. Niemand will den Protagonisten und seine Artgenossen töten. Spannend fand ich die Geschichte trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen.
Auch dieses Mal bedient sich Rocktäschel seines philosophischen Stils und deshalb sollte man diesem Buch, genau wie seinem ersten Roman, die volle Aufmerksamkeit am besten in ruhiger Umgebung widmen. Umso deutlicher wurde mir persönlich das Thema Tinnitus und der damit einhergehende Verlust von Lebensqualität bewusst.
Wie gesagt, der Autor bemüht auch in seinem zweiten Roman keiner monsterartigen Aliens, obwohl dieses Mal Menschen in die unendlichen Weiten der Galaxien um uns herum aufbrechen. Allerdings ganz ohne Raumschiff. Die Welt, in der sein Protagonist lebt, ist fast so wie unsere jetzige. Wenn man davon absieht, dass der technische Fortschritt autonome Stromversorgungsmöglichkeiten oder Tragschrauber (als Fortbewegungsmittel) mit sich gebracht hat, könnten Kohlpeter und seine Mitstreiter dennoch mitten unter uns leben.
Sein Protagonist plagt sich mit den typischen Problemen eines Menschen, der hören will und nicht gehört wird. Der zu viel Druck bekommt. Durch andere, noch mehr jedoch durch sich selbst. Der organisieren will und im Chaos versinkt, auch wenn dies auf den ersten Blick weder ihm noch sonst jemandem auffällt. Dennoch geht er unter dem Symptom seiner „Erkrankung“ fast in die Knie. Die Geräuschkulisse in seinem Ohr bringt ihn dazu, ein Klangsanatorium in der Nähe von Berchtesgaden in ländlicher Idylle aufzusuchen. Er hofft auf Heilung und er erfährt sie in gewisser Weise.
Allein die Schilderung des Sanatoriums ist futurisch unterhaltsam und bietet gleichzeitig einen Exkurs in die Beschreibung und Funktionsweise des menschlichen Ohrs und die Bedeutung des Hörens an sich. Die ersten Tage, die die Hauptfigur der Geschichte dort verbringt, sind für den Leser mit einer sehr authentisch wirkenden Darstellung eines Tinnitus-Patienten gefüllt.
Und während eine ebenfalls anwesende Journalistin Mutmaßungen hegt, dass das Sanatorium genau genommen nichts weiter als eine riesige Abhöranlage ist, mit der die Menschheit ausspioniert werden soll und menschliche Versuchskaninchen unter dem Deckmantel einer Therapie möglicherweise in eine Art Cyberborg verwandelt werden, passiert in einem geheimen Labortrakt in gewisser Weise genau das, was sie befürchtet und doch etwas ganz anderes.
Die unversiegbar erscheinende Geräuschkulisse in den Ohren der Tinnituspatienten und ein paar weitere in ihnen schlummernde und durch Experimente geweckte Fähigkeiten sorgen nicht nur dafür, dass der Protagonist Kohlpeter nachts durchs Sanatorium wandelt, weil er nicht schlafen kann. Seltsame Stimmen führen ihn in den geheimen Labortrakt, wo er einen Bekannten trifft, den er eigentlich nicht wiedersehen wollte. Polwächter, einer der aufmerksamen Hüter der (Stromversorgungs-)Netze aus Rocktäschels erstem Roman, hat in ‚Vuvuzela oder Die Stimmen der Götter‘ ein neues Betätigungsfeld gefunden – die kosmische Fernerkundung. Die erfolgt mittels Klang und Resonanzen.
Kein Virus oder Bakterium lässt die Menschheit dazu mutieren, ohne Raumschiffe in unerforschte Galaxien aufzubrechen. Tinnitus ist der Schlüssel zur kosmischen Fernerkundung. Derselbe Tinnitus, der bereits 2005 etwa jeden 25. hier in Deutschland geplagt hat und seit dem Altertum eine überaus reale Geisel der Menschheit ist, auch wenn sie nicht immer so betrachtet wurde. Auf der Suche nach Heilung, ihrem inneren Ton, schaffen es manche Probanden nicht nur, Dinge wie Handys überflüssig zu machen, indem sie eine direkte Verbindung zu anderen herstellen. Nein, auf der Suche nach Heilung, wurde auch die Möglichkeit gefunden, die Erde wenigstens mental zu verlassen. In Sekundenbruchteilen durchs All zu rauschen und genauso stimmige Bilder wie herkömmliche Raumsonden zu liefern. Nur eben viel, viel schneller als die bisherige Technik es möglich machte. Das finden die Wissenschaftler mithilfe weiterer Technik heraus, die es ihnen ermöglicht, die von den Esonauten ermittelten Daten und ihre gesammelten Eindrücke der Exkursionen visuell darzustellen. All diese technischen und mentalen Errungenschaften sind neu und haben, wie alles, was noch in den Kinderschuhen steckt, ihre Tücken. Außerdem scheinen die Menschen nicht allein im Weltraum zu sein. So muss Kohlpeter beispielsweise plötzlich feststellen, dass er seinen Körper und Schmerzen fühlen kann, obwohl besagter Körper ja eigentlich auf der Erde ist. Und er stellt, genau wie die anderen Probanden fest, dass die Wissenschaftler nur an bestimmten Dingen interessiert sind und sie stellenweise mit den auftretenden Fragen und Nöten alleine dastehen lassen.
