Beiträge von Bartlebooth

    Das ist wirklich eine komische Fragestellung, wer sollte hierauf denn mit „Unbedingt“ antworten? Auch das Nobelpreiskomitee ist ja ein Komitee, besteht also aus mehreren Menschen, die sich mit allergrößter Sicherheit auch nicht jedes Jahr einig sind. Das ist doch auch das Schöne daran. Dass man drüber diskutieren kann. Ich glaube, ein Preis hat nicht zuletzt den Sinn, eine Diskussion zu entfachen, unter den Juroren, den Kritikern, den Wissenschaftlern, im Publikum. Und das gelingt dem Nobelpreis sowie einigen anderen Preisen doch jedes Jahr sehr gut, oder nicht? Mission accomplished.

    Roman Ehrlich ist ein noch sehr junger deutscher Autor, der einer breiteren Öffentlichkeit zuerst durch seinen Auftritt beim Bachmannpreis 2013 bekannt geworden ist. Im selben Jahr erschien dann sein Erstling „Das kalte Jahr“, ein Roman. „Urwaldgäste“ erschien 2014 und ist ein Erzählungsband.
    Aufmerksam wurde ich auf diesen Autor durch eine geradezu hymnische Rezension in der Zeit, in der die Rezensentin Insa Wilke Ehrlich eine große Zukunft voraussagt. Die Rezension endet mit dem Satz: „Es ist klar, das Roman Ehrlichs Bücher in Kürze zum Kanon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zählen werden.“ Wenn das kein Lob ist.
    In der Zeit erschien dann auch ein Vorabdruck der Erzählung „Keine Drehung aus dem Schatten ins Licht“, nach deren Lektüre ich mir dachte: Das könntest du doch mal weiterlesen.
    Bereut habe ich es nicht. Die Erzählungen erinnern tatsächlich im Personeninventar ein bisschen an Kafka, dessen Name im Zusammenhang mit Ehrlich sehr oft fällt. Ehrlichs Sprache ist ähnlich sachlich, die Erzählerstimme ist ähnlich distanziert und auch ein bisschen unterkühlt und nur moderat überrascht in Bezug auf die doch sehr ungewöhnlichen Ereignisse, in die die Figuren verwickelt sind. Sie ist aber gleichzeitig im Satzbau etwas umständlicher und arabesker als die des großen Pragers, der hier eine größere Kargheit an den Tag legt.
    Was sind das nun für Geschichten, die Ehrlich uns hier erzählt? Es sind Geschichten aus dem Alltag, allerdings aus einem seltsamen Alltag. So beschäftigt sich etwa die erste Erzählung mit dem schönen Titel „Dinge, die sich im Rahmen meiner temporären Anstellung bei der Grinello Clean Solutions ereigneten“ mit einer Hauptfigur, die über die Studentenbörse an einen Job kommt, in dem eigentlich nichts getan werden muss, außer ins Büro zu kommen und ein nie klingelndes Telefon zu bewachen. Es gibt Kollegen aus dem Außendienst, die aber nur selten da sind, sowie einen Chef und seinen Kompagnon, die eigentlich auch nur selten da sind. Welches Produkt die Firma anbietet, erfahren wir zwar dem Namen nach, nämlich den Aquionic Transformer“, doch was dieses Gerät leistet und wer es deshalb kaufen sollte, wird uns verschwiegen. So ist es nicht verwunderlich, dass der Protagonist, als er dann doch endlich eine Aufgabe bekommt, nämlich eine Liste mit alten Kundendaten durchzutelefonieren und zu aktualisieren und bei dieser Gelegenheit herauszufinden, ob sie vielleicht an einem Aquionic Transformer interessiert sein könnten, sich mit den Gesprächspartnern gar nicht über dieses Produkt unterhält, sondern mit ihnen allgemeine Gespräche beginnt. Bis hierhin ist diese Erzählung unglaublich faszinierend, gut zu lesen, auf eine spannende Weise bevölkert von undurchsichtigen Figuren, die undurchsichtigen Tätigkeiten nachgehen. Sie mündet allerdings ins Nichts bzw. in eine verschachtelte Geschichte ohne Pointe, die dem Telefonator von einem seiner Gesprächspartner erzählt wird, der mit ihr offenbar auch nichts anzufangen weiß.
    Die folgenden Erzählungen sind nun entweder – und dann komme ich mit ihnen besser klar – eher wie der erste Teil der ersten Erzählung, schildern also eine Begebenheit aus dem Alltag von Figuren, die wie in einer existenziellen Sackgasse wirken, und in deren Alltag sich – von ihnen herbeigeführt oder ohne ihr Zutun – ein seltsames ungewöhnliches Ereignis schleicht, das – so vermutet man – das Leben dieser Figuren zutiefst erschüttert, ohne dass man erfährt, was diese Erschütterung für einen Effekt hat bzw. ob sie überhaupt einen hat. Man wird vielmehr wie die Figur selbst in dieser Situation einfach zurückgelassen und wundert sich.
    Manche der Erzählungen sind aber eher wie der zweite Teil der Geschichte, also zusammengesetzt aus mehreren Binnenerzählungen, die manchmal ineinander verschränkt sind, ohne dass sie erkennbar etwas miteinander zu tun hätten. Diese Erzählungen waren für mich die frustrierenderen Leseerlebnisse, da sie gefühlsmäßig im Nichts enden – wie eben die Telefonaktion bei der Grinello Clean Solutions.
    Ich bin mir sicher, dass ich Roman Ehrlich im Auge behalten werde. Ich würde mir allerdings wünschen, dass ich in der Zukunft von ihm noch Pointierteres zu lesen bekomme. Damit meine ich nicht, dass er mir herkömmliche Erzählungen mit einem klaren Ende servieren muss. Texte mit ein bisschen mehr Fokus, die mir ein bisschen mehr Halt geben, um mein Hirn an ihnen zu reiben, würden mir genügen.


