Wie eine Glocke lag die schwüle Sommerluft über dem Stuttgarter Talkessel. Die Leute, die sich schwitzend ihren Weg zwischen den Häusern suchten, hatten nur einen Gedanken: die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Die Menschen in der vollbesetzten Straßenbahn hatten es geschafft. Sanft über die Schienen gleitend fuhren die gelben Wagen langsam die steile Straße auf die Filderhochebene hinauf. Die Insaßen freuten sich auf den frischen Wind, der dort immer weht und die Hitze
erträglich macht. Auch Gertrud Häberle, eine etwa 60 Jahre alte Frau mit schulterlangen, schlecht gefärbten braunen Haaren und einer stattlichen Figur, konnte es kaum erwarten, die Straßenbahn verlassen zu können und die frische Filderluft zu atmen. Leicht vor sich hin dösend harrte sie diesem Augenblick und hörte mit geschlossenen Augen den Gesprächen ringsherum zu.
„Ja, meine Warmblutstute ‚Golden Princess’ startet auf jedem Tunier in Deutschland. Sie nimmt an der Halfterklasse teil und, da sie sehr vielseitig ist, auch an fast allen Zaumklassen.“
„Und ihr Fohlen? Es ist doch erst zwei Monate alt.“
„Och, das bleibt allein zu Hause, die paar Tage kommt es auch ohne Mutter zurecht. Nur, wenn es auch Nachkommenklassen gibt, kommt es mit.“
Frau Häberle hatte sich bei diesen Worten aufgesetzt. Das hörte sich doch stark nach Tierquälerei an. Suchend schaute sie sich um, bis ihr Blick auf zwei etwa 13jährige Mädchen fiel, die eine Sitzbank weiter saßen. Sie schüttelte den Kopf. Wie konnten so junge Menschen schon so abgebrüht und gleichgültig im Umgang mit Tieren sein? Aufmerksam lauschte sie dem weiteren Gespräch der beiden Teenager. Durch das Rattern der Wagen auf den Schienen verstand sie nicht alles, doch das Gehörte genügte ihr.
„Füttern tun wir die Pferde nicht, die brauchen.....“
„Gründlich putzen... nicht nötig... stauben doch wieder ein....einmal mit dem Staublappen drüber, das genügt.“
„Mähne und Schweif schneiden wir manchmal ab, dann....“
„Einen Tierarzt brauchen wir nicht, gebrochene Beine...“
Durch die Gestalt der älteren Frau ging ein Ruck. Ein entschlossener Ausdruck zeigte sich auf ihrem Gesicht. Diesen Tierquälern wollte sie eine Lektion erteilen, die sie nie wieder vergessen würden. Und sie hatte Glück! Das Mädchen, dem die Pferde gehörten, lud ihre Freundin zu sich ein und nannte ihr ihre Adresse! Nun würde Frau Häberle beim Tierschutz und der Polizei diese Tiermisshandlung anzeigen und den armen Kreaturen damit helfen können. Zum Glück hatte sie immer etwas zum schreiben dabei. Man war doch nicht mehr die Jüngste und vergaß so einiges, wenn man es sich nicht notierte.
„Degerloch Albplatz“, schnarrte die Stimme des Fahrers aus dem Lautsprecher.
Gertrud Häberle zuckte zusammen. Himmel, sie musste ja schon aus-steigen! Hastig raffte sie ihre Einkaufstaschen an sich, stand auf und hetzte zur Tür. Beim Verlassen des Wagens warf sie noch einen Blick zurück auf die sich rege unterhaltenden Mädchen. Über euch schwebt schon das Kreuz des St. Martin, ihr wisst es nur noch nicht, dachte sie.
Das Gewitter hatte die Schwüle vertrieben und Platz gemacht für eine kühle und saubere Luft. Doch war dies für die Erde nicht ohne Blessuren abgegangen. Die taubeneigroßen Hagelkörner hatten einen Teil des Getreides und auch zahlreiche Blumen in den Vorgärten der Häuser vernichtet. Der sturzbachartige Regen, der dem Hagel gefolgt war, ließ Bäche und Flüsse über die Ufer treten und überschwemmte zahlreiche Keller. Am Morgen nach dieser unheilvollen Nacht stand Frau Häberle
mit ihrer Nachbarin vor dem Hauseingang, und sie sprachen über das Un-wetter und seine Folgen. Plötzlich verstummten sie, denn ein Streifenwagen der Polizei hielt neben ihnen an. Der Fahrer stieg aus und ging zu den beiden Frauen.
„Guten Morgen“, grüßte er freundlich, „können Sie mir sagen, wo ich Frau Gertrud Häberle finde?“
„Ich bin Frau Häberle. Was wollen Sie von mir? Ich habe nichts ver-brochen!“
Der Polizist schmunzelte.
„Keine Sorge, Frau Häberle. Es handelt sich um ihre Anzeige wegen Tierquälerei. Ich fahre jetzt zu der von ihnen angegebenen Adresse und wollte Sie bitten, mitzukommen. Der Mann vom Tierschutz erwartet uns dort.“
Die Frau atmete erleichtert auf.
