Beiträge von ManjasVater

    Zitat

    Original von Lipperin
    Er erzählt mir etwas, was ich eigentlich gar nicht so genau wissen will, aber er erzählt es in einer Art und Weise, die mich vollkommen fesselt.


    Liebe Lipperin,


    ungern nehme ich der Diskussion die Unbefangenheit, indem ich mich selbst einmische, aber da ich gerade fast mit den Tränen kämpfe, möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, dir zu danken. Etwas Schöneres hat mir noch niemand zu dem Buch gesagt.


    Eben darum ging es: Dinge zu erzählen, die eigentlich niemand wissen will, und die uns sogar die Geschichtsbücher in der Regel verschweigen. Gern erzählt man uns die Geschichte vom goldenen Kalb, selten jedoch, dass Moses daraufhin seinem Volk befahl, zur Strafe dreitausend Menschen zu erschlagen, "ein jeder seinen Bruder, Freund und Nächsten". Wir erfahren, dass Kolumbus Amerika entdeckt und Pizarro das Reich der Inka erobert habe; von den Millionen ermordeten Indios jedoch ist nur nebenbei die Rede. Die Millionenzahl ist zu groß für unsere Vorstellungskraft; das Leid verflüchtigt sich in ihr, unnachfühlbar quantifiziert. Wir erfahren, dass Kaiser Barbarossa Verona eroberte - doch wir erfahren nicht, dass er zweihundert gefangenen Veronesen die Nasen samt den Lippen abschneiden ließ. Wir erfahren von der Güte der Kaiserin Maria Theresia, doch weit seltener von der Constitutio Criminalis Theresiana, die bürokratisch genau die Anwendung der verschiedenen Foltergrade beim peinlichen Verhör regelte.


    Meines Erachtens ist es ein schlichtes Erfordernis der Wahrheitstreue, die Grausamkeiten zu schildern, die uns die Geschichtsschreibung gewöhnlich verschweigt - notfalls im Detail, damit sie endlich nachfühlbar werden und nicht in Fußnoten oder Zahlenangaben untergehen, die niemanden berühren. Ich möchte vergangene Epochen nicht romantisieren, sondern ganz klar stellen: S o w e n i g war der Mensch wert, und das Erbe all der Grausamkeiten lebt noch in unseren zivilisierten Gehirnen fort, als strukturgewordene Gewalt, als Narbengewebe, als Angst- und Aggressionsbereitschaft.


    In "Steppenkind" geht es darum, wie Grausamkeit als gesellschaftliches Phänomen entsteht, nämlich - davon bin ich überzeugt - aus der Grausamkeit des Einzelnen gegen sich selbst. Die militanten Patriarchen waren nicht einfach Männer, die sich selbst alles und ihren Opfern nichts gönnten; vielmehr ging der Gewaltbereitschaft eine ans Suizidale grenzende Selbstverstümmelung voraus. Ihre demonstrative Machtpose ist Spiegel ihrer inneren Zerrissenheit. Zuallererst führten sie Krieg gegen sich selbst, verfemten und verdammten, was sie in ihrem eigenen Innern als naturverfallen, als unbeherrschbar, als verweichlichend wahrnehmen; dann erst trugen sie den Konflikt nach außen und vernichteten oder versklavten, was immer drohte, die verleugnete Natur wieder in ihnen wachzurufen: Die Tiere, fremde Völker (die mit Tieren gleichgesetzt wurden), und, besonders gern, Frauen.


