Beiträge von Bartlebooth

    Ein ganz wunderbares Buch, das gerade für den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Bilderbuch nominiert war, ihn aber leider nicht gewonnen hat: Eine Geschichte um die Verständigung zwischen einem empfindsamen Seelchen und einem bollerigen Grobian. Witzig getextet von Georg Bydlinski und ganz großartig illustriert von Jens Rassmus:


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    Albrecht Koschorke ist Literaturwissenschaftler an der Universität Konstanz und war im Jahre 2003 einer der Träger des Leibniz-Preises. Er beschäftigt sich allerdings nicht nur mit streng literaturwissenschaftlichen, sondern auch oft auch mit allgemein kulturwissenschaftlichen Fragestellungen.
    So auch in "Die Heilige Familie und ihre Folgen" aus dem Jahr 2000, das eine Art Motivgeschichte der Heiligen Familie darstellt: Was genau zeichnet die Heilige Familie aus? Wo tauchte diese Konstellation überall in den letzten 2000 Jahren auf? Mit welchen gesellschaftlichen Konsequenzen war das Heranziehen der Heiliegen Familie als Muster verbunden?


    Der erste, eher historische Teil ist dabei in meinen Augen der interessanteste. Er legt das Hauptaugenmerk auf die unterschiedlichen Beziehungen der einzelnen Mitglieder der Heiligen Familie. Die Mutter-Kind-Achse wird dabei besonders intensiv betrachtet; Koschorke untersucht, welches Geflecht sich aus der Situation ergibt, dass Maria sowohl Gottesmutter als auch - etwa in den sponsus/sponsa-Darstellungen des Mittelalters - Ehefrau Christi ist. Durch die Dreifaltigkeitslehre wird das ganze Geflecht noch komplizierter und es gibt Quellen, in denen Maria als Tochter des eigenen Sohnes bezeichnet wird.
    Ein weiterer interessanter Punkt ist die biblische Betonung der nicht-familialen Bande. Koschorke zitiert Stellen überraschend deutlicher Familienfeindlichkeit (etwa aus dem Lukasevangelium) und nimmt diese zum Ausgangspunkt einer seiner Hauptthesen, nämlich dass das Bild der Heiligen Familie - grob gesprochen - eine Schwächung der familiären Bande (allerdings vor allem der der Großfamilie) und eine Teilung der Liebe in einen körperlichen und einen spirituellen Aspekt herbeigeführt habe.


    So spannend seine Ausführungen über weite Passagen sind, so gewitzt Koschorke (dann vor allem im dritten Teil) die Rolle der Heiligen Familie bei der Herausbildung einer neuzeitlichen Vorstellung vom Staat und der bürgerlichen Familie im 18. und 19. Jahrhundert darstellt, so sehr fehlt mir über weite Strecken des Buches eine Analyse des Umstandes, warum bei allen Spiritualisierungstendenzen der sozialen Beziehungen, die über das Muster der Heiligen Familie eingeleitet werden, doch stets eine "Zielformation Kleinfamilie" (wie Koschorke es nennt) übrig bleibt, und warum nicht etwa die Jüngerschaft zum familienpolitischen Modell der Kirche ausgerufen wird. Der Verweis auf die ökonomischen Notwendigkeiten ist mir da ein wenig zu dünn, ich hätte mir eine stärkere Analyse der ethischen Begründungsstrategien für die Bevorzugung der Kernfamilie vor anderen sozialen Bindungen (etwa durch die Erhebung der Ehe zum Sakrament) durch die Kirche gewünscht.


    Alles in allem ist das Buch für Leser/innen, die an kulturgeschichtlichen Entwicklungen des Familienbildes oder auch der neuzeitlichen Vorstellung von Liebe und Freundschaft interessiert sind, ein (für wissenschaftliche Literatur) gut lesbarer und informativer Einstieg.


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    Ein italienischer Bekannter pflegte auf die Aussage: "Da hast du mich falsch verstanden" immer zu sagen: "Vielleicht hast du dich ja auch falsch ausgedrückt". Wir müssen das gar nicht letztgültig entscheiden, Trugbild, aber die Vehemenz, mit der du mir hier eine gigantisch überzogene tiefenpsychologische und hochphilosophische Suche nach verstecktem Textsinn anzudichten versuchst, empfinde ich fast als gelungenere Fiktion als deinen Text ;-).


