Besser spät als nie. Hier ist endlich meine Rezension zu Charlies Buch (gelesen habe ich das Buch im November 2008). Eigentlich habe ich befürchtet, ich würde keine vernünftige Rezi mehr zusammen bekommen, aber das Gegenteil ist eingetreten. Ich musste mich ausbremsen, denn eigentlich hätte ich noch doppelt so viel schreiben können.
Meine Meinung
Im Herbst 2008 ist „Das Haus Gottes“ als Club-Premiere im Bücherclub erschienen und ich hatte das große Vergnügen, den Roman in einer äußerst lebendigen Leserunde gemeinsam mit der Autorin Charlotte Lyne zu lesen. Zuvor hatte ich bereits mit großer Begeisterung ihre beiden anderen historischen Romane - „Die zwölfte Nacht“ und „Die Glocken von Vineta“ - gelesen und ging daher auch mit großen Erwartungen an ihren neuesten Roman heran. So groß meine Erwartungen auch waren, sie wurden noch übertroffen. In meinen Augen ist „Das Haus Gottes“ das bisher beste Buch der Autorin. Damit zählt Charlotte Lyne für mich zu den vielversprechendsten Neuentdeckungen in 2008 und ich bin unheimlich gespannt auf ihre noch kommenden Werke – im Februar 2009 wird „Alles über Shakespeare“ erscheinen, das erste Sachbuch der Autorin.
„Das Haus Gottes“ erzählt aus der Sicht der Familie Fletcher einen Teil der bewegenden Geschichte der Stadt Portsmouth. Nicht nur das Schicksal der Stadt hat Charlotte Lyne bewegend widergespiegelt, sondern auch die Auswirkungen von Wirtschaft, Krieg und Pest auf das Leben der Bürger in Portsmouth sind eindringlich, erschreckend und berührend beschrieben. Die Autorin hat sich in meinen Augen mit ihrer Geschichte viel vorgenommen und es war zu befürchten, dass irgendein Aspekt - z. B.die Stadtgeschichte, menschlichen Einzelschicksale - auf der Strecke bleiben würde. Aber Charlotte Lyne zeigt nach nur wenigen Seiten ihr wahres Potential Geschichten zu erzählen und hat einen raumgreifenden, tief gehenden Roman geschaffen, der Geschichte und Fiktion (ihre Protagonisten sind erfunden) auf eine Art und Weise verbindet, dass sich ein lückenloses, bis ins kleinste Detail gestochen scharfes Bild ergibt, das keine Wünsche und Ansprüche offen lässt.
Sprachlich hat mich Charlotte Lyne überrascht. Einerseits schreibt sie auf hohem Niveau, vor allem beim Prolog brauchte ich ein wenig Zeit, um mich einzufinden, scheut aber nicht vor einer etwas derberen Ausdrucksweise zurück, die sich wunderbar in den Kontext einpasst. Mir gefiel dieser Stil ausgesprochen gut und er passt einfach perfekt zu der Geschichte, die mich kaum mehr loslassen wollte und mich nachhaltig beschäftigt hat. Die Seiten flogen nur so dahin und ich hab gar nicht gemerkt, wie viel ich letztendlich schon gelesen hatte.
Charlotte Lyne hat sich viel Mühe mit der Handlung gegeben und eine interessante und spannende, wenn auch bedrückende und tragische Geschichte geschrieben. So erzählt sie nicht nur anhand einer fiktiven Familie – den Fletchers -, wie das Leben in Portsmouth vor und während der großen Pest gewesen sein könnte, sondern verlässt mit Hilfe ihres männlichen Protagonisten Aimery Fletcher den eigentlichen Schauplatz, um den Leser einen Blick auf die Schlacht um Sluis werfen zu lassen. Besonders gut hat mir gefallen, dass sich Charlotte Lyne auch an die Schlacht bei Crécy gewagt hat und dabei wählt sie einen ganz besonderen Weg, um davon zu erzählen. Anhand des Berichtes einer Figur, die Aimery sehr nahe steht, erfährt der Leser, was sich in dieser Schlacht zugetragen hat. Und Charlotte Lyne ist es tatsächlich gelungen, dadurch einen unglaublich intensiven und bewegenden Blick auf die Ereignisse zu schaffen. Die Schilderungen sind unsagbar lebendig und haben mich bis ins Innerste erreicht. Ich hatte stets das Gefühl, selbst mit dabei gewesen zu sein. Die Schlacht bei Crécy ist zutiefst berührend, aufrüttelnd und verstörend geschildert! So mancher Autor hat sich an diesem Thema versucht und nur wenigen ist es gelungen, mich zu überzeugen, mich mitzureißen und mir ein klares Bild davon zu vermitteln. Charlotte Lyne zählt zu diesen wenigen Autoren, die das richtige Gespür, das nötige Handwerkszeug und das rechte Maß an Sensibilität mitbringen, um von solch bedeutenden Ereignissen zu berichten. Mich konnte sie restlos überzeugen.
