Liebe Forumsmitglieder,
was es über mich zu wissen gibt? Ich heiße Nicole Makarewicz, lebe in Wien, bin verheiratet und Mutter zweier Töchter (fast 5 & 3 Jahre). Die Kleine haben wir im August 2008 aus Äthiopien adoptiert. Ich bin Journalistin, Lektorin und vor allem Autorin.
2009 wurde mein erster Roman "Tropfenweise" veröffentlich, kürzlich mein Erzählband "Jede Nacht". Außerdem habe ich etliche Erzählungen in Literaturzeitschriften veröffentlicht und zwei Literaturpreise gewonnen. Soviel zum Eigenlob (irgendwer muss es ja tun...).
Grüße aus Wien,
Nicole
Beiträge von Nicole M
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Liebe Eulen,
ich möchte Euch mein zweites Buch, den Erzählband "Jede Nacht", vorstellen.
Viel Spaß beim Lesen!
Nicole MakarewiczKLAPPENTEXT
Ein steckengebliebener Aufzug, eine Frau, die feste Nahrung verweigert, ein völlig anderes „erstes Mal“, ein außer Kontrolle geratener Ego-Shooter, ein verschwundener Ehemann, Selbsthass mit katastrophalen Folgen, eine perfide Falle und ein Befreiungsschlag – die Geschichten dieses Buches handeln von Wende- und Endpunkten, die sich in jedem Leben ergeben könnten. Nicole Makarewicz führt in ihren Erzählungen die Leserinnen und Leser an vermeintliche Grenzen des Möglichen, des Machbaren, des Erträglichen. Was sie zu berichten hat, ist verstörend und unbequem, strapaziös und bedrückend. Und dennoch - oder gerade deshalb - verfolgt man das Geschehen mit halb beklommener, halb voyeuristischer Faszination. Bis man erkennt, dass sich im Schicksal dieser anderen Menschen immer die unergründlichen Facetten des eigenen Selbst spiegeln. Der Band beinhaltet auch die preisgekrönten Erzählungen „Heißhunger“ und „Vergissmeinnicht“.BIOGRAPHIE
Nicole Makarewicz, geb. 1976 in Wien, studierte Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Psychologie. Seit 1994 als freie Journalistin und Redakteurin tätig. 2009 erschien bei Seifert ihr Debüt-Roman „Tropfenweise“. Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften. Gewinnerin des „Forum Land Literaturpreis 2009“ sowie der „12. Münchner Menülesung 2009“. Nicole Makarewicz ist verheiratet und Mutter zweier Töchter.
http://www.nicolemakarewicz.comLESEPROBE
Heißhunger
Sie hungert, seit sie sechzehn ist. Gern gegessen hat sie nie. Hatte keinen Appetit. Dann war alles Ekel. Sie kann nur noch Flüssiges zu sich nehmen. Strohhalm statt Besteck, ein unverzichtbares Utensil der Abgrenzung. Zu kauen, mit den Zähnen zu zerteilen, zu zerreißen, zu zermalmen, widert sie an. Zerkleinerten Nahrungsbrei mit Speichel einzuschleimen, im Mund mit der Verdauung zu beginnen, Zersetzung auf der Zunge zu spüren, vergorene Reste, die zwischen den Zähnen zurückbleiben. Abartig, widerwärtig, grauenerregend.
Sie reduziert den Akt der Nahrungsaufnahme auf wenige Minuten täglich. Ein paar Schlucke, runter damit, Zähne putzen, schrubben, bis das Zahnfleisch blutig protestiert. Keine kollektive Speisung, kein Restaurant, keine Kantine. Bei Würstelständen, Döner- und Pizzabuden den Blick senken, Luft anhalten, ignorieren.
Sie war immer schon schlank, jetzt ist sie dünn, doch erstaunlicherweise pendelte sich ihr Gewicht ein – knapp oberhalb der Grenze zur Unterernährung. Der Busen gepusht, die Taille betont, neiderregende Modelmaße. »Ich esse nichts«, ihre Erklärung. Ungläubige Missgunst die Antwort. Sie änderte ihre Strategie, erzählt von Ananas auf Kochschinken, harten Eiern und Avocados. Ihre Diät wird nachexerziert. Sie hat Ruhe.