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    Dieses Buch war vor anderthalb Jahren ja in aller Munde. Ich habe es mir jetzt gekauft und über Neujahr gelesen - eine, da gebe ich Herrn Palomar recht, sehr flüssige Lektüre, nicht übermäßig schwer, nicht pathetisch, nicht bedrückend, sondern an manchen Stellen geradezu humorvoll und insgesamt in seiner dem Thema so gar nicht eigenen Lockerheit erfrischend.
    Ich habe nicht verstanden, warum der Text in mehrere Teile und über 250 Kapitel aufgeteilt werden musste. Es stört den Lesefluss zwar nicht, wirkte auf mich aber wie ein ornamentaler Kunstgriff, der über sein Dasein als Ornament nicht wirklich hinauskam.
    Gestört hat mich an diesem Buch vor allem eines: Die Hauptfigur ist irgendwie die moderne weichgespülte Version eines einsamen Wolfes. Die einzigen Figuren, die im Text ein bisschen mehr Raum bekommen (neben ihm selbst, aber das ist ja naheliegend), sind seine zahlreichen Liebschaften, Exfreundinnen und Bettbekanntschaften. Das wirkte auf mich ein bisschen albern. Sex als Überwindung der eigenen Sterblichkeit ist nun wirklich alles andere als ein originelles Motiv.
    Doch tatsächlich läuft es am Ende genau darauf hinaus. Das Ende des Buches hat es mich mit einem doch eher genervten Stirnrunzeln zuschlagen lassen, denn hier wird das namenlose Kind, das im gesamten Buch eigentlich nur diese eine Funktion hat, nämlich als letzter Anker im Leben für den Schwerkranken zu fungieren, genau dieser Bestimmung zugeführt. Diese klischeehafte "Moral von der Geschicht" konterkariert den positiven Duktus des Textes. Es ist vielleicht zu viel verlangt und auch nicht angemessen, in einem Buch über eine todkranke Hauptfigur eine innere emotionale Logik zu erwarten, aber der schlussendliche Rückzug auf das ausgelutschteste aller Klischees hat mir den ansonsten an vielen Strecken lesenswerten Text rückwirkend dann doch etwas verleidet.

    Der "Goldfinch" ist mir von einer lieben Freundin, die ausgesprochen viel von Spannungsliteratur versteht, wärmstens ans Herz gelegt worden. Es gibt aus meiner Sicht auch viel Positives über das Buch zu sagen, und dennoch habe ich im Anschluss an meine Lektüre sehr intensiv mit eben jener Freundin diskutiert, um unsere doch ein wenig unterschiedlichen Perspektiven auf das Buch übereinander zu kriegen.
    Zunächst steht außer Frage, dass Donna Tartt sehr gut schreibt und wirklich mit Sprache umgehen kann - für zeitgenössische Schriftsteller leider alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
    Die Geschichte ist sehr eigenartig. Der zentrale Plot lässt sich in ungefähr drei Sätzen zusammenfassen und ist eine haarsträubende, vor unwahrscheinlichen Zufällen strotzende Räuberpistole. Doch das stört mich nicht.
    Die Traumatisierung Theo Deckers macht ihn zu einer in den entscheidenden Momenten auffallend passiven Figur, die oft in Dinge eher hineintreibt. An anderen Stellen wiederum nimmt er praktisch aus dem Nichts heraus erstaunliche Weichenstellungen vor, die in der Folge weitreichende Konsequenzen haben. Obwohl die Erzählerin sehr nah bei Theo ist, habe ich oft nicht begriffen, warum er handelt (oder eben auch nicht handelt), wie er handelt. Es hat dabei sicherlich nicht geholfen, dass es in dem Buch Zeitsprünge gibt. Vor allem der zwischen seiner Rückkehr aus Las Vegas und seiner Verlobung hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Hier werden mehrere Jahre übersprungen, in denen sich für mich die Hauptfigur vollkommen verändert. Es ist mir nicht gelungen, die Entwicklung vom Las-Vegas-Theo zum Theo der frühen Zwanziger zu begreifen. Hier lässt die Autorin ausgerechnet die Teile aus, die für mein Verständnis der Figur entscheidend gewesen wären.
    Das führt mich zu dem vielleicht größten Problem, das ich mit diesem Roman hatte, und das ich in wunderbar dialektischer Weise zugleich auch unheimlich faszinierend fand: Er ist auf eine sehr ungewöhnliche Weise überraschend. Ständig passieren Dinge, tauchen Figuren auf usw., und ich als Leser denke mir: Aha, dahin läuft der Hase. Und dann läuft er doch ganz woanders hin. Die Autorin verhandelt vieles nur indirekt, die Geschichte läuft stets in die Richtung, die ich man als letzte erwartet hätte. Viele zentrale Konfliktpotenziale werden auf diese Weise ganz kontraintuitiv links liegen gelassen. Ohne dass der Text dadurch artifiziell oder übermäßig konstruiert wirkt, gelingt der Autorin so etwas ganz Bemerkenswertes. Sie hält der Leseerwartung einen Spiegel vor, hängt uns eine Art roten Hering vor die Nase und sagt dann: "Das, lieber Leser, würdest du nun wohl gern erfahren, aber so funktioniert das Leben nicht, und dieser Roman ist kein Wunschkonzert."
    Insofern ein sehr lesenswertes Buch, das mir vor allem bewusst gemacht hat, wie eingefahren manchmal meine Erwartungen schon sind. Dafür gebührt Donna Tartt Hochachtung und mein großer Dank.

    Dass ich dieses Buch gelesen habe, beruht eigentlich auf einem Missverständnis. Bei meinem letzten Frankreichbesuch war ich wie immer in ein paar Buchhandlungen und nahm mir ein bisschen Lesevorrat mit, französische Bücher sind in Deutschland ja oft um einiges teurer. Ich sah das Buch, erinnerte mich dunkel daran, dass es ziemlich gut besprochen worden war, und nahm es einfach mit. Wieder zu Hause stellte ich fest, dass es ein Krimi sein soll. Und ich lese doch im Allgemeinen keine Krimis.


    Was für ein Glück, dass es dann doch kein richtiger Krimi war. Ich stimme mit Tom und JaneDoe insoweit überein, dass ich das Buch für eine Parodie halte. Die Gründe sind zum Teil schon genannt worden: Die überkonstruierte Handlung, der schmalzige Ton im Verhältnis zwischen Harry und Nola sowie in den fiktiven Meisterwerken der amerikanischen Literatur sind nur zwei Beispiele. Die völlig groteske Darstellung des Verlagswesens tut ein Übriges, das läuft in Europa auf keinen Fall so und auch in den USA - wo ich vieles für möglich halte - kann ich mir diese Vorgänge auch im Ansatz nicht vorstellen.