    Ich habe nicht zwischen, sondern auch hier in den Zeilen gelesen. Und ich habe auch verstanden, dass da irgendeine Form von Ironie drin sein sollte (daher meine entsprechende Frage). Aber leider, leider vollzieht sich der heilige Autorenwille nicht immer in gewünschter Weise und ein Text, der "witzig" und "unterhaltsam" gedacht war, wirkt auf manch einen langweilig und gestelzt. Du kannst das meinethalben weiterhin meinem Übereifer zur Last legen, das ist dein gutes Recht. Aber mich hier als den apokalyptischen Reiter der Kritik hinzustellen - darüber solltest du jetzt vielleicht mal anfangen zu lachen.


    Waldfee , ich meinte mit den "anderen" niemanden im Speziellen, sondern wollte einfach nur zum Ausdruck bringen, dass ich nicht erwarte, dass meine Anmerkungen für jede/n hilfreich sind. Ganz ohne Schnippischkeit wollte ich daher sagen: Es ist vollkommen ok, meine Anmerkungen zu ignorieren. Es ist natürlich ebenso ok, sie nicht zu ignorieren :-).

    Hallo Trugbild,


    genauso wenig wie ich verstehe, warum deiner Meinung nach ein Text so sehr das Thema verfehlt, verstehe ich, warum du findest, dass ein Kommentator (nämlich ich) furchtbar hart und unangemessen kritisiert. Das verstehe ich umso weniger, als ich die drei Kommentare, die von dir gekommen sind allesamt als härter empfinde als den härtesten meiner eigenen. Aber so haben wir eben unterschiedlilche Wahrnehmungsweisen, ich kann damit leben, wenn du mich nicht ernst nimmst und ich habe auch überhaupt kein Problem damit, wenn meine Anmerkungen von dir oder anderen ignoriert werden.


    In diesem Sinne: Grüße, B.

    Hallo Trugbild,


    Zitat

    Original von Trugbild
    Wobei die Undurchsichtigkeit eines Ideen-Mix nichts schlechtes ist... Kurzgeschichten dürfen verworren, undurchsichtig und unendlich weit hergeholt sein. Nicht jeder hat eine Kurzgeschichten-Schablone zu Hause...


    Ich schrieb: mir undurchsichtig, dh ich konnte keine Struktur erkennen; mit einer Schablone hat das nichts zu tun.


    Zitat

    Original von Trugbild
    Ich habe massive Probleme damit, jeden Text als "Auseinandersetzung" mit irgendwas oder als Träger einer wichtigen Botschaft zu sehen. Eine Geschichte sollte auch einfach nur so genommen werden können wie sie ist - ohne den Drang, zwischen den Zeilen irgendwas lesen zu wollen. Ein paar Sätze über eine Person, die Traum und Realität durcheinanderbringt muss doch nicht zwangsläufig eine "Auseinandersetzung", womöglich noch eine philosophisch tiefsinnige, sein?


    Dafür, dass du damit Probleme hast, hast du aber ganz schön über "Popliteratur" vom Leder gezogen. Außerdem bedeutet "Auseinandersetzung" nicht automatisch "tiefsinnig und philosophisch". Ich hatte hier auch nicht den Drang zwischen, sondern den, in den Zeilen etwas lesen zu wollen.


    Zitat

    Original von Trugbild
    Wenn man es eh nicht verfehlen kann, kann mans auch grad weglassen, oder?


    Das wiederholst du jetzt, glaube ich, zum dritten Mal. Ich finde, ein einziges Wort schafft kein "Thema" im emphatischen Sinn, sondern bietet nur Anlass zu Assoziationen. Und man könnte genauso sagen, dass die Liebesnacht auf Schloss Reichenau oder das Gegen-den-Baum-Fahren oder die Vergewaltigung nicht zwangsläufig um Mitternacht stattfinden müssen. Ich sehe einfach keine inhaltliche Rechtfertigung für deine diesbezügliche Kritik an dem einen Text "Meterphysik".