Doch all das ahnt er noch nicht, als er nachts Stimmen folgt, die ihn bald darauf zu einer Hauptfigur eines Experiments machen, das etwas aus dem Ruder läuft, sobald Kohlpeter auf seinen Exkursionen nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit zu überwinden beginnt. Zwei weitere Esonauten verschwinden mental spurlos, während ihre leblosen Körper auf der Erde zurückbleiben. Einer der beiden zieht die unendlichen, klangerfüllten Welten seinem geräuschüberfrachteten, irdischen Dasein vor und geht freiwillig.
Nach dem Scheitern des Experiments beginnt Kohlpeter einen Bericht zu verfassen, seine Erlebnisse niederzuschreiben. Ist das Buch eine Fortsetzung von „Die Stimmgabel – Berichte aus dem Wimpernschlag“? Ja und nein. Beide Bücher hängen zusammen und können doch völlig unabhängig voneinander gelesen werden.
Der Autor wirft die Frage auf, was passiert, wenn die zurückgebliebenen Körper vernichtet werden, obwohl sie für Esonauten die einzige Möglichkeit zu sein scheinen, wieder zur Erde zurückzukehren. Auch stellt sich beim überraschenden Ende der Geschichte die Frage, ob die Dinge, die Kohlpeter auf seinen Exkursionen gesehen und erlebt hat, tatsächlich extraterrestrischen Ursprungs sind oder ob sie lediglich gewissermaßen durch einen Zeitsprung entstanden und ganz und gar irdisch waren. Womit der Autor bei mir eindeutig die Neugier auf einen Folgeband geweckt hat. Das Thema Hören oder Klang ist noch lange nicht ausgereizt. Vielmehr wirft es immer mehr Fragen auf, je mehr man sich damit beschäftigt. Insofern ist meine Hoffnung auf eine Fortsetzung hoffentlich nicht unbegründet.
Dass er so authentisch darüber schreiben kann, dürfte vielleicht in seiner eigenen Geschichte begründet sein. In seinem zweiten Roman erwähnt der 1961 in Cottbus geborene Autor und studierte Philosoph eingangs: ‚Der Lärm der Vuvuzelas in den Fußballstadien wird von manchen als Summen eines Bienenschwarms beschrieben. Ich fühle mich auf mein Ohrenrauschen zurückgeworfen, das als lautes auf- und abschwellendes Kreischen an den Nerven zerrt. Ich wollte diesen Thriller eigentlich ‚Tinnitus‘ nennen, aber es gibt keinen Gegenstand, der besser jedem Ahnungslosen den Gehörlärm näher bringt, wie die Vuvuzela. Heute gilt das Ohrenrauschen als zivilisatorische Krankheit. In der griechisch-römischen Antike wurde den Betroffenen des Tinnitus die Fähigkeit zugeschrieben, die Stimmen der Götter oder die Melodie des Kosmos zu hören. Historische Vorbilder haben aus der Not ihres Tinnitus heraus wunderbare Musik komponiert, Bilder gemalt oder Bücher geschrieben. Ich mute meinen Lesern einen spannenden Akustik-Thriller zu, der voller Fantasie und abgedrehter Unmöglichkeiten steckt.‘
Rocktäschel arbeitet als selbstständiger Trainer für Rhetorik und Konfliktmanagement sowie Handelsvertreter für Industrieprodukte. Die Menschen und technischen Errungenschaften oder Erfahrungen, die er dabei kennenlernt bzw. macht, fließen in seine Geschichten mit ein. Der Autor ist Mitbegründer des Autorenvereins „Kristallfeder“. (Autorenseite: www.energiemeer.de)
© 2010 Antje Jürgens (AJ)