    Ich finde aber nicht, dass nichts erzählt wird, ich will zwei Beispiele nennen, die für mich zeigen, dass der Text nicht nur ein großer, am Ende leerer Schabernack ist. Da ist zum einen die Überbetonung der Liebe als sinnstiftendes Element. In amerikanischen Serien hat man ja häufig das Gefühl, dass ein Leben nur dann erfüllt sein kann und überhaupt irgendeinen Sinn hat, wenn man die Liebe findet, heiratet und Kinder bekommt. Die im Text geschilderten Beziehungen nehmen das in meinen Augen ganz gekonnt auf die Schippe. Denn neben den süßlichen Beschreibungen der Liebe von z.B. Harry und Nola, gibt es eben auch vollkommen delirante Elemente wie das Verhältnis Pratt/Nola oder eben die Einlassungen der Mutter. Luther steht irgendwo dazwischen. Das ist kein Kitsch, sondern schwarzer Humor. Wie die letzte Unterhaltung zwischen Marcus und Harry dann endet, setzt dem Ganzen die Krone auf.


    Zum zweiten der tatsächliche Tathergang.


    Der Schweizer Joël Dicker schreibt in meinen Augen eine rabenschwarze Parodie auf das amerikanisierte Krimiunwesen, kurzweilig und ein großer Spaß.


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    Eddy Bellegueule ist der erste Sohn eines Fabrikarbeiters aus der Picardie und seiner Frau, die ihrerseits bereits zwei Kinder aus einer ersten Beziehung mit in die Ehe bringt und insgesamt auf sieben Kinder hat. Eddy ist aus der Art geschlagen, schmächtig und asthmatisch, aber vor allem: homosexuell. Das macht ihn in seiner Familie und in seiner Heimat zum Außenseiter, der ständig mit erniedrigenden Anspielungen seiner Familie und mit physischer und psychischer Gewalt seitens einiger seiner Mitschüler konfrontiert ist.
    Der Text, der von Eddy in Ich-Perspektive erzählt wird, beschreibt seine Kindheit und Jugend, seine vergeblichen Versuche, sich den Rollen- und Verhaltensvorstellungen seiner Umgebung anzupassen, schließlich seine Kapitulation und den erlösenden Umzug nach Amiens, wo er ein Stipendium des dortigen Lycée erhält.
    Eddy Bellegueule ist kein Revolutionär, er leistet im ganzen Buch keinen spürbaren Widerstand. Sein ganzes Streben ist darauf gerichtet ein „harter Kerl“ zu werden, sich für Fußball, Alkohol, Rapmusik und Mädchen und nicht für Bücher und Bildung zu interessieren. Obwohl er sich redlich Mühe gibt, ist all dieses Streben vergeblich und er beginnt, sämtliche Verhaltensweisen seiner Umgebung zu hassen. Er hasst die Gewalttätigkeit und die Antriebslosigkeit seines Umfelds, die Art und Weise, wie sie jeder und jedem jeden noch so bescheidenen Traum auf Verbesserung der eigenen Lebensumstände austreiben. Für ihn als geborenen Außenseiter ist die Distanz zu seiner Umgebung so groß, dass seine Isolation praktisch zwangsläufig dazu führt, dass er seine Heimat am Ende verlässt. Es wird aber deutlich, dass jede geringere Form des Andersseins (z.B. bei Eddys Schwester oder seiner Mutter) ebenso zwangsläufig nur zu einem Sich Abfinden mit den Verhältnissen führen kann.



    „En finir avec Eddy Bellegueule“ (dt. etwa „Eddy Bellegueule ein für alle mal hinter sich lassen“, wobei Bellegueule ein sprechender Name ist und „en finir“ durchaus auch eine gewalttätigere Konnotation haben kann) war einer der Überraschungserfolge des französischen Bücherfrühjahrs. Lange auf den Bestsellerlisten hat sich das Buch inzwischen mehr als 200.000 mal verkauft und eine erhitzte Debatte in Frankreich entfacht. Der Text, der – man ahnt es – autobiographisch inspiriert ist, ist in mehrere Sprachen, allerdings bisher nicht ins Deutsche übersetzt. Ich vermute jedoch, dass ihm sein Erfolg bereits ein deutsches Zuhause beschert hat, das an einer Veröffentlichung arbeitet. Allerdings wundert es mich nicht, dass sich die deutschen Verlage nicht sofort auf ihn gestürzt haben. Das hat aus meiner Sicht zwei Gründe: Der Text ist in mehrfacher Hinsicht sehr französisch und er wirkt ein bisschen aus der Zeit gefallen.


    Französisch ist er zum einen, weil Edouard Louis (der tatsächlich als Eddy Bellegueule geboren wurde) sich mit seinen 21 Jahren bereits intensiv mit der soziologischen Theorie Pierre Bourdieus auseinandergesetzt hat, die in Frankreich viel präsenter ist als hierzulande. Bourdieu hat unter anderem den Begriff des Habitus eingeführt, der ein unbewusst durch die eigene Herkunft geprägtes Verhalten bezeichnet. Kinder aus einer bestimmten sozialen Schicht lernen vereinfacht gesagt einen bestimmten Code, den sie ganz natürlich und unbewusst anwenden, sie verstehen es, sich in bestimmten sozialen Situationen instinktiv angemessen zu verhalten. Edouard Louis hat nun in mehreren Interviews darauf hingewiesen, dass er seinen Text bewusst als Roman konzipiert hat und ihn nicht als Abrechnungsbuch oder Schlüsselroman verstanden wissen will. So sind im Verlauf der Rezeption auch einige Zweifel am Wahrheitsgehalt einzelner Episoden aufgetaucht – für einen Roman eigentlich selbstverständlich. Louis betont dabei stets, dass er ein Porträt einer Schicht zeichnen wollte, die er auch im Französischen „Lumpenproletariat“ nennt, also der Schicht, für die schon Arbeiter eigentlich verkappte Kleinbürger sind, die als abgehoben und übermäßig intellektuell abgelehnt werden. Der Text beschreibt nun aus der Perspektive eines Ausgestoßenen den Habitus eben dieses Lumpenproletariats. Aus meiner Sicht geschieht das zwar nicht eigentlich herablassend, aber eben auch nicht neutral, die tiefe Abneigung gegenüber dieser ganzen Welt, ist im Text die ganze Zeit deutlich spürbar – durch seinen Zuschnitt aus der Sicht eines diskriminierten Außenseiters weiß ich auch nicht, wie das anders hätte sein können.
    Der Text ist außerdem sehr französisch, weil er in einer Zeit des gesellschaftlichen Aufruhrs in Frankreich erscheint. Dem Land geht es schlecht und Zulauf erhalten in solchen Zeiten fast zwangsläufig rechte Parteien wie der FN. In der Picardie hat Marine Le Pen bei den letzten Präsidentschaftswahlen 30% der Stimmen erhalten. Außerdem gab es seit dem letzten Jahr die großen Demonstrationen gegen die in Frankreich eingeführte Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. In solch eine Diskussion ist nun dieser Text mit seinem sezierenden Blick gefahren, der eine dumpfe und zum Teil ausdrückliche Homophobie beschreibt, oft aber auch die inneren Widersprüche, die Vorurteilsstrukturen meist begleiten (auch dazu hat Bourdieu übrigens geforscht). So wird Eddy Bellegueule im Buch oft von seinem Vater gegen die Gewalttätigkeit anderer in Schutz genommen, obwohl der Vater selbst aus seiner Abneigung gegenüber Homosexuellen (und anderen Minderheiten) keinen Hehl macht, und Eddy von ihm verprügelt wird, nachdem die Mutter diesen mit einem anderen Jungen erwischt hat. Auch in der Diskussion über das Buch fallen übrigens solche Widersprüche auf. So war etwa in einer Reportage über die Hintergründe des Romans im renommierten Nouvel Observateur zu lesen, dass sich der Bruder Edouards durch die tumb gewalttätige Darstellung seines alter ego im Text schwer beleidigt fühlte – und daher mit einem Baseballschläger bewaffnet nach Paris aufbrach, um dem inzwischen dort lebenden Edouard eine Abreibung zu verpassen.
    Aus der Zeit gefallen wirkt das Buch ein bisschen, da man kaum glauben kann, dass eine solche minderheitenfeindliche Gesellschaft in den 90er und 00er Jahren in Frankreich noch existiert haben soll. Andererseits erleben wir in Deutschland ja gerade ebenfalls eine Renaissance dieser Denkmuster – und das trotz aller Behauptungen nicht erst seit dem Erstarken der AfD, sondern seit sicherlich 15 Jahren. Der Zulauf zur AfD, die Zunahme der Hassreden im Internet gegen alles, was absurderweise als „linker Zeitgeist“ bezeichnet wird, die Petition gegen den baden-württembergischen Bildungsplan und dergleichen mehr, sind nur die neuesten Symptome eines seit den vergleichsweise liberalen 90er Jahren aufgebauten unbehaglichen Drucks bei einem bestimmten Teil der Gesellschaft. Insofern ist „Eddy Bellegueule“ vielleicht doch nicht aus der Zeit gefallen, sondern mit seinem nur scheinbar anachronistischen Charakter am Ende das richtige Buch zur richtigen Zeit.