    Zitat

    Original von Trugbild
    Im übrigen halte ich es für zu Verbissen, in diesem Text stilistische "Kontrapunkte" finden zu wollen oder das als "Auseinandersetzung" mit dem Thema Wertezerfall in der westlichen Kultur zu betrachten.


    Ich will das nicht finden, ich habe die Frage gestellt, ob das wohl so sein sollte. Wenn es nicht so sein sollte, bleibt ohnehin nur das Gejammer übrig, was den Text nicht besser macht.
    Ein weiteres Beispiel für einen unfreiwillig komischen Ausdruck sind die "ersten Ansätze einer weiblichen Brust" - denn erste Ansätze einer männlichen Brust kann ich mir nicht wirklich vorstellen, es sei denn, hier sollte auch noch das Problem der "übergewichtigen Kinder" behandelt werden.


    Zitat

    Original von Trugbild
    Ja. Hätte es. Heisst das jetzt, dass man das Buch nicht explizit hätte nennen dürfen, wenn es ersetzbar ist?


    Nein, das heißt, dass es keine Funktion hat, und die Geschichte somit aus dem Vorlesen eines beliebigen Buches besteht. Ich finde das langweilig.



    Wenn ab jetzt nur noch diejenigen abstimmen, die auch eine Geschichte schreiben, dann stimmen nächsten Monat wahrscheinlilch nur noch fünf Leute ab. Das alte "Argument": "Mach's besser, bevor du kritisierst" ist auch nach den Äonen seiner Verwendung noch keines, denn wenn mir ein Kleidungsstück nach zweimaligem Waschen auseinanderfällt, muss ich auch kein stabileres nähen können, um sagen zu dürfen, dass das Kleidungsstück nichts taugt.
    Besonders hart finde ich meine Kritik im übrigen nicht, aber wem sage ich das.

    Es war schon mal Ein beliebiger, mir vollkommen undurchsichtiger Mix aus Weihnachtsgeschichte, Psychiatrie, Atomkriegsszenario und eigenartigem Lokalkolorit ("Der Zufall wollte es, dass sie sich nach langen Monaten in Köln wieder trafen" - ...). Auch sprachlich nicht überzeugend.


    Arbeit um Mitternacht Sprachlich schlecht, Situation wurde mir nicht wirklich klar; sollte dieses Betiteln von Todeskandidaten als "Kunden" eine Reflexion auf die Kommerzialisierung und Privatisierung aus gutem Grund staatlicher Bereiche sein? Wenn ja, kann man die Pointe nur erraten. Gefiel mir gar nicht.


    Die Geisterstunde geht vor die Hunde Sehr gewollt kritische Auseinandersetzung mit der verlotternden Jugend (und auch mit den verlotternden Erwachsenen); die immer wieder thematisierte "Fleischwunde" sollte da evtl. einen ironischen Kontrapunkt setzen? Das misslingt leider und so bleibt ein vage zivilisationskritisches Verfallsgejammer. Ein nochmaliges Durchlesen hätte außerdem vielleicht ein paar unfreiwillig komische Tippfehler vermeiden helfen (zB "zerrüttelte Familienverhältnisse") - Zeitdruck bestand hier ja offenbar nicht.


    Der Traum Etwas lau geratene Auseinandersetzung mit der Schwierigkeit, Traum und Wachen auseinanderzuhalten. Blieb mir zu belanglos und ohne wirkliche Pointe.


    Mitternacht auf Schloss Reichenau Liebesgeschichten werden nicht dadurch besser, dass sie mal ausnahmsweise nicht heterosexeull sind. Ziemlich schwülstig und eher ideenlos.


    Marketing für den Tod Ein guter Ansatz, der in der engeren Wahl für die Punkte war. Die Verbindung von leerem Wirtschaftsgeblubber und dem Thema "Tod" gefiel mir. Fiel ab "Ich arbeite eng mit unseren Partnern zusammen..." sprachlich leider etwas ab, wobei die Pointe mit dem Brief von G. wieder gut gesetzt war. Platz 5.


