Die Glocken von Vineta, Charlotte Lyne, Blanvalet Verlag, München, Dezember 2007, ISBN 978-3-442-36716-0, 12,00 €
Zur Autorin: lt. Klappentext
Charlotte Lyne, geboren 1965 in Berlin, studierte Germanistik, Latein, Anglistik und Italienische Literatur in Berlin, Neapel und London. Ihren Großeltern aus Riga und Danzig verdankt sie ihre Verbundenheit mit der Ostsee und die Leidenschaft für deren Geschichte und Sagenwelt. Charlotte Lyne lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in London, und wenn sie nicht gerade schreibt, ist sie Übersetzerin und Lektorin.
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Meine Meinung:
Sagen ranken sich um das Atlantis der Ostsee: Vineta, eine Stadt, die es nach heutiger Sicht der Fachwelt unter Berücksichtigung der schlechten, aber vorhandenen Quellenlage gegeben haben muss. So wie Atlantis fand auch die Vineta – Sage immer wieder Eingang in die Literatur und wurde bereits von Heinrich Heine, Lawrence Norfolk, Selma Lagerlöf und Günter Grass in ihren Werken verarbeitet. In ihrem Debütroman „Die Glocken von Vineta“ macht Charlotte Lyne Vineta und seinen Untergang zum zentralen Thema. Sie zeigt uns dabei Vineta als freie Stadt im Mittelalter, stolz, reich und schön, die sich in den Auseinandersetzungen um die Macht in dieser Epoche zunächst neutral hält und sich dem Herrschaftsanspruch der christlich-römischen Kirche widersetzt. Dennoch machen die Konflikte zwischen Heiden und Christen keinen Halt vor den Toren der Stadt. Charlotte Lynes Roman ist aber viel mehr als die mögliche Geschichte der untergegangenen Stadt Vineta. Es ist die Geschichte zweier ungleicher Brüder, eine Geschichte von Liebe, Verbundenheit, Zerwürfnis und Hass in Parallelität zur Geschichte Vinetas.
Vineta, im 12. Jahrhundert: Die ungleichen, aber eng verbundenen Zwillinge Warti und Bole Sliwosz wachsen als Söhne eines vermögenden Bernsteinhändlers heran. Als der Vater bei einem Schiffsunglück ertrinkt, tritt Warti, der Ältere der beiden, das Erbe an, während Bole sich als Fischhändler verdingt. Bole heiratet Jula, die aufgrund des frühen Verlusts ihrer Eltern keine Aussicht hat, sich reich zu verheiraten. Warti begegnet auf einer seiner Handelsreisen nach Nowgorod der jungen rothaarigen Schönheit Natalia, Magd von Wartis Handelspartner, die aufgrund eines Schocks in der Kindheit die Sprache verloren hat. Die heimatlose Natalia willigt ein, mit Warti nach Vineta zu gehen. In Vineta nehmen die Spannungen zwischen Christen und Heiden zu und die schwierige Lage verschlimmert sich, da der dänische König die wohlhabende Stadt als große Bedrohung sieht, die er beseitigen will. Bole, der von seinem Bruder unabhängig sein will und in seinen bisherigen Geschäften glücklos war, heuert beim dänischen Hof als Spitzel an, um seine Familie ernähren zu können. Seine Verbindung mit den Dänen macht ihn immer mehr zum Außenseiter in einer Stadt, die nicht nur durch die herrschenden Machtkämpfe sondern auch durch Naturgewalten bedroht ist...
Charlotte Lyne erzählt die Geschichte der Brüder Sliwosz und die Geschichte Vinetas wortgewaltig in einer klaren, schönen, wo notwendig auch drastischen Sprache, die Stadt, Bewohner vor allem aber die Protagonisten so plastisch werden lässt, dass sie dem Leser förmlich vom Papier entgegen zu springen scheinen. Während Warti eher einem klassischen Helden gleicht, ist Bole der passive Held, schwankend und oft unentschlossen in seinem Charakter. Liebe thematisiert die Autorin in ihrem Roman in vielerlei Facetten und schließt dabei auch die Liebe in Abhängigkeit vom Trieb nicht aus.
So viel Charlotte Lyne ihren Lesern gibt, so sehr fordert sie diese auch. Die unaufhaltsambare Annäherung an die Katastrophe und die schonungslose Darstellung der Geschehnisse sind nicht immer leicht zu verdauen und fordern einen Leser, der bereit ist, sich mit dem Roman und seinen Botschaften auseinander zu setzen, da das, was die Autorin bietet, weit über den gängigen Unterhaltungsroman hinaus geht.
Der Blanvalet Verlag hat „Die Glocken von Vineta“ als Taschenbuch im Sondereinband herausgegeben. Hinter dem geschmackvollen Cover verbirgt sich neben dem Roman eine Karte, ein hilfreiches Glossar, Übersetzungen und Erklärungen lateinischer Redewendungen und ein Nachwort der Autorin, in dem sie einige Erläuterungen zur historischen Quellenlage liefert.
Charlotte Lynes Debüt „Die Glocken von Vineta“ ist ein außergewöhnlicher und facettenreicher historischer Roman, der als spannender Unterhaltungsroman gelesen werden kann, dem interessierten Leser aber deutlich mehr als das bietet. Allen, die gerne gehobene historische Romane lesen, kann ich nur empfehlen, sich von Charlotte Lyne auf eine Reise nach Vineta entführen zu lassen und die Geschichte eines gescheiterten Traums zu erleben. Sie werden es nicht bereuen.