    In Frankreich ist das Buch von der Kritik zumeist gelobt worden. Ich selbst habe es mit wachsender Faszination gelesen, konnte aber nicht umhin, mich zu fragen, ob einen so vergleichsweise meinungsstarken Text wirklich nur ein 21jähriger schreiben konnte. An vielen Stellen erschien mir die Darstellung der Verhältnisse klischeehaft überspitzt und nachgerade unwirklich. Interessanterweise hat Louis in einem Interview zu Protokoll gegeben, dass mehrere Verlagshäuser den Text mit genau dieser Begründung abgelehnt haben, bevor Seuil ihn annahm. Seine interessante Anmerkung dazu war, dass seine fiktionalen Schilderungen eine Realität beschreiben, die vielen Bewohnern der Metropolregionen als abgeschmackt erscheinen mag, was das aber nur daran liege, dass seit Jahrzehnten eine Schicht existiert, die außerhalb ihrer selbst keine Stimme hat.
    Vielleicht wirkt das Buch deshalb beim ersten Lesen so seltsam anachronistisch, weil es die Äußerungen von Menschen wiedergibt, deren Existenz die intellektuellen Großstadtbewohner und weite Teile des Bürgertums einfach vergessen haben.


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    Zunächst muss ich mal sagen (weil das oben Thema war), dass "Flowers for Algernon" klassische SF ist. Es verlängert eine bestimmte technologische Errungenschaft in die Zukunft und beleuchtet deren fiktive Auswirkungen - das ist geradezu im Wortsinn "Science Fiction". Was ich auch nicht ganz verstanden habe, ist die Behauptung, dass das Buch nicht bekannt sei. Das Buch ist superbekannt und supererfolgreich, in über 30 Sprachen übersetzt und es gibt einen Kinofilm, der sogar einen Oscar gewonnen hat. Es ist halt 50 Jahre alt und daher vielleicht nicht mehr in vorderster Reihe im Gespräch.


    Dann muss ich sagen, dass ich ja schon daran gewöhnt bin, dass ich auf Gefühliges nicht so anspringe. Ich frage mich immer wieder, warum das so ist, auch bei Büchern wie diesem, bei dem offenbar drei Viertel aller Leser/innen weinen oder zumindest sehr gerührt sind. Ich fand das Buch nicht sonderlich ergreifend, was mehrere Gründe hat.


    Zum einen fand ich Charlies Entwicklung sehr abrupt und unrealistisch. Ih meine, nur weil im Text steht, dass Charlie es wohl nicht merken werde, wie er klüger wird, heißt nicht, dass sich der Autor nun keine Mühe mehr geben muss, dass ich es als Leser auch nicht merke. Ich finde, es gibt keine spürbare Entwicklung des Charakters. Am Anfang hat er einen IQ von 68 - und irgendwann wird mir gesagt, so, nun hat er einen IQ von 187. Ich übertreibe ein bisschen, aber das merke ich eigentlich nur daran, dass er plötzlich nicht mehr so leichtgläubig ist, sich verliebt und orthographisch korrekt schreibt. Für mein Gefühl verschenkt der Autor hier die interessanteste Dimension des Textes, nämlich danach zu fragen, was Intelligenz ist und was einen Menschen zu einem intelligenten Menschen macht bzw. wie und ob Intelligenz einen Menschen verändert. Die paar spärlichen Bemerkungen dazu, sind mehr tell als show.
    Für Keyes scheint die Steigerung des IQ desweiteren auf direktem Weg dazu zu führen, dass Charlie plötzlich alles weiß. Man muss sich vor Augen führen, dass die erzählte Zeit des Buches (inklusive geistigen Auf- und Abstiegs) gerade mal ein halbes Jahr umfasst. Er arbeitet in dieser Zeit auch noch eine ganze Weile in der Bäckerei und ist auch nicht selten betrunken. Dennoch lernt er nicht nur 20 Sprachen, sondern liest sich durch die Hälfte der Weltliteratur und erlangt in einigen Wissensgebieten Expertenstatus, Das ist derart unrealistisch, dass es mir schwerfällt, darüber hinwegzulesen, aber vielleicht bin ich da zu erbsenzählerisch.
    Denn am Ende geht es dem Text in der Tat vor allem um die Frage, ob es Charlie mit dem IQ von 68 oder 187 besser geht. Auf diese Frage gibt der Text aber keine klare Antwort, was mE daran liegt, dass die Hauptfigur sich mit dieser Frage erstaunlich wenig beschäftigt - erstaunlich wenig für eine Figur, deren ganzes Leben und deren gesamte Sozialstruktur sich in wenigen Monaten um 180° wendet.