    Kein Entkommen Sehr konventionelle und durchsichtige Geschichte durchsetzt mit ein paar Stilblüten (zB "Der rote Lebenssaft klebte an seinem Leib"...). Mit Werwölfen kann ich außerdem allgemein sehr wenig anfangen.


    Morgenstern Gefiel mir gut, wobei mir der Text thematisch nicht fokussiert genug war. Die Pointe war aber gut gesetzt. Knapp auf Platz 4.


    Der Hochzeitstag Aschenputtel bleibt immer Aschenputtel? Keine schlechte Grundidee, jedoch konnte mich die Umsetzung nicht überzeugen, die Ich-Perspektive passte nicht und motivisch wirkte das alles sehr konfektioniert.


    Mutternacht Schöner Titel, hätte mir als Anbindung ans Thema fast schon gereicht. Überzeugende Entmystifizierung der Mutterschaft. Auch sprachlich gut gelungen, 2 Punkte.


    Meterphysik Noch ein brillant gewählter Titel, sprachlich das Beste diesen Monat. Die Überlegungen zu Zeit und Bewegung, die kurz angerissenen und dabei prägnanten Charaktere, das hat mich alles sehr überzeugt, selbst in dieser Kürze. Mein unangefochtener Sieger!
    Nachtrag: Da ich sehe, dass hier einmal mehr über "Thema getroffen oder verfehlt" nachgedacht wird: Ein Wort ist kein Thema, das man verfehlen könnte. Wegen des Anfangs eine Fäkalphantasie zu diagnostizieren finde ich auch sehr übertrieben. Wo merkt man im Zug denn am stärksten die Bewegung? Beim Laufen und auf dem Klo. Und um Bewegung und Zeit geht es doch.


    Wiegenlied Ich liebe "Peterchens Mondfahrt", aber es einfach nur vorzulesen trägt als Idee keinen Text. Es hätte jedes andere Buch sein können.


    Seelentanz Die Kurve am Ende wurde um Haaresbreite noch genommen, sonst wäre dieser Text in die Beliebigkeit abgestürzt. Insgesamt klebt er trotzdem ein bisschen im sehr Bekannten.


    Historisch unkorrekt Sprachlich leider nicht immer ganz sauber, aber Dialoge finde ich auch sehr schwer zu schreiben. Insgesamt eine witzige Idee mit ein paar schönen Einfällen, besonders die Sache mit Hänsel und Gretel. Diese Passage hat mich überzeugt, diesem Text meinen letzten verbliebenen Punkt dieses Monats zu geben.


    Ein Abend im Sommer Sehr dick aufgetragen und, ähnlich wie "Seelentanz", wenig originell. Ein sogenanntes "wichtiges" Thema macht einen Text leider noch nicht gut.


    Und noch einmal ganz allgemein. Mitternacht und Zeit ist ungefähr eine so "logische" Assoziation wie Mitternacht und Tod oder Mitternacht und Selbstmord oder Mitternacht und Unfall. Und das ist doch vollkommen in Ordnung, das allmonatliche Wort kann doch gar nicht mehr sein als ein Reizwort. Wem etwas zu weit hergeholt erscheint, der muss ja nicht dafür abstimmen, aber ich kann nun wirklich nicht erkennen, dass der Zusammenhang ausgerechnet bei "Meterphysik" besonders weit hergeholt wäre.

    Hallo zusammen,


    die Untergliederung ist an sich keine schlechte Idee, aber die Unterteilung ist mir nicht ganz durchsichtig. Es gibt etwa "Fachbücher", darunter dann kleingeschrieben zB Physik, Astronomie, Biowissenschaften" etc.; dann gibt es "Naturwiss. & Technik", darunter klein geschrieben "Physik, Astronomie, Biologie" etc.; dann gibt es die Kategorie "Geschichte & Politik", Bücher über die Goten und die Legionen des Augustus stehen aber unter "Fachbücher". Außerdem gibt es, wie aufgezählt, zwar mehrere ad hoc-Lösungen, zB meine naturwissenschaftliche Rezension zu plazieren, aber keine eigene Rubrik für Geisteswissenschaften, weder zu Philosophie, noch zu Lit.wiss oder Linguistik. Ich weiß nicht, ob dahinter ein System steckt, das ich noch nicht begriffen habe, oder ob das noch die Kinderkrankheiten der Gliederung sind.