Charlotte Lyne erzählt aber nicht nur mutig und realistisch von Krieg und Schlachten, sondern auch äußerst informativ und gut verständlich vom Schiffbau und vor allem von der großen Pest, die nicht nur Portsmouth überrollte, sondern ganz Europa. Dabei geht sie absolut schonungslos mit dieser Epidemie um, nimmt kein Blatt vor den Mund, schont den Leser nicht mit ihren ausführlichen, manchmal widerwärtigen Beschreibungen und scheut auch nicht davor zurück, wichtige und sympathische Figuren an der Pest sterben zu lassen, was dem Roman viel Authentizität verleiht. Ich finde es großartig, dass die Autorin den Mut hatte, wirklich alle Facetten der Pest aufzuzeigen und sich nirgends zurück genommen hat. Dabei hat sie eine erschreckende und bewegende Atmosphäre aus Panik, Tod, Siechtum, Sühne und Schuldzuweisung aufgebaut, die mir nicht nur einmal eine ordentliche Gänsehaut beschert hat. Um jede Figur, die der Pest zum Opfer gefallen ist, habe ich getrauert und für deren Angehörige tiefes Mitleid empfunden.
Charlotte Lyne erzählt alle Aspekte ihrer Geschichte eindringlich und äußerst tief gehend, dabei mitreißend und so real, als wäre man selbst mit dabei, würde selbst um sein Leben zittern, hoffen, beten, aber auch vor Glück taumeln, hoffen, lieben. Oftmals befürchtete ich schon, mich selbst in diesem Roman zu verlieren. Mit wenigen Worten schafft die Autorin dichte Atmosphären, denen man sich unmöglich entziehen kann, denen man hoffnungslos ausgeliefert ist und die einen so tief in den Roman eintauchen lassen wie es nur wenige Autoren schaffen.
Das Ende ist äußerst ereignisreich, rasant und vor allem bewegend. Hier liegt alles derart dicht beieinander, dass die Grenzen verwischen. Wut, Hass, Freude, Liebe, Leid, Glück, Leben und Tod, Erkennen, Missverstehen, Erlösung, Verdammnis, Verlieren, Gewinnen, Hoffnung, Enttäuschung... Mir hat es sehr gut gefallen und ich bin mit einem zufriedenen Gefühl aus dem Roman heraus gegangen. „Das Haus Gottes“ hat unheimlich lange nachgehallt und mich noch eine ganze Weile beschäftigt und nur schwer konnte und wollte ich mich von der Geschichte lösen.
Für den historischen Hintergrund hat Charlotte Lyne ausgiebig und gründlich recherchiert. Die historisch belegten Begebenheiten wurden unverfälscht in die Handlung integriert, so dass ein erklärendes Nachwort überflüssig wurde; dementsprechend hat die Autorin auch darauf verzichtet.
Aber um das bibliophile Herz höher schlagen zu lassen, gibt es ein ausführliches Glossar. Eine Karte sucht man in der Club-Ausgabe leider vergeblich, vielleicht ändert sich das ja mit der Taschenbuchausgabe, die im Mai 2009 beim Rowohlt Verlag erscheint.
Wären die Handlung und der Erzählstil der Autorin nicht schon großartig genug, würden die wunderbaren, einzigartigen Charaktere den Roman um einiges aufwerten, was er allerdings überhaupt nicht nötig hat. Ich vergöttere die Figuren Charlotte Lynes, habe sie schon in ihren anderen historischen Romanen bewundert, aber in „Das Haus Gottes“ ist der Autorin mit ihren Charakteren der ganz große Wurf gelungen! Sie sind unglaublich lebendig, selten auf den ersten Blick durchschaubar und so vielschichtig, dass sie unbestritten reale Personen gewesen sein könnten. Sie wachsen oder zerbrechen an ihren Erlebnissen und dabei nachvollziehbar und glaubhaft. Manchmal hat sich mir die Frage gestellt, ob sich die Autorin weitergehend mit Psychologie beschäftigt habe, da man im Prinzip von jedem einzelnen Charakter ein glaubwürdiges psychologisches Profil erstellen könnte. Eindeutig, die Autorin hat sich auf jede Figur eingelassen, jeden Charakter hinterfragt und zu ergründen versucht. Sie sind grandios, unterschiedlich, voller Abgründe, aber auch herzensguter Seiten. Und nicht eine Figur ist nur schlecht, oder nur gut. Wie jeder reale Mensch stellen sie sich durch die unterschiedlichsten Facetten und Motivationen dar. Den Stab endgültig über eine der Figuren zu brechen ist nahezu unmöglich, denn eigentlich sind alle einfach nur menschlich. Im Laufe der Handlung wird auch aus einer weniger sympathischen Figur ein Mensch, der z.B. Opfer seiner Erziehung ist und man lernt selbst diesen Charakter zu verstehen und auf seine Art seine Taten zu schätzen, oder sie doch noch zu verdammen. Einen strahlenden Held oder Heldin ohne Fehl und Tadel sucht man vergebens.
Fazit
In "Die zwölfte Nacht" fehlte mir etwas, das ich nicht genau benennen konnte, um es mit voller Punktzahl zu bewerten und genau dieses gewisse "etwas mehr" habe ich mit "Das Haus Gottes" bekommen. Charlotte Lyne ist ein wirklich wunderbarer, lebendiger, berührender, aber auch bedrückender Roman, voller Liebe, Sehnsucht, Angst, Leben, Hass und Tod (und so vielem mehr) gelungen, der von seinen einprägsamen, facettenreichen und realistischen Figuren lebt, die mich alle im Innersten berühren konnten, gleich ob sie Zuneigung, Sympathie, Abscheu oder sogar Hass in mir weckten. Vielen Dank, Charlotte Lyne für einen historischen Roman, der wirklich zu den Spitzenromanen des Genre zählt.
Meine Bewertung
10/10 Punkte