    Was ich also sagen will ist, dieser mit Preisen behängte und unheimlich erfolgreiche Text erscheint mir in Bezug auf seine zentralen Fragen verblüffend unterkomplex. ich erwarte natürlich von einem Roman keine philosophischen Abhandlungen, aber mir ist die Figur der Charlie Gordon über weite Strecken sehr, sehr fern geblieben, obwohl ich die grundlegende Idee des Romans wirklich mochte.

    Edward St. Aubyn, Spross einer englischen upper-class-Familie, gehört inzwischen schon zu den arrivierteren zeitgenössischen Autoren. Im Jahr 2006 war er mit „Mother’s Milk“ für den Booker Prize nominiert – einem Roman um die autobiographisch gefärbte Figur des Patrick Melrose. Soweit ich sehe ist „Lost for Words“ St. Aubyns erster Roman, der nicht um die Familie Melrose und die englische upper class kreist, obwohl auch in diesem Roman Eliten nicht zu kurz kommen.


    „Lost for Words“ beschreibt den Auswahlprozess zu einem fiktiven Literaturpreis - dem Elysian Prize, der unschwer erkennbar an den Booker angelehnt ist - von der Konstituierung der Jury bis zur Verkündigung des Siegertitels. Auf dem Weg dahin begleiten wir eine Fülle von Figuren. Da sind zum ersten die Juroren: Der Vorsitzende ist ein frustrierter schottischer Hinterbänkler aus dem House of Commons namens Malcolm Craig. Ihm zur Seite gestellt werden eine bekannte Journalistin, eine Literaturprofessorin, eine Autorin und ein Schauspieler. Eingesetzt werden all diese Personen von einem 92jährigen ehemaligen Staatsminister, Sir David Hampshire, der seit den Zeiten des Kalten Krieges für den Elysian zuständig ist und der sich natürlich in seinen Auswahlprozess nicht dreinreden lässt.
    Außerdem spielen eine Reihe weiterer Figuren zentrale Rollen, zumeist Autorinnen und Autoren, die aus den unterschiedlichsten Gründen für den Preis nominiert oder nicht nominiert werden und darauf in unterschiedlicher Weise reagieren, sowie der literarische und familiäre Dunstkreis dieser Figuren.


    Das Ganze ist humorvoll geschrieben, der Einstieg mit dem ahnungslosen, doch nichtsdestoweniger ehrgeizigen Malcolm Craig, MP, gelingt leicht und lässt einen das Buch nicht mehr so schnell aus der Hand legen. Die Eitelkeiten der Buchmenschen – vor allem wenn es um Literatur mit großem „L“ geht – sind schön eingefangen und parodistisch akzentuiert, die Verflechtungen familiärer und amouröser Art in der kleinen Branche, werden mit Witz beschrieben, manchmal vielleicht etwas sehr grell überzeichnet, aber das kann man als Stilmittel durchgehen lassen.
    Interessant ist aber vor allem die Beschreibung der unterschiedlichen Herangehensweisen an Literatur, die Art und Weise, wie Bücher auf die Long- und die Short List gehievt werden, die Kriterien, die dafür herhalten müssen, das eigene Urteil manchmal eher schlecht als recht zu begründen. Man muss St. Aubyn zugute halten, dass er dabei relativ differenziert vorgeht, das Buch artet nicht in ein wildes Austeilen nach allen Seiten aus.
    Das führt allerdings auch dazu, dass man als Leser am Ende ein wenig ratlos dasitzt und sich fragt, wen die gerade gelesene Persiflage nun eigentlich aufs Korn genommen hat. Da alle Figuren ihr Fett wegbekommen - die konservativ Elitären, die dekonstruktiv Modernen, die musengeküsst Hedonistischen, die melancholisch mit dem Wort ringenden und viele weitere mehr -, hat man, wenn man das Buch zuklappt, einer amüsanten Parodie auf einen literarischen Preisreigen beigewohnt, allerdings ohne klaren fiktionalen Sieger. Am Ende scheint sich St. Aubyn ganz leicht in eine Richtung zu lehnen, die ich ein bisschen beliebig finde, aber das kann auch nur meine Interpretation sein. Alles in allem bin ich aber ein bisschen ambivalent. Sicher, der Text liest sich fix und lustig, aber Parodien leben für meinen Geschmack davon, dass sie ordentlich austeilen und eine bestimmte erkennbare Praxis veralbern. St. Aubyn bleibt hier für meinen Geschmack etwas lauwarm und wenig bissig, obwohl ich dieses Gefühl nicht recht festmachen kann, denn er hat schon ein paar sehr nette Ideen im Text. Vielleicht hätte den einzelnen Figuren ein bisschen mehr Raum gutgetan? Ich weiß es nicht. „Der beste Roman des Jahres“, so der etwas plakative deutsche Titel, ist das neue Buch von St. Aubyn sicher nicht, aber wie gewohnt von diesem Autor beileibe auch kein schlechtes.


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    Lola Bensky ist eine australische Musikjournalistin deutscher Herkunft. In dieser Funktion interviewt sie in den 60er und 70er Jahren die Popheroen unserer Eltern oder älteren Geschwister: Jimi Hendrix, Mick Jagger, Paul McCartney, Sonny & Cher, Jim Morrison usw. Wir begleiten Lola – nicht chronologisch – zu einigen bedeutsamen Momenten ihres Lebens: den ersten Interviews in London, den ersten in New York, zum Monterey-Festival, doch auch zu dem Moment, in dem ihre erste Ehe scheitert und zu einem Wohltätigkeitsempfang, auf dem Lola bereits 63 Jahre alt ist.
    Obwohl in den meisten Kapiteln des Romans berühmte Menschen auftauchen, geht es also um Lola Bensky selbst. Zwar erfährt man als Leser auch viel über die interviewten Personen – und die Autorin Lily Brett, die viel mit ihrer Hauptfigur gemeinsam hat, hat sie tatsächlich alle gekannt – doch man hat nie das Gefühl, dass es um ein sensationsheischendes Aufzählen von Berühmtheiten und irgendwelchen privaten Klatschpressedetails geht, sondern Zentrum bleibt Lola. Die ist auch eine ebenso interessante wie sympathische Person: Beide ihrer Eltern sind Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz, sie selbst ist in einem Auffanglager in Deutschland zur Welt gekommen, bevor sie mit ihren Eltern nach Australien emigrierte. Die Eltern sind erwartungsgemäß schwer traumatisiert, gehen aber jeweils sehr unterschiedlich mit ihrem Trauma um: Während der Vater zwar eine auffällige Vorliebe für blutrünstige Krimis zeigt, ist er doch ein verbindlicher und freundlicher Mensch, der mit zunehmendem Alter eine immer positivere Einstellung zum glücklich bewahrten Leben entwickelt; die Mutter hingegen kann sich ihr Überleben nicht verzeihen, ist vom Tod besessen und von einer aggressiven Traurigkeit. Ihre größte Obsession ist die Leibesfülle ihrer Tochter, deren Diätprojekte ein Leitmotiv des Romans bilden. Dicke Menschen waren in Auschwitz entweder Deutsche oder Kollaborateure, weshalb die Mutter das Übergewicht der Tochter als permanente tiefe Kränkung empfindet.
    Die Traumatisierung der Eltern und – davon ausgehend – der eigenen Person, sind nun sehr oft Gegenstand der Interviews, die oft zu therapeutischen Gesprächen über das eigene Körpergefühl oder das Verhältnis zur eigenen Familie werden – und zwar auf beiden Seiten.