    Herzlilch, B.

    Zitat

    Original von Tom
    Was ich sagen will: Der Preis scheint mir immer politischer zu werden, wohingegen die tatsächliche literarische Bedeutung (und Mächtigkeit) der geehrten Autoren wie Jelinek, Imre Kertesz oder jetzt Pinter kaum eine Rolle spielen muß. Anders gesagt: Es ist ein Preis für politische Autoren, die auch keinen großen Erfolg haben müssen, und keiner für hochrangige Schriftsteller mehr.


    Ach, jetzt hör aber auf, Tom :-). Ich meine, sicher sind wir nicht alle einer Meinung bezüglich der literarischen Bedeutung des einen oder der anderen, aber das ist weder eine besonders neue Entwicklung, schon gar nicht beim Nobelpreis, noch in irgendeiner Form behebbar. Ich finde, man sollte mal aufhören von den Juroren immer die unanfechtbare Entscheidung zu erwarten; die gibt es nämlich nicht. Der seit Jahren ach so hoch gehandelte Philip Roth wäre in meinen Augen zB keine gute Wahl, in den Augen vieler anderer, auch kompetenter Menschen, ist das offenbar anders. Kein Grund zum Gram.


    Preisverleihungen waren und sind ein sehr subjektives Geschäft. Harold Pinter ist für mich keine Überraschung, ein erfolgreicher Dramatiker und Drehbuchautor, der noch immer gespielt wird und der wenigstens dem Namen nach den meisten literarisch etwas breiter Gebildeten bekannt sein dürfte. Seltsam finde ich diese Entscheidung keinesfalls.


    Herzlich, B.

    Zitat

    Original von Iris


    Mich ärgert die Behauptung, es gäbe einen krassen kulturellen Unterschied zwischen Orient und Okzident.


    Ja, mich ärgert das auch, und ich finde es auch richtig und wichtig immer wieder auf die Gemeinsamkeiten hinzuweisen. Doch wenn's ans Eingemachte geht, interessiert die historische Tatsache, dass Europas Erfindung eine Sache des Mittelmeerraumes ist, eben keinen, weil immer wieder auf diese künstliche und in nicht unerheblichem Maße religiös induzierte Trennung verwiesen wird, die seither stattgefunden und zugegebenermaßen eine große Wirkmächtigkeit entfaltet hat - und insofern, bei aller Zustimmung zu dem was du schreibst, Iris: Was ist schon die "Realität eines Feindbildes?.


    Und natürlich finden sich immer Unterschiede, wenn man nach ihnen sucht (auch zwischen Baden und Württemberg oder Villariba und Villabajo), und wenn man als "europäisch" nur gelten lässt, was man dann jenseits des Bosporus eben nicht mehr findet (ich habe diesbezüglich zB mal einem Vortrag über Stadtentwicklung lauschen dürfen), dann gehört Anatolien - wenig überraschend - nicht mehr zu Europa. Diese Form der Argumentation hat den großen Fehler, dass sie erstmal setzt, was "europäisch" ist und das diese Setzung natürlich meist genau mit dem Ziel geschieht, bestimmte Phänomene eben als "eingedrungen", als "sekundär" auszuweisen. Dh solche Strategien landen im Zirkelschluss. Man will ja gerade auf die Unterschiede zwischen vorher definierten geographischen Gebieten hinaus.


    Und alle, die mit so festen Einheiten argumentieren, können mir dann auch nicht mehr glaubhaft machen, dass sie einem dynamischen Kulturbegriff folgen. Wenn eine Dynamik sich darin erschöpft, dass die Variation, die mir noch angenehm ist, die mich also noch nicht wirklich mit meinem Tellerrand konfrontiert, ok , alles andere aber ein "zu großer" Unterschied ist, dann habe ich eben ganz klar keine dynamische Vorstellung von Kultur. Und dann ist es nur noch ein winziger Schritt, bis man in Spenglersches Fahrwasser und sonstige zyklische Verfallstheorien (wie die Kulturkreislehre) rutscht.
    Das ist legitim, aber es ist nicht mein Ding und es ist ganz sicher sehr statisch und keinesfalls dynamisch.


