Bevor ich mit "Die Geschichte eines neuen Namens" begonnen habe, habe ich mich gefragt, inwiefern Elena und Lila sich wohl entwickelt haben werden, denn zumindest eine von ihnen hat den großen Schritt in einen neuen Lebensabschnitt gewagt. Neben den geistigen Entwicklungen der beiden Protagonistinnen, wünsche ich mir aber auch, dass sie sich treu geblieben sind und vor allem, dass ihre Freundschaft mit all ihren Widrigkeiten weiterhin Bestand hat.
Schon nach den ersten Seiten war ich erneut gefangen vom Geist des Rione, vom staubigen Dunst aus Gewalt, Unwissenheit und längst veralteten Werten, der an Elena und Lila klebt, obwohl sie auf verschiedenen Wegen versuchen ihn loszuwerden.
Die Freundschaft der beiden ist ein undurchschaubares Wechselspiel. Ein Kampf darum, wer von wem abhängig ist und wer unabhängig vom anderen existieren und glücklich sein kann. Ich weiß nie genau, wer gerade Oberwasser hat, so schnell wechselt der Ball der Dominanz zwischen ihnen hin und her. Gleichberechtigt ist die Freundschaft keinesfalls. Mal ist Elena auf unterwürfige Weise von Lila abhängig, mal habe ich das Gefühl, dass Lila ihre Stärke verliert, ist Elena nicht da, um ihr den Rücken zu stärken und ihr die Kraft verleiht, die sie benötigt um ihre Fassade als unantastbare Lila aufrecht zu erhalten.
Lilas Intention besteht scheinbar darin nach außen stark, geheimnisvoll und einzigartig zu wirken. Sie möchte den Ton angeben, sich nicht beherrschen lassen, möchte gütig und freigiebig sein und zugleich von diktatorischer Härte. Um ihren Willen durchzusetzen? Aus Selbstschutz? Lila ist so undurchdringlich wie die Staubschicht des Rione.
Bisher hat Ferrante die wahre Lila immer nur Bruchstückhaft gezeigt. Die Puzzleteile reichen nicht aus, um sich ein klares Bild von ihr zu verschaffen. Ob das noch geschehen wird, bevor Lila sich auflöst? Ferrante lässt mich im Ungewissen und erhöht damit die Spannung auf dramatische Weise.
Was klar zu erkennen ist - Lila und Elena funktionieren nur gemeinsam. Als eine Art Symbiose mit wechselnden Machtverhältnissen, die von beiden mal mehr, mal weniger bewusst ausgespielt werden.
"Die Geschichte eines neuen Namens" ist - wie der Vorgänger "Meine geniale Freundin" auch - ein spannendes Werk über zwei sehr individuelle und faszinierende Frauenfiguren, deren aufreibende Freundschaft unter dem Stern der Gewalt und Werte ihrer Ahnen steht. Bisher konnte Ferrante den Sog ihrer Saga aufrecht erhalten. Ich bin mir sicher, dass ihr das auch weiterhin gelingen wird und freue mich auf die Bände, die noch folgen werden.