    „Lola Bensky“ hat mir insgesamt gut gefallen. Trotz der vielen autobiographischen Details, hatte ich nie den Eindruck eine Autobiographie zu lesen. Die auftretenden Berühmtheiten gewinnen eine fiktionale Qualität und sind nie dazu da, einfach nur ein interessantes Fait divers abzugeben. Loal ist eine Figur, die liebenswert rüberkommt und der gerade die ständige Beschäftigung mit sich selbst eine angenehme Bodenständigkeit verpasst. Beim Lesen lernt man viel darüber, wie die Traumatisierung ihrer Eltern auch ihr eigenes Leben nachhaltig beeinflusst hat und wie sie zwar oft mehr schlecht als recht, aber eben irgendwie damit umzugehen und fertigzuwerden gelernt hat. Das Buch hat nichts Pathetisches, Larmoyantes oder Kitschiges, ohne dass es dabei den Respekt jemals vermissen lässt.


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    Ich fand das Buch auch eher mäßig. Das liegt zum einen sicher an der extremen near-future-Perspektive, die ein paar wenige und zufällig wirkende Versatzstücke aus der gegenwärtigen Diskussion nimmt und sie in einen sehr plakativ pädagogischen Roman überführt, der noch dazu einen sehr amerikanischen Blickwinkel hat, sodass der Handlungsverlauf auf mich als Europäer fast grotesk antiklimaktisch wirkt.


    Viele der suggestiven Dialoge sind hölzern und für meinen Geschmack nicht logisch. Da hilft natürlich eine extrem simple und blutleere Protagonistin, die zu allem ja und amen sagt.


    So ist es oft in den Dialogen, die Widerworte, die einem sofort in den Sinn kommen, werden von den Figuren nicht augesprochen, und so holpert eine pseudologische Argumenation zu ihrem vorherbestimmten Ende. Man hat sehr oft den Eindruck, die öffentliche Debatte ist heute schon weiter und differenzierter als die near-future-Schreckensvision des Autors. Zu den interessanten und bedenkenswerten Aspekten des Themas dringt man auf diese Weise kaum einmal vor. Insofern kann man über den dünnen Schlussdialog zwischen Ty und Mae einfach nur den Kopf schütteln oder lachen.


    Die sehr holzschnittartigen und redundanten Metaphern der Natur, die sich versteckt und nicht gesehen werden will (untertauchende Robben, das Nest auf Blue Island, in das Mae nicht schauen kann, das erschöpte Seepferdchen, das sich versteckt usw. usf.), haben mich auch schnell ermüdet.
    Hinzu kommen zahlreiche sachliche Unplausibilitäten unterschiedlichster Art, etwa die Beschreibung des Tools, das häusliche Gewalt verhindern soll, oder die unmögliche Haltung von an enorme Druckverhältnisse angepassten Tiefseekreaturen aus dem Marianengraben in gewöhnlichen Aquarien.
    Außerdem die vor allem im zweiten Teil endlos ausgewalzten ewigen Beschreibungen von Maes Tätigkeiten an ihrem CE-Arbeitsplatz, deren Funktion man spätestens nach zweihundert Seiten verstanden hat, die einem aber dennoch in der Folge nicht erspart bleiben.


    Alles in allem ein Bucherfolg, der zu erwarten war, ein Buch, das sich flüssig und schnell lesen lässt (150 Seiten weniger hätten es allerdings auch getan) und das - wie oben schon sinngemäß eine Mitforistin gesagt hat - durch seine inhaltliche Schlichtheit allen Lesern das Gefühl gibt, schlauer und gedanklich weiter zu sein als die Hauptfigur.