    Herzlich, B.

    Hallo zusammen,


    Natürlich ist Kultur, dynamisch verstanden, nicht nur auf "Wurzeln" zu reduzieren, sondern immer auch auf die Richtung, in die eine Bevölkerung/ein Staat/eine Gesellschaft will, das wurde hier bereits gesagt. Dass diese Richtung nicht als betonierte achtspurige Straße zu denken, sondern ein Geflecht aus zum Teil konträren Ansichten und Interessen ist - muss man darüber wirklich diskutieren?


    Mit dem "Kultur"-Argument habe ich stets Bauchschmerzen, da der Kulturbegriff insgesamt (auch hier) in sehr vielfältiger Weise gebraucht wird, die zum Teil wertend konnotiert sind.
    Allerdings sollte man mit eigenartigen Gebilden wie dem "römisch-germanisch-keltischen Kulturkreis" aufpassen. Den gibt es nicht einmal bei Huntington. Die Kulturkreislehre (erstmals taucht der Begriff 1898 bei Leo Frobenius auf) des deutschen Diffusionismus ist außerdem eine Theorie, die nichts mit einem dynamischen Kulturbegriff zu tun hat, sondern eine zyklische Vorstellung von Kultur verficht.


    In der öffentlichen Diskussion habe ich häufig den Eindruck, dass Kultur und Religion einfach gleichgesetzt werden und dass einfach ein tiefgreifendes Unbehagen gegenüber dem Islam besteht. Dass sich das aus christlichen Kampftraditionen, aus der Reconquista sowie aus der von Iris schon angesprochenen kuk-Hysterie speist, ist schwer von der Hand zu weisen. Der Islam war auf dem europäischen Kontinent, wenn ich jetzt mal die sehr angreifbare geographische Bosporus/Ural/Gibraltar/nach Norden nicht ganz klar-Begrenzung zugrunde lege, jahrhundertelang Realität und ist es heute in zunehmendem Maße wieder. Redet man also von einer wirklichen kulturellen Dynamik, zu der Religionsfreiheit idealerweise gehört, finde ich es ziemlich eigenartig im Zusammenhang mit der Frage nach einem Türkeibeitritt immer auf die christlichen "Wurzeln" des Abendlandes zu verweisen.


    Was den Laizismus betrifft, ist die heutige Türkei (ich spreche vom Staatsgebilde) deutlich laizistischer als die meisten Mitgliedsländer der EU, incl. Deutschlands (auch darauf wurde bereits hingewiesen). Eine ähnlich klare Trennung zwischen Staat und Kirche besteht eigentlich nur noch in Frankreich. Was die Bevölkerung betrifft, mag das anders sein, aber das ist es auch in Deutschland, nur da finden wir es wahrscheinlich eher drollig. Ich darf zB darauf aufmerksam machen, dass zur Zeit ernsthaft diskutiert wird, ob ein protestantischer Franke tatsächlich die katholisch-obebayrische Hegemonie in der Münchner Staatskanzlei aufbrechen darf. Wie passt das denn in unsere ach so laizistischen politischen Vorstellungen?


    Dieses Kultur/Religions-Argument ist also ein Proteus, der sich wandelt, je nachdem, wovon man gerade spricht. Insofern nützt es gar nichts, darüber ohne eine klare Begriffsdefinition zu diskutieren.


    Das Argument "Gleichberechtigung" finde ich immer wieder witzig. Wenn es um "die Türkei" bzw. "den Islam" geht, bäumt sich plötzlich ein ganzer öffentlicher Diskurs auf und tut so, als gäbe es in Deutschland weder strukturelle Benachteiligung von noch Gewalt gegen Frauen in einem erwähnenswerten Maße und als sei die christliche Kirche ein Verein von emanzipierten Frauenverstehern. Es ist klar, dass es Bedingung für einen Beitritt zur EU sein muss, dass Gleichbereichtigung rechtlich verankert ist, keine Frage. Aber was die gesellschaftliche Umsetzung und private Realitäten betrifft, die haben mit rechtlichen Grundlagen in Deutschland ebenso wenig zu tun wie überall sonst auf der Welt.