Essen bestimmt ihr Leben. Es ist anstrengend, ihm auszuweichen, zu vermeiden, andere Menschen kauen, schmatzen, schlucken zu sehen. Nahrungsverweigerung ist eine zeitaufwändige Beschäftigung. Beim Ausgehen beschränkt sie sich auf klassische Konzerte, ab und zu ein Ballett, selten Theater, nur wenn sie das Stück kennt, sich über die Inszenierung informiert hat, weiß, dass kein Essen vorkommt. In den Pausen bleibt sie sitzen, meidet das Büfett, das Theatercafé, die Bar. Sogar dort wird allzu oft Essbares kredenzt, stopfen, fressen, schlingen die Besucher Gratisnüsse und Cracker in sich hinein, als gäbe es kein Morgen. Ihre Phobie verleidet ihr Film und Fernsehen, Theater und Kabarett. Viel zu oft wird gegessen, ist Essen ein Thema. Essen ist das Eine, Sex spielt in den Medien, im Leben nur eine untergeordnete Rolle, aber das sehen die anderen nicht, das erkennt nur sie. Kochshows erfüllen sie mit Entsetzen. Die aufgereihten Zutaten jagen ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Prall-leuchtende Tomaten, innen quatschig rot, fettglänzende Butter, wurmartige Spaghetti, krötenhäutige Avocados, pelzige Pfirsiche. Fleisch, blutig, mit Fett durchsetzt. Hingeschlachtete Fische mit vorwurfsvoll starrenden Augen. Des Lebens und ihrer Federn beraubte Vögel. Innere Organe, schleimig, glänzend. Manchmal bleibt sie wie ein Kind bei einem verbotenen Horrorfilm hängen, starrt fasziniert und vom Ekel gebeutelt hin, wenn zu Saucen, Aufläufen, Terrinen verkocht und verbraten wird. Wenn Fleisch geklopft, gehackt, faschiert wird. Wenn enthusiastische Futterfabrikanten tief ins Unerträgliche tauchen, kneten, schneiden, dünsten, arrangieren, servieren. Material für Alpträume, die in die Realität überschwappen.
Sie fühlt sich fremd, findet sich in der von Esskapaden durchsetzten Welt nicht zurecht. Ihre Flucht ist anstrengend. Anders zu sein liegt ihr nicht. Sie will nicht auffallen, will in der Menge verschwinden, keinen Eindruck hinterlassen. Um anonym zu bleiben, muss sie sich tarnen. Sie lebt ein Scheinleben. So-tun-als-ob ist ihr zur zweiten Natur geworden. Ein fadenscheiniger Umhang, der die grelle Musterung ihrer Besonderheit verbirgt, sie vor Neugier, Mitleid und Ausgrenzung schützt. Bei unvermeidlichen, zum Glück raren Zusammenkünften, Weihnachts- und Geburtstagsfeiern, Hochzeiten und Taufen hat sie diese Kunst zur Vervollkommnung gebracht. Sie hat sich unter Kontrolle, verschiebt das Aufgetischte mit sorgfältiger Präzision auf ihrem Teller, arrangiert akribisch Stillleben der Sättigung. Führt ab und zu die leere Gabel zum Mund, lobt, falls angebracht, das Aufgetischte, tarnt sich in stiller Unauffälligkeit. Sie harrt gerade so lange aus, wie es die Höflichkeit erfordert. Selbst im Aufbruch muss sie sich beherrschen, darf nicht erahnen lassen, dass sie auf der Flucht ist, dass sie nur weg will, dem Horror entkommen.
Manchmal träumt sie davon, zu essen. Wahre Berge in sich hineinzustopfen, zu schlingen, sich die Finger abzulecken, nach mehr zu gieren, satt zu sein. In diesen Träumen ist kein Platz für Ekel, für Angst. In diesen Träumen fühlt sie sich frei, so normal, so normal. Wenn sie aufwacht, hält sie die Augen geschlossen, versucht, den unterschiedlichen Geschmäckern nachzuspüren, beschwört nahrhafte Visionen herauf. Doch der Ekel, ihr ewiger Begleiter, zwingt sie, die Augen aufzureißen, den Brechreiz zu unterdrücken, aufzugeben.