    Durch den Fall Caster Semenya bin ich mal wieder auf eines meiner alten und gern beackerten Themen, nämlich die sex/gender-Differenz gekommen. Was macht uns eigentlich so sicher, dass es zwei Geschlechter gibt und dass man die so wahnsinnig trennscharf auseinander bekommen kann? Ein spannendes Thema, dem sich die Naturwissenschaft bis auf wenige Ausnahmen entzieht. Eine rühmliche Ausnahme bildet die Biologin Anne Fausto-Sterling (Brown University), die sich immer wieder kritisch mit ihren Fachkollegen in Bezug auf dieses Thema auseinandergesetzt hat, zuerst in ihrer Monographie „Myths of Gender“, die bereits im Jahr 1985 das erste Mal erschienen ist, mit dem Aufkommen neuer Erkenntnisse in der Hirnforschung allerdings 1992 noch einmal überarbeitet und ergänzt wurde.
    Im Grunde beschäftigt sich Fausto-Sterling mit der naturwissenschaftlichen Unterfütterung bestehender Geschlechterklischees. Sie durchforstet ältere und jüngere empirische Forschungsliteratur nach Beweisen für oder gegen eine angeborene Geschlechteridentität.
    Auffällig ist dabei mehreres: Zum ersten gibt es als Fakten hingenommene Stereotype, die sich naturwissenschaftlich nicht belegen lassen, über die aber auch nicht geforscht wird. Wenn geforscht wird, ist auffällig, dass aufgrund lächerlich kleiner Datengrundlagen ziemlich weitreichende Annahmen gemacht werden. So ist etwa in der naturwissenschaftlichen Forschung kein Hinweis darauf zu finden, dass Testosteron Aggressivität fördert. Das Prämenstruale Syndrom (PMS) ist zwar eine weitverbreitete Erfahrung von Frauen, unter wissenschaftlichen Bedingungen lässt sich aber kein (und zwar gar kein) Zusammenhang zwischen Hormonzyklen und Stimmungsschwankungen herstellen. Anstatt nach anderen Gründen für die erfahrenen Beschwerden zu suchen, werden gewisse Untersuchungsergebnisse einfach missachtet oder uminterpretiert.
    Zum zweiten gibt Fausto-Sterling einen wirklich amüsanten Überblick über die Geschichte der zweigeschlechtlichen Hirnforschung, in deren Geschichte immer wieder neue Versuche gemacht wurden, die Überlegenheit des männlichen Gehirns im Allgemeinen und seine bessere Eignung für bestimmte Denkprozesse im Speziellen (Mathematik, logisches Denken) zu untermauern. Das treibt die seltsamsten Blüten, so dass z.B. beobachtet werden kann, wie sich die Beschreibung des männlichen Gehirns im Laufe der Erkenntnisse über die Zuständigkeiten gewisser Hirnareale für bestimmte sensorische Fähigkeiten verändert. Areale, die man zu einem früheren Zeitpunkt für zuständig für gewisse männliche konnotierte Fähigkeiten hielt und von denen daher galt, dass sie im männlichen Gehirn selbstverständlich durchschnittlich größer seien, schrumpfen auf wundersame Weise, sobald das männliche Denken sich in andere Hirnareale verlagert.
    Die Obsession der naturwissenschaftlichen Forschung, Beweise für einen angeborenen Geschlechtsdimorphismus zu finden, schlägt sich, so kann man verallgemeinernd sagen, nicht in einer erhöhten Sorgfalt bei der Erhebung der Daten und ihrer Interpretation, sondern eher im Gegenteil nieder. Meist kann man nur den Eindruck gewinnen, dass die Daten komme, was da wolle, an eine These angepasst werden müssen – und werden.
    Als Einstieg in das Thema sehr hilfreich, leider sind mir keine weiteren Biolog/innen bekannt, die sich ähnlich differenziert mit dem Gender-Thema auseinandergesetzt haben. Ich weiß auch nicht, wie Fausto-Sterling in ihrer Wissenschaft rezipiert wird, in den transdisziplinären Gender Studies ist sie eine Klassikerin. Das liegt sicherlich auch daran, dass sie an keiner Stelle ausschließt, dass die Biologie eine Rolle bei bestimmten Verhaltensweisen spielen könnte, sondern dass sie nur die völlig überzogenen Rückschlüsse ihrer Fachkolleg/innen empirisch und logisch hinterfragt.
    Auf deutsch ist das Buch nur noch antiquarisch zu haben.


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    Hallo John,


    ich halte diesen Abschnitt praktisch für den wichtigsten des ganzen Buches. Das Kapitel mit dem Bibliotheksbesuch von General Stumm ist ein Schlüssel für das Scheitern der Parallelaktion, irgendwie ein Schlüssel für das ganze Buch. Die Reflexionen über die Geschichte haben mich ein ganzes Stück konkreter verstehen lassen, was bei Ulrich zur Eigenschaftslosigkeit führt. Und dass Diotima endlich mal zu Arnheim Stellung nimmt, empfand cih auch als einen platzenden Knoten, der allerdnigs eher auf der Handlungsebene lag, hier ist mein Verständnis des konzeptionellen Kerns nicht vorangekommen.
    Das meine ich mit Bewegung. Wo man am Anfang das Stagnieren in vielerlei Hinsicht bemerkte, aber nicht recht fassen konnte, wo das alles hingeht, bzw. woran die Stagnation genau lag, bekommt man hier doch Antworten.


    Herzlich, Bartlebooth

    Judith Butler dürfte den meisten als diejenige bekannt sein, die Anfang der 90er zu der Protagonistin des dekonstruktiven Feminismus wurde, damit den Differenzfeminismus herausgefordert hat und zu einer der wirkmächtigsten Theoretikerinnen auf dem Gebiet der Genderforschung wurde.
    Über diesem Umstand vergisst man gern, dass Judith Butler eine sehr viel vielseitigere Philosophin ist, deren Arbeiten - auch die über Gender - alle auch Auseinandersetzungen mit grundlegenden subjekttheoretischen Fragestellungen sind: Wie funktioniert Willensbildung? Nach welchen Kriterien ist unsere Gesellschaft gegliedert, was wird als gegeben, was als verhandelbar hingenommen, wenn es um einzelne Menschen geht? Gerade diese letzte Frage hat Butler nun offenbar in Bezug auf die kriegerischen Handlungen, die von Amerika unter Bush ausgegangen sind, umgetrieben. Das vorliegende Bändchen enthält ein Interview mit ihr, das in den Tagen nach dem Beginn des Irakkriegs im Jahr 2003 geführt wurde, einen Aufsatz, der hauptsächlich eine Buchbesprechung von Susan Sontags letztem Buch ist, in dem sie sich noch einmal mit der Macht der Fotografie auseinandersetzt, und schließlich als Hauptteil einen Vortrag, der gleichzeitig das erste Kapitel ihrer in diesem Jahr auf Englisch erschienenen Aufsatzsammlung "Frames of War" ist. Hier geht es vor allem um die Wahrnehmung von Leben und Tod im Zeichen des Krieges, darum, dass bestimmte Leben keine mediale Präsenz haben (manchmal auch von oben sanktioniert, Butler gibt hier interessante Einblicke in die Praktiken nicht nur der amerikanischen Regierung, sondern auch in flankierende Maßnahme einzelner Medien, die sich weigern bestimmte Informationen zugänglich zu machen, wenn sie das sind, was von offizieller Seite gern "unamerikanisch" genannt wird.
    Hauptthese ist, dass der Mensch die Grenzen seiner Subjektivität nicht einfach als etwas Gegebenes vorfindet, sondern dass es eine Reihe von Mechanismen gibt, die eben bestimmte Leben als zerstörbar begreifen, während andere als verteidigungswürdig und betrauerbar dargestellt werden. Butler vertritt dabei die Auffassung, dass es sinnlos ist, die eigene Subjektivität als unabhängig von einem Gegenüber zu begreifen, mit dem diese immer und notwendig ausgehandelt werden muss, das als Spiegel oder Ergänzung oder radikal Anderes begriffen und konzeptualisiert wird.
    Wie immer unterfüttert Butler ihre Argumentation mit praktischen Beispielen, an denen sichtbar wird, wie widersprüchlich oftmals die Haltung des Westens zur Gewalt ist. Gewalt ist nämlich zu rechtfertigen, wenn sie sich gegen bestimmte Individuen oder Gruppen richtet, die aus verschiedenen Gründen nicht zu denen gehören, deren Leben grundsätzlich als schützenswürdig erachtet wird. Sie geht dabei nicht einmal auf die offenkundigen Widersprüche einer Kriegsrechtfertigung ein, die einerseits bestimmte Bevölkerungsgruppen "befreien" will, die sie andererseits als Opfer in Kauf nimmt.