    Ich glaube, dass bestimmte Lebensräume eine solche Entwicklung begünstigen. Die Religionen der Himmelsväter, die der Erde (und damit symbolisch der Natur) feindlich gegenüberstehen, sind ursprünglich Erzeugnisse von Völkern, die als Nomaden in Wüsten- oder Steppenräumen gelebt haben – die Religion des Abendlandes eingeschlossen. Vielleicht war es ihnen nicht möglich, die Erde psychologisch als nährende Allmutter wahrzunehmen, weil die Landschaft, die sie umgab, karg und unfruchtbar war. Das lenkte ihren Blick zum Himmel, wo die allmächtige Sonne - Symbol des Geistes und der Schöpferkraft - gnadenlos brannte. In ihrer Vorstellungswelt regiert ein zorniger Himmelsgott, der strenge Gesetze erlässt, dem ungeregeltes Erleben (selbst Liebe) ein Gräuel ist, und der sein Volk zu Krieg und Mission aussendet. "Ich will meinen Schrecken vor dir her senden", heißt es im Alten Testament, "und alle Völker verzagt machen, wohin du kommst, und will geben, dass alle deine Feinde vor dir fliehen" (2.Mose 23,28). Vor fremden Völkern warnt er: "Du sollst keinen Bund mit ihnen schließen und keine Gnade gegen sie üben" (5.Mose 7,2), und verspricht sie "auszurotten" (22). Seine Krieger vollstrecken "den Bann mit der Schärfe des Schwerts, an Mann und Weib, jung und alt, Rindern, Schafen und Eseln"(Josua 6,21). "Gelobt sei der Herr,", singt der Psalmist, "der meine Hände kämpfen lehrt und meine Fäuste, Krieg zu führen" (Psalm 144,1); er wird "seine Füße baden in des Gottlosen Blut" (Psalm 58,11). So schwer das heute für uns nachvollziehbar ist; es drückt sich darin das Sendungsbewusstsein nomadischer Wüsten- und Steppenvölker aus, die die Sesshaften als Feinde, als niedere Wesen oder gar als Beute ansahen.


    Zu meiner Rechtfertigung kann ich nur sagen: Ich verschweige die Grausamkeiten nicht, denn sie sind Bestandteile unseres eigenen kulturellen Hintergrundes, geronnen in Glaubensvorstellungen, Sendungsbewusstsein, Selbstverständnis. Vor allem aber wollte ich zeigen, wie diese Grausamkeit entsteht, wofür mir Artan als Symbolfigur diente. In ihm wollte ich zeigen, wie der Mangel an Urvertrauen, am Aufgehoben-Sein in der Umwelt – im Grunde ein allgemeinmenschliches Phänomen – zur Dämonisierung der Natur und folglich zum Hass auf alles führen kann, was innen wie außen an Natur gemahnt: Gefühl und Trieb, kreatürliches Leben, der eigene (und fremde) Körper. Artan scheitert daran, weil er am Ende keine natürliche Regung mehr in sich zulassen kann; er ist ein Anti-Held, ein unheilbar verstümmelter Mensch wie so viele Mächtige und „Große“ der Geschichte. Selbst Liebe erscheint ihm als Bedrohung, denn er erfährt sie als angstbesetzte Schwäche, als Kontrollverlust, als „Zauber“, der ihm von der Frau auferlegt wird (die typische patriarchale Verschiebung des eigenen Gefühls in den Auslöser: „die Frauen“ sind schuld, nicht der eigene Trieb). Der Schritt bis zur Hexenverbrennung liegt nicht fern; in der „Hexe“ wird die eigene, verdrängte Verfallenheit ans Natürliche exorziert.


    Viele Worte… ich mache mal lieber Schluss. Aber ich wollte dir sagen, dass ich mich selten so gut verstanden gefühlt habe wie von dir. Und nochmal: Verzeih mir die Grausamkeiten; aber ich meine, dass ihre Schilderung notwendig ist, denn sie sind sichtbarer Ausdruck einer psychologischen Fehlentwicklung, die sich bis in die Institutionen unserer Kultur hinaufverfolgen lassen, versteinert zu Gesetzen und Traditionen, von denen wir uns noch längst nicht vollständig befreit haben. Die Barbarei lebt fort, und man sollte sie nicht romantisieren, nicht verklären. Wann wurde die Folter abgeschafft, wann die Todesstrafe? Wann wurde der Krieg als politisches Mittel geächtet? Seit wann haben Frauen ein Wahlrecht, und seit wann kommt man für „Ehebruch“ nicht mehr ins Gefängnis? – Es ist nicht s o lange her, und dreitausend Jahre Geschichte wiegen schwer, verglichen mit den wenigen Jahrzehnten, die zu erleben wir das Glück haben.


    Alles Liebe und beste Grüße,


    Wolfgang