Sie sitzt in der U-Bahn, geschützt von einer Gratiszeitungsmauer. Ein Essverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln wird überlegt. Im Moment wünscht sie sich nichts sehnlicher. Masochistische Neugier zwingt sie dazu, die Zeitung zu senken. Ihr gegenüber sitzt sie. Alles an ihr ist üppig, überdimensioniert, überwältigend. Ein wenig zu orangestichige Locken, riesige Augen, volle Lippen, ausladende Formen, in einen mausgrauen Hosenanzug gequetscht, die Füße in etwas zu enge Pumps gepresst. Die betonte Schlichtheit der Kleidung konterkariert die Absicht, lässt das Ensemble zur Kostümierung verkommen. Sie ist nicht fett, aber sie sprengt den Rahmen, wirkt, als würde sie in keine Schublade passen, jedes Klischee ad absurdum führen. Sie strotzt vor Selbstbewusstsein – nicht das aufgesetzte Ich-mag-mich-wie-ich-bin vieler Dicker, sondern ehrliche, in sich ruhende Zufriedenheit mit sich selbst. Sie versteckt sich nicht, drängt sich nicht in den Mittelpunkt. Sie ist einfach. Und isst. Heute ein Schokoladecroissant, gestern einen Apfel, am Montag eine Käsesemmel.
Vor einer Woche hat sie sie zum ersten Mal gesehen. Und war fasziniert von der Sinnlichkeit, mit der sie isst. Genuss, Verzückung, pure Lust am Geschmack, der Konsistenz, dem Erlebnis des Essens. Angewiderte Faszination ließ sie nicht wegsehen. Am zweiten Tag durchströmte sie eine Mischung aus Entsetzen und Erleichterung, als sie die Esserin auf dem Bahnsteig sah. Seither hat sie sie nicht mehr verpasst. 8 Uhr 30, werktags. Das Wochenende war zu lang. Sie hat es kaum überstanden. Die Esserin lässt sie nicht los.
»Scheint, dass wir denselben Weg haben?« Die Stimme der Esserin ist tief und sanft. Eine verbale Streicheleinheit. Ertappt zuckt sie zusammen. Nickt. Die Esserin ignoriert ihr offensichtliches Unbehagen, plaudert, isst, steigt aus. »Bis morgen!« Der freundliche Abschiedsgruß dröhnt in ihren Ohren. Bedrohlich, verlockend schwebt er den Rest des Tages als Damoklesschwert über ihr. Die Nacht dauert ewig. Sie wälzt sich herum, dämmert weg, nickt ein, träumt von Gelagen mit der Esserin. Augenringe markieren den nächsten Morgen.
Zehn nach acht. Sie steht auf dem Bahnsteig, drei U-Bahnen lang. Sie wartet, unterdrückt den Fluchtimpuls, zwingt sich zum Ausharren. Zwei vor halb ist die Esserin da, begrüßt sie, als würden sie einander kennen, gestikuliert beim Reden mit den Händen, lässt ihr keine Zeit zu antworten, selbst wenn sie Worte hätte. Der Zug fährt ein, die Esserin sitzt ihr gegenüber, anerkennt ihren Wunsch nach Abstand und Nähe. Heute ist Bananentag. Die Esserin bietet ihr eine an, die sie entsetzt ablehnt. Die Form, die Farbe, die Konsistenz, niemals. Die Esserin gibt sich der Banane hin. Fast schon erotisch. Reine Lebensfreude.
Drei Wochen später fährt die Esserin auf Urlaub. Die Trennung macht ihr zu schaffen. Die Esserin ist ein wichtiger, zu wichtiger Teil ihres Lebens geworden. Sie ist abhängig von ihr, von den gemeinsamen Minuten, dem Unterricht im Genießen. Nicht, dass sich ihr Verhältnis zum Essen verändert hätte. Doch der Esserin zuzusehen befriedigt sie auf makabre Weise. Sie ist eine Voyeurin ihrer Nahrungsaufnahme.