„Ach so. Natürlich komme ich mit. Ich will nur noch schnell meine Jacke holen. Es ist doch recht frisch geworden.“
Sie drehte sich um und ging mit schnellen Schritten in das Haus, das sie kurze Zeit später wieder verließ. Unter den neugierigen Blicken der Nach-barin stieg Fr. Häberle in den Streifenwagen.
Nach kurzer Fahrt hielt der Wagen an.
„Hier ist die Adresse, die Sie zu Protokoll gegeben haben.“
Fr. Häberle verließ das Fahrzeug und sah sich erstaunt um. Graue Wohn-silos, wohin sie auch blickte. Hier sollten irgendwo Pferde untergebracht sein? Auch der Polizist war ausgestiegen.
„Da vorne ist der Mann vom Tierschutzverein.“
Ein kleiner, schmächtiger Mann kam ihnen mit weitausgreifenden Schritten entgegen.
„Guten Morgen. Ist das die Frau, die uns verständigt hat?“
„Das ist korrekt, Herr Schubert.“
Der Tierschutzbeauftragte wandte sich an Frau Häberle.
„Es freut mich, dass es noch Menschen gibt, die etwas tun, wenn sie von solchen Missständen in der Tierhaltung hören.“
„Ist doch selbstverständlich“, wiegelte die ältere Frau ab.
Wenig später klingelten sie bei der angegebenen Adresse und wurden von der Mutter des beschuldigten Mädchens in die Wohnung gebeten. Als ihr die beiden Männer sagten, um was es ging, schüttelte sie ungläubig den Kopf.
„Das muss ein Irrtum sein“, sagte sie. „Meine Melanie liebt Tiere über alles und würde nie eines misshandeln. Sie tut ja nicht mal Fliegen oder Wespen etwas zuleide.“
„Diese Frau“, Frank Schubert zeigte auf Frau Häberle, „war Zeugin eines Gesprächs, das ihre Tochter mit einer Freundin in der Straßenbahn führte. Darin gab sie die Tierquälerei selbst zu.“
„Das kann ich nicht glauben. Ich denke, es ist am besten, wir fragen meine Tochter selbst. Ich werde sie holen.“
Sie ging zu einer am Ende des Flurs gelegenen Tür, klopfte an und öffnete diese.
„Melanie, würdest du bitte mal kommen?“
Das Mädchen kam aus seinem Zimmer und ging mit ihrer Mutter zu den warteten Personen.
„Das ist das Mädchen aus der Straßenbahn!“, rief Frau Häberle. „Du Tier-quälerin!“
Verstört schaute Melanie die Frau an.
„Mäßigen Sie sich bitte, Fr. Häberle“, sagte Herr Schubert und wandte sich dann an Melanie:
„Diese Frau sagt, du würdest deine Pferde quälen, stimmt das?“
„Nein!“, rief der Teenager verzweifelt. „Ich könnte nie einem Tier weh tun!“
„Stimmt es, dass du deinen Pferden nichts zu fressen gibst?“
„Ja, aber...“.
„Stimmt es weiterhin, dass du sie nie richtig putzt, sie nur mit einem Staub-lappen abreibst?“
„Nein, warum auch, sie...“
„Ist es korrekt, dass du eine Stute mit Fohlen bei Fuß von Tunier zu Tunier schleppst?“
„Sie muss doch Punkte für die Jahreswertung sammeln!“
„Ist es weiterhin richtig, dass du deinen Pferden, aus welchem Grund auch immer, Mähne und Schweif abschneidest?“
„Ja, aber das tut ihnen doch nicht weh!“
„Und stimmt es auch, dass du nie einen Tierarzt kommen lässt, selbst wenn sich eines deine Pferde ein Bein bricht?“
„Nein, das behandle ich selber, ich .....“
Verzweifelt und den Tränen nah sah Melanie ihre Mutter hilfesuchend an. Frau Häberle triumphierte innerlich. Hatte sie doch richtig gehandelt mit ihrer Anzeige.
„Das ist der schlimmste Fall von Tierqälerei, den ich bisher erlebt habe“, sagte Herr Schubert sichtlich betroffen zu dem Polizisten.
„Am besten, wir fahren gleich zu dem Stall, in dem die Pferde stehen.“
„Wieso Stall?“, fragte Frau Müller. „Melanies Pferde stehen alle in ihrem Zimmer.“
Die beiden Männer und Frau Häberle sahen sich erstaunt an.
„Wie bitte?“
„Ja, sie haben richtig gehört. Am besten, sie sehen sich die Sache selbst mal an. Ich glaube, dadurch wird sich die ganze Angelegenheit schnell aufklären. Kommen Sie bitte mit.“
Sich leise unterhaltend folgten die drei Personen Melanie und ihrer Mutter und betraten das Zimmer des Teenagers. Sprachlos schauten sie sich um. Bei den so auf das gausamste misshandelten Kreaturen handelte es sich um........
Modellpferde