Henry Seefahrer - von Tim Binding
Weihnachten 1952: Dichter, schier undurchdringlicher Nebel lastet auf der Stadt. In der Nähe des Piccadilly Circus klammert sich der sechsjährige Henry an seine Mutter, die plötzlich merkt, dass sie ihr Portemonnaie in einem Café vergessen hat. Sie eilt davon - und bleibt hinter der grauen Wand, die Henry umgibt, verschwunden.Henry wächst als Waise auf, ist Balljunge in Wimbledon, lernt Geige spielen und schlägt sich als Straßenmusikant durch, bis zufällig ein Offizier sein Talent entdeckt und ihn in die Kapelle der Royal Marines holt.Dann, dreißig Jahre nachdem Henry seine Mutter im Nebel verloren hat, bläst England zum Sturm auf eine kleine Inselgruppe am anderen Ende der Welt. Er geht an Bord der Canberra, eines ehemaligen Luxusliners, den die Royal Navy zum Truppentransporter umfunktioniert hat. Mit seiner Geige steht Henry an der Reling eines riesigen Schiffes, das unter Volldampf Kurs auf die Falkland-Inseln nimmt; Kurs auf eine Zukunft, die abermals dichter Nebel verhüllt.Tim Binding hat einen kühnen Roman geschrieben; eine Geschichte voller Wucht, in der ein Junge vom Schicksal auf unbestimmte Fahrt geschickt wird: Henry "Seefahrer", der sich Gewalten gegenüber sieht, die drohen, Mitgefühl und Menschlichkeit zu vernichten - und die nur gemeistert werden können von einem, der den Wütereien des Lebens sein Menschsein entgegensetzt.
Originaltitel: Anthem
aus dem Englischen übersetzt von
Rudolf Hermstein
Dies war eines der Bücher, die ich erst einmal wegen des wunderschönen Covers gekauft habe. Ein Kreuzfahrtschiff pflügt durch das Meer, das eher wie ein schwerer Goldbrokatstoff aussieht. Die Bugwellen formen das Meer wie schwere Stofffalten.
Dann habe ich lange gebraucht, um mich an den Inhalt zu wagen: Falklandkrise und englische Befindlichkeiten lagen weit weg.
Der Anfang ist schwierig, zu viele Namen, Daten und undefinierbare Gefühle; die Erzählperspektiven springen munter durch die Zeit, aber auch durch die Personen.
Doch der Autor zieht durch vielfältigen Beschreibungen den Leser in diese Welt hinein:
England nach dem Krieg 1950; England während des Falklandkrieges;
Schauplätze sind eng abgegrenzte Orte: eine Wohnsiedlung in einer Sackgasse, ein Kreuzfahrtschiff, der Bahnhof King's Cross. Hier treffen sich mit unglaublichem Zufall die Personen, deren Lebensbahnen sich mehrmals schon schicksalhaft im Leben gekreuzt haben. Es sind hoffnungslose Liebesgeschichten zwischen Mann und Frau, Vater und Tochter, Mutter und Sohn, Vater und Sohn. Es ist die Schilderung des Lebens auf einem Kriegsschiff. Das Buch ist ein richtiges Puzzle und es dauert eine gewisse Zeit, bis man das Muster erkennt.
Ich musste mich durch das Buch regelrecht durchackern, habe mich aber jeden Abend darauf gefreut. Die Bilder im Kopf, die der Autor schuf, waren reichhaltig und anregend. Kein Buch zum Ablenken, aber eines, das einen sehr lebendigen Eindruck hinterlässt.