    Hallo zusammen,


    Ich habe diesen Monat nicht abgestimmt, da mich nichts so richtig angesprochen hat.
    Insgesamt fand ich es etwas schade, dass das Ekel- und Überdrusspotential sowie das Suchtpotential des Themas bis zum wörtlichen Erbrechen abgerufen wurden, dass das sinnliche Potential der Schokolade aber offenbar niemanden interessiert hat. Ich hätte gerne mindestens eine Genußgeschichte gelesen - Schokolade muss doch weder etwas sein, was man sinnlos in sich hineinstopft, noch etwas, von dem man sich vergeblich zu lösen versucht.


    Die so umstrittene erste Geschichte fand ich noch eine der gelungensten. Überdies finde ich es sehr sinnvoll und überhaupt den Reiz dieses Wettbewerbs, das Ein-Wort-Thema ein wenig zu interpretieren. Ich will ja nicht 15 gleiche Geschichten lesen.


    Herzlich, B.


    EDIT Ich hatte mir übrigens passend zu meinen Erwartungen beim diesmonatigen Lesen eine Tafel Schokolade auf den Schreibtisch gelegt, die ich dann bei den Genussgeschichten verzehren wollte. Natürlich habe ich schon vor der ersten geschichte genascht - ein großer Fehler. Will sagen: Verständnisprobleme hatte ich hier auch keine.

    Zitat

    Original von Iris


    »Ein kluger Mann hat mal gesagt: Es gibt keine dummen Fragen, es gibt nur dumme Antworten.«
    Das ist ein Filmzitat aus einer trivialen Hollywoodkomödie -- aber es trifft den Kern. :-)


    Ich deute das als Zustimmung. :-)


    Und jetzt mache ich mir einen Kaffee und dann gehts erstmal in die Sonne.


    Liebe Grüße, B.

    Hallo zusammen, hallo Tom


    Zitat

    Aber es ist unsere Individualität, die bewirkt, daß all diese an und für sich gleichen Geschichten noch lesenswert sind.


    Sehr richtig. Wie Iris schon richtig sagte, da sind wir uns alle einig.
    Genau deshalb habe ich in dem Zitat in meinem letzten Posting auch den ersten Teil weggelassen ("Subjektiv sein ist gut!"), denn der ist qualitativ etwas anderes als die beiden nächsten und er ist tatsächlich völlig selbstverständlich.
    Es geht Ines, wenn ich sie recht verstehe, darum, wie sie Dinge beschreiben kann, die jenseits dieser Subjektivität liegen. Und da kann man nicht mehr so einfach sagen: Ist doch egal ob man ins Klischee fällt. Gut, das war wahrscheinlich der Teil mit der Ironie. Habe nun selbst ich verstanden.


    Der Punkt, den ich an deinen Postings, Tom, bemerkenswert finde, ist dieser offenbar unverbrüchliche Glaube an die Mündigkeit der Lesenden:

    Zitat

    Ein Autor, der banale Vorurteile kolportiert, ohne satirisch zu sein, manövriert sich selbst ins Aus (sofern der Krempel überhaupt veröffentlicht würde), aber ebensowenig wird jemand, der ständig den mahnenden Finger hebt und für jede noch so skurrile "Interessengruppe" um Verständnis wirbt, seine Linie und seine Leser finden.


    Das halte ich für, sagen wir mal, extrem optimistisch. Ich bin immer wieder überrascht, wovon sich Menschen so alles "gut unterhalten" fühlen. Und wenn man fragt, sagen sie: "Das soll doch auch nur unterhalten, klar ist das keine große Literatur." Und ich denke so bei mir: "Wie kann es dann gut unterhalten?"


    Insofern ist Ines' Frage ergänzt um Iris' Bemerkung so wie ich sie nun verstehe: Wie komme ich dahin, vor dem Hintergrund meiner Subjektivität Dinge zu schreiben, die die Leute nicht nur kaufen, sondern die sie vielleicht auch dann noch mit Gewinn lesen, wenn ich über Themen schreibe, die sie aus eigener Anschauung besser kennen als ich? Wie schaffe ich es, dass meine Texte für möglichst wenige Menschen und auch nicht für solche mit völlig anderer Lebenswirklichkeit in die Banalität abfallen?


