Meine Meinung
„Wer gab dir, Liebe, die Gewalt“ erzählt die fiktive Lebensgeschichte von Walther von der Vogelweide. Nur seine Gedichte und ein Dokument, das den Kauf eines Pelzmantels für den Dichter belegt, sind uns erhalten geblieben und daraus hat Viola Alvarez eine wunderschöne, ergreifende Geschichte gewebt. Vor allem seine berühmten Gedichte dienten der Autorin als Quelle, die sie wunderbar in den Roman eingeflochten hat. So wirkt das Leben Walthers von der Vogelweide absolut glaubhaft und ich musste mir immerzu in Erinnerung rufen, dass es nur eine Möglichkeit ist.
Stilistisch und vor allem sprachlich hebt sich der Roman deutlich von den durchschnittlichen historischen Romanen ab. Man muss sich auf das Buch einlassen können, es wirken lassen, damit es all seine Facetten entfalten kann. „Wer gab, dir, Liebe, die Gewalt“ ist auf keinen Fall „mal schnell weg zu lesen“, man sollte sich Zeit für diesen anspruchsvolleren Roman nehmen, damit einem nicht nur die Handlung und die Figuren nahe kommen können, sondern auch die Sprache und die Feinheiten ans Herz gehen können.
Viola Alvarez schreibt sehr weich, einfühlsam, ergreifend und vor allem sehr berührend. Mehr als einmal musste ich vergeblich gegen meine Tränen ankämpfen und zum Ende brachen alle Dämme. Aber ich habe auch viel gelacht, denn die Autorin erzählt teilweise sehr bissig und ironisch. Wütend war ich, enttäuscht, traurig, glücklich, ich habe alle möglichen Emotionen durchlebt und dabei war mein Herz immer vollkommen dabei.
Walther ist eine sehr interessante, kaum greifbare Figur. Äußerst facettenreich und mit sehr viel Tiefe. Wenn man glaubt, ihn endlich zu kennen, ihn zu durchschauen, handelt er so widersinnig, dass man feststellen muss, dass man keine Ahnung hatte, wer er ist und was in ihm vorgeht. Nur selten kann man in seine Seele sehen und das macht den Reiz der Figur aus. Er ist grob, in sich gekehrt, scheinbar ohne Liebe. Er sucht sein ganzes Leben nach sich selbst und den Sinn seines Lebens, zweifelt an sich, doch ist in seiner Dichtkunst von sich überzeugt, er liebt nicht, doch wird er von den großmütigsten Menschen geliebt. Er ist ein Sonderling, aber für mich ein sehr liebenswerter.
Aber nicht nur Walther ist als Figur großartig gelungen. Die Nebenfiguren, allen voran die, die Walther geliebt haben und alles für ihn taten, sind ebenso wichtig für die Handlung und vor allem für Walthers Leben, und so hat Viola Alvarez sie auch geschaffen. Figuren mir unglaublich viel Güte und Zuversicht, aber mit eigenen Sorgen und einer eigenen schweren Vergangenheit. Alle haben sie ihr Päckchen zu tragen und doch geben sie noch dem schwierigen Walther Kraft und Mut und ihre Liebe.
Diese Figuren haben mich sehr beeindruckt und eine ist mir ungeheuer ans Herz gewachsen: Dietrich.
Charakterisierungen und äußerliche Beschreibungen sind so treffend und prägnant, dass man sich jede Figur, sofort vorstellen konnte. Besondere Spitznamen wie z.B. „das Murmeltier , Umschreibungen wie „Maikäferpersönlichkeit“ oder der schwäbische Dialekt Philipps von Schwaben zeichnen ein unverwechselbares Bild der Figuren.
Walthers Leben ist aufregend, abwechslungsreich und wurde mir nie langweilig. Im Gegenteil, das Buch hätte gerne nochmal so viele Seiten haben können und es wäre mir immer noch nicht genug gewesen. Walthers ewige Suche durchläuft verschiedene Stufen und auch Welten. Seine Begegnungen mit den historischen Persönlichkeiten haben mir sehr gefallen, allen voran seine Begegnung mit Philipp von Schwaben und dessen Frau Irene. Ein tolles Pärchen, das ich sofort ins Herz geschlossen habe. Alle Lebensstationen Walthers empfand ich als sehr spannend und ergreifend.
Die in die Geschichte eingewobenen Gedichte bekommen in dem Roman einen besonderen Platz und sind in Mittelhochdeutsch und einer Übersetzung von der Autorin abgedruckt. Ich persönlich finde, Viola Alvarez hat diese wunderbar ausgewählt und uns durch sie einen wahren Einblick in Walthers Seele ermöglicht.
„Wer gab, dir, Liebe, die Gewalt“ hat mich sehr ergriffen und wird mir unvergesslich in Erinnerung bleiben. Es ist ein Highlight und für jeden Liebhaber historischer Romane absolut zu empfehlen, auch wenn einem das Leben des großen Dichters zunächst nicht als erzählenswert erscheint. Auch ich wurde eines Besseren belehrt und bereue es nicht, im Gegenteil, mir wäre etwas ganz Besonderes entgangen.
Eines meiner Lieblingszitate zum Abschluss (gebundene Ausgabe 2005, Seite 385):
„Vielleicht war das Alleinsein gar nicht das Schlimmste am Leben, wenn man das Alleinsein mit jemandem teilte, und dann war dieser Jemand nicht mehr da. Das Schlimmste am Leben, dachte Walther in der Dunkelheit, ist, wenn man jemanden gern hat, der stirbt und zu dem man nie wieder zurückgehen kann.“
Meine Bewertung
11 von 10 Punkten