Beiträge von LotharPawliczak

    Ja, so etwa sollte man als Ausländer über Venedig schreiben
    Henri de Régnier ist ja inzwischen wohl irgendwie ein Klassiker und daher sowieso über alle Kritik erhaben. Leider muß man etwas einschränkend sagen „ein Klassiker seiner Zeit“. Er ist so sehr vergessen, daß er bislang bei wikipedia.de keinen Eintrag hat, und die Brockhaus-Enzyklopädie (Bd. 18 Mannheim 1992 S. 206) widmet ihm knappe 17 Zeilen. Marcel Reich-Ranicki wird nicht müde, wo es ihm notwendig erscheint, darauf hinzuweisen, daß Bücher generell ein Verfallsdatum haben. Nur ganz wenige Bücher überleben dieses und man kann nur immer wieder hoffen, es seien auch die besten. Daher ist es mutmaßlich auch vergebliche Liebesmüh, das Publikum auf ein inzwischen fast vergessenes Werk hinzuweisen. Mein „Lest dieses Buch!“ ist daher vor allem an alljene gerichtet, die ihren Drang, über Venedig schreiben zu wollen, nicht unterdrücken können (Denen rechne ich mich auch selbst zu.). Aber Henri de Régnier zu Venedig ist durchaus allgemein lesenswert, liebenswert, weil liebenswürdig geschrieben. Freilich, in unserer schnelllebigen Zeit erscheint manche Passage vielleicht etwas langatmig, manche Sentenz zu Personen, die man heute kaum mehr kennt und auch nicht alle muß man kennen, entbehrlich. Seine mitunter etwas ausufernden Beschreibungen lassen aber auch in der deutschen Übersetzung höchstes sprachliches Niveau erkennen (ich kann es im Originaltext nicht wirklich beurteilen) und ein wenig Entschleunigung tut uns in unserer hektischen Zeit vielleicht ganz gut.
    Henri de Régniers Aufzeichnungen zu seinen Venedig-Aufenthalten - von 1899 bis 1924 waren es insgesamt zwölf - sind in diesem Band zusammengefaßt. Es sind Annäherungen an die geliebte Stadt. Die deutsche Betitelung, “In Venedig leben. Reisen um glücklich zu sein“, geht haarscharf am Inhalt vorbei, zumal sich hier Titel und Untertitel einander widersprechen. Treffender ist der Originaltitel: Der Altan oder das Venezianische Leben. Der Altan ist die Aussichtsplattform des Palazzo Dario, die Henri de Régnier oft genutzt hat, und La Vie Vénetienne läßt offen, ob er selbst in Venedig zum Leben erwacht ist oder ob das beobachtete Venezianische gemeint sei.
    Es ist kennzeichnend, daß neun der 17 Kapitel mit einer Beschreibung, Ausmalung des Weges nach Venedig hin, mit der Ankunft dort beginnen. Das ganze Buch dokumentiert eine beständige Annäherung an Venedig: „Venedig hat die Lobhudler nicht nötig. Seine Schönheit genügt sich selbst... Man muß sich dazu zwingen, es zu nehmen, wie es ist, man muß Genauigkeit und Ernsthaftigkeit walten lassen, denn man kann Venedig lieben, ohne exaltiert zu sein und ohne Außergewöhnliches zu erwarten.“ (S. 19) Aber und gerade deshalb: „...Venedig gehörte mir nicht, aber ich gehörte ihm, und dadurch hatte ich ein Gefühl von Schutz und Trost.“ (S. 48) Und: „Wichtigster Punkt und Grundregel: Lebe in Venedig, wie du überall leben würdest. Bleibe du selbst und mache keine Kunstfigur aus dir.“ (S. 60) "...was die Moralisten unter den Zeitungsschreibern 'das venezianische Gift' nennen und das ganz einfach in dem Vergnügen besteht, einige Wochen der Ruhe und der Träume in der schönsten und lieblichsten Stadt der Welt zuzubringen, seine Augen an der Schönheit der Dinge zu weiden, die Wonnen des Lichts und des Schweigens zu genießen. Das scheint mir in der tat ein Gift zu sein, und es legt einem den zärtlichen Wunsch ans Herz, sich auf neue mit ihm vollzusaugen." (S. 139) „Venedig ist unerschöpflich, und niemals kennt man es ganz.“ (S. 181) „..wenn man Venedig liebt, ist man zu jeder Tollheit fähig.“ (S. 185) „Venedig genügt mir, und ich laufe keinem anderem Vergnügen nach als ihm selbst.“ (S. 211) „Venedig steht bereit und erwartet mich in seiner Schönheit und seinen Erinnerungen.“ (S. 243) „Nie kennt man Venedig ganz.“ (S. 262) „Es gibt Orte, die verläßt man nicht, selbst dann nicht, wenn man sich von ihnen entfernt, ebenso wie die Liebe weder von zeit noch Raum abhängig ist.“ (S. 273) Über die barbarischen Zerstörungen, die der I. Weltkrieg in Venedig angerichtet hat und von denen er in Paris hörte, kann sich Henri de Régnier ebenso empören, wie über jene am Ort, wo ihn diese Nachricht erreichte (S. 197-206). Seine ungeteilte und bewundernde Sympathie gilt dagegen ehrenwerten Persönlichkeiten seiner Zeit, die sich um die Erhaltung Venedigs verdient gemacht haben wie Madame de la Baume, Prinz Friedrich von Hohenlohe, Mariano Fortuny y Madrazo, Pompeo Gherhardo Molmenti, Baron Giorgio Franchetti, Frederic Eden.
    Und kann es ein höheres Lob für eine Stadt durch einen Franzosen geben, als einen abschließenden und zusammenfassenden Vergleiche mit seinem geliebten - natürlich! - Paris?: „So oft habe ich in der von Bauwerken umstandenen Esplanade des Palais-Royal die Ähnlichkeit zum Markusplatz gesucht. Ein verwandter Zug einte sie in meinem Geist... Aber die Seine ist nicht Lethe, und man vergißt Venedig nicht mehr, wenn man vom Zaubertrank seiner Schönheit genossen hat.“ (S. 276)
    Lesen Sie es selbst!