    Alles in allem ein Bändchen, dem man anmerkt, dass es ein bisschen zusammengestückelt und nicht furchtbar systematisch ausgearbeitet ist. Starke Thesen und Lösungsansätze fehlen weitgehend. Ich werde demnächst dann "Frames of War" lesen und sehen, wie diese Ansätze weiterentwickelt worden sind.

    Hallo Oryx,


    richtig. In Deutschland gibt es hingegen den Rabenmütter-Diskurs, der einen vernünftigen Ausbau der Betreuungssituation seit Jahrzehnten verhindert. Hier werden Kinder und Karriere noch immer zu einer Wahl, einem Entweder-Oder - einer Wahl, die aber nur von den Frauen getroffen werden muss.


    Herzlich, Bartlebooth

    Zitat

    Original von Vandam
    Würden Männlein wie Weiblein das gleiche vom Leben wollen, wäre es doch aber annähernd 50:50. Die Hälfte der Politiker und Firmenchefs wären Frauen, die Hälfte der Krankenpfleger und Erzieher wären Männer.


    Anscheinend setzen aber die Geschlechter unterschiedliche Prioritäten, sonst wäre die Aufteilung nicht so, wie sie ist. Das ist kein Gejammer, das ist einfach eine Feststellung.


    Ich sag ja nicht, die bösen Männer lassen die Frauen nicht hochkommen. Ich folge den Gedankengängen Susan Pinkers und sag, unter den gegeben Umständen ist eine Top-Karriere nicht das, was die meisten Frauen wollen.


    Vielleicht haben Frauen auch einfach ncht die gleichen Möglichkeiten. Frauen bleiben meiner Erfahrung nach nicht zu Hause, weil sie es wollen, sondern entweder, weil die Frage gar nicht gestellt wird, ob der Mann auch zu Hause bleiben könnte, oder weil der Mann in der Regel mehr verdient. Eine aktive Entscheidung nach eingehender Reflexion über die jeweiligen Präferenzen beider Elternteile ist doch eher die Ausnahme.


    Bei dem Namen Pinker läuteten bei mir übrigens gleich die Alarmglocken. Meine Vermutung war gleich, Susan Pinker ist bestimmt die Ehefrau von Steven Pinker. Ich habe mich getäuscht. Sie ist seine Schwester.

    Hallo John,


    ob du's falsch verstanden hast, weiß ich nicht. Das erste Zitat würde ich aber, da es von Sektionschef Tuzzi stammt, mit Vorsicht genießen. Es zeigt eine gewissen Schizophrenie im Handeln der Großbourgeoisie - einerseits Ideen anhängen und sie unterschwellig aber für inexistent halten. Da geht was im Denken nicht zusammen. Die Kritik geht hier in eine andere Richtung.


    Das zweite Zitat von Ulrich ist eine Beschreibung des Zustands, die Ahnung einer Reaktion auf diesen, aber eine Kritik kann ich hier immer noch nicht erkennen.


    Was die Truppe um Hans Sepp betrifft, so ist sie eher ein aus dem Ruder gelaufener Tuzzi. Es wird sich auf Ideen berufen, man hält sie für notwendig, aber eigentlich hat man keine, so dass man sich ma Ende sogar mit denen, die das genaue Gegenteil vertreten, irgendwie verständigen kann. Insofern geht es weniger um eine Kritik, dass irgendwer sein Leben an Ideen ausrichtet, sondern eher darum, dass man vorschützt, es zu tun, wohingegen eigentlich den schärfsten Verfechtern einer Idee die Idee selbst überhaupt nicht klar ist, sie sich aber trotzdem weigern, von ihr abzurücken (so ähnlich funktioniert ja auch Graf Leinsdorf). Nur in diesem letzten Sinne sehe ich eine Kritik an denen, die ihr Leben den großen Ideen verschreiben, aber vielleicht meinst du das ja.


    Herzlich, Bartlebooth.

    Hallo John,


    Zitat

    Original von John Dowland
    M. E. handelt das Buch in erster Linie von einer Art systematischem Skeptizismus gegenüber „großen Ideen“. Musil kritisiert Menschen, die ihr Leben solchen Ideen verschreiben, egal ob es sich dabei um nationalstaatliche, moralische, theologische, kunsttheoretische oder „neuzeitliche“ Ideen handelt. Jede Idee fordert mit gleicher Existenzberechtigung eine Gegenidee heraus, jedes Ordnungssystem vernichtet Lebendigkeit und Vielfalt bei den nicht oder unzutreffend erfassten Gegenständen. Man kann dem mit Ironie begegnen (so im Kapitel über die Stenographievereine oder den Versuchen Stumms, der Gedankenvielfalt mit militärischen Mitteln zu begegnen). Es scheint Musil aber ernster zu sein und eher um die Gefahr zu gehen, die entsteht, wo immer Menschen einen Teil für das Ganze nehmen oder die Wirklichkeit einer unbedingten Regel unterwerfen. Ganz konkret in diesem Buch – wer ein „Weltösterreich“ fordert, spielt mit dem Feuer, auch wenn Diotima dies arglos und mit den besten Vorsätzen tut.


    Ist das so? Beim ersten Satz deines ersten Punktes kann ich dir noch zustimmen, aber dann? Wo siehst du denn die Kritik an den Menschen, die sich großen Ideen verschreiben? Es ist ja nun nicht so, dass Ulrich das Muster an Tugendhaftigkeit wäre, der in seiner Eigenschaftslosigkeit locker alle anderen schlägt. Außerdem scheint es mir eher als Not, als Defizit empfunden zu werden, dass man sich keiner großen Idee anzuschließen vermag (es sei denn man ist ein Fossil wie Graf Leinsdorf). Und was aus der Prinzipienlosigkiet, die eine Abkehr von leitenden Ideen ja im Buch auch ist, ensteht, ist auch nicht immer nur positiv.
    Insofern würde mich interessieren: Wo siehst du die Kritik?


    Herzlich, Bartlebooth.