    Diese Fragen sind freilich viel allgemeiner als der Threadtitel, aber ich habe den Eindruck, Ines' Fragestellung hat sich mit der Zeit dahin entwickelt.


    Man könnte natürlich sagen: "Wenn ich das nicht schaffe, fehlt mir das Talent zum Erzählen", und somit das "Wie kommt man dahin?" von Iris obsolet erscheinen lassen. Ich fände das etwas zu einfach, wenn es auch nicht vollständig von der Hand zu weisen ist. Evtl. könnte man erzählerisches Talent (oder sagen wir besser: Geschick, das klingt weniger "naturgegeben") genau so beschreiben: Es bestünde in der Fähigkeit, durch Darstellung Vagheiten zu erzeugen und Fragen aufzuwerfen viel eher als in vollständiger Erklärung und Durchdringung. Ich hoffe, das ist jetzt nicht selbst vollständig banal ;-).


    Herzlich, B. (laut denkend)

    Hallo Tom,

    Zitat

    Natürlich sollte man nie die Tresen-Vorurteile über lesbische Frauen (Kurzhaarfrisur, kantige Gesichter, schlabbrige Overalls, tiefe Stimmen und leichte Oberlippenbärte) zur Charakterisierung der Protagonistin nutzen, es sei denn, man will gerade auf diese Art die Vorurteile brechen und/oder satirisch schreiben. Aber das ist doch selbstverständlich, verdammich.


    Zitat

    Vorurteile haben [ist] auch [gut]! Über etwas zu schreiben, von dem man nichts weiß, ist klasse!


    Und jetzt Obacht, ich habe so etwas ähnliches in einem anderen Ordner schon einmal gefragt: In welchem Verhältnis stehen denn diese beiden Aussagen zueinander? Die erste scheint mir Reflexion von Vorurteilen und Reflexion an sich gutzuheißen (das ist ja auch selbstverständlich, verdamme wen auch immer).
    Und die zweite? Man könnte sie lesen als: Muss aber doch nicht sein. Solange "die Leser" (die es im übrigen genauso wenig gibt wie "die lesbischen Frauen") Spaß haben.
    Ich finde, man muss nicht gleich nach dem "Guten und Wahren" suchen, um das nicht zu unterschreiben.


    Und jetzt bitte ruhig bleiben.


    Herzlichst, B.

    Zitat

    An mancher Stelle versank meine Frage im akademischen Nebel, der zwar sehr schmückend, aber nicht unbedingt erhellend war.


    Liebe Ines, :-(


    falls du dich mit dieser Äußerung auf meine Beiträge beziehen solltest (du vermeidest ja elegant eine klare Zuordnung), so möchte ich sagen: Meist empfinde ich das intuitive Stochern in einer Frage als deutlich nebulöser denn eine klar benannte analytische Trennung, wie ich sie versucht habe. Meine Meinung, die man selbstverständlich nicht teilen muss.


    Herzlich, B.

    Hallo Ines,


    Sicher hängen die beiden Fragen (allein schon über das Thema "Marginalisierung") zusammen. Aber die erste halte ich vor allem für eine Rezeptionsproblematik, die zweite für eine der Produktion.
    Dass man in Klischees über bestimmte Eigenschaften schreibt, ist mit Sicherheit kaum vermeidbar (ob das den Reiz eines Textes ausmacht, Tom , finde ich auch eher fraglich). Aber es ist schon möglich, sich da ein wenig zu reflektieren (und dadurch wird man ja auch nicht zum "alleswissenden Neutrum", was weder wirklich möglich noch erstrebenswert ist).
    Ob hingegen deine Texte so wahrgenommen werden, dass sie ständig nur auf eine zB ethnische Zugehörigkeit hin gelesen werden, darauf hast du erstmal keinen Einfluss - es sei denn als Leserin anderer Texte. Was konnte Emine Özdamar schon tun, als nach dem Bachmann-Preis 1991 eine Flut von Feuilletonartikeln die "typisch orientalische Lust am Fabulieren wie in 1001 Nacht" in ihren Texten entdeckten?