Seit die Esserin weg ist, ist sie von Verlangen überwältigt. Sie verzehrt sich nach ihr, ist auf Entzug. Ihr wird bewusst, dass sie die Esserin begehrt. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie verliebt. Verliebt in die Lebenslust der Esserin, ihre Freude am Genuss, die pure Sinnlichkeit, die sie ausstrahlt. Es erschreckt sie. Es erstaunt sie. Liebe hat es für sie nicht gegeben. Das Essen ist im Weg. Ihr bleibt keine Zeit für Freundschaften, Beziehungen, Familie. Ihr Leben ist Vermeidung. Das hat die Esserin geändert. Zum ersten Mal will sie. Sie will die Esserin um sich haben. Will ihr beim Essen zusehen, die Faszination der Abstoßung erleben. Sie liebt die Befriedigung, das Grauen ertragen, sich ihren tiefsten Ängsten wieder und immer wieder stellen zu können. Die Esserin hat ihr die Augen geöffnet, ihren Kokon gesprengt. Und sie im Stich gelassen.
In ihrer Verzweiflung ergreift sie drastische Maßnahmen. Auf dem Weg zur Arbeit kauft sie ein. Käsesemmel, Apfel, Schokoladecroissant, Banane. Sie erinnert sich an jedes Mahl der Esserin, feiert mit dem Kauf die Begegnung, die ihr Leben verändert hat. Den ganzen Tag trägt sie ihre Errungenschaften bei sich. Das Essbare in ihrer Tasche erregt sie. Sie hat verbotenes Terrain betreten, Angst, ertappt zu werden. Zwischen Lust und Abscheu hin- und hergerissen, ertastet sie verstohlen das gehortete Essen. Ein Schauer durchläuft sie. Die Realität der Lebensmittel ist ihre Rückversicherung, hilft ihr, die Abwesenheit der Esserin zu ertragen, ist Pfand ihrer Rückkehr.
Sie fiebert dem Wiedersehen entgegen und ist dennoch davon überfordert. Die Esserin ist braungebrannt, die Haare zu Hellorange ausgeblichen, brünetter Nachwuchs. Sie hat ihr ein Lederarmband mitgebracht, ihr Name in bunten Perlen aufgestickt, nichts, was sie tragen würde. Sie legt es nicht mehr ab.
Die Esserin überredet sie zu einem Treffen, hat Unmengen von Fotos gemacht, Meer und Strand und Palmen, und sie selbst vor Meer und Strand und Palmen. Die Esserin erzählt, beschreibt, lacht und kichert, trinkt und isst. Ein Pasta-Berg türmt sich auf ihrem Teller, eine doppelte Portion mit Extra-Sauce. Löffelweise häuft sie Parmesan auf die Nudeln. Die Esserin zelebriert ihr Mahl. Unerwartet elegant wickelt sie Spaghetti auf die Gabel, gönnt jedem Bissen einen fast schon lustvollen Blick, bevor sie ihn in den erwartungsvoll geöffneten, tiefrot geschminkten Mund schiebt. Sie kaut lange, füllt den Mund aus, scheint jede Nuance erschmecken, sich keine Sekunde des Erlebnisses entgehen lassen zu wollen. Den Saucenrest tunkt sie mit Weißbrot auf, das sie grazil in Stücke reißt, bevor sie den Teller fast zärtlich damit entlangfährt. Beim Kauen sind ihre Augen geschlossen, gibt sie leise Laute der Verzückung von sich. Die Hingabe der Esserin hat etwas Obszön-Erotisches. Ihr zuzusehen erregt sie so sehr, dass sie versucht ist, sich unter dem Tisch Befriedigung zu verschaffen. Der für sie so abstoßende Geruch des Essens verstärkt das pulsierende Ziehen in ihrem Unterleib. Sie klammert sich an ihr Wasser, die Zitrone sofort herausgefischt, ekelgebeutelt die Finger abgetrocknet.
Neid und Lust vermischen sich zu einem überwältigenden Gefühlscocktail. Sie will sein wie die Esserin, leben wie die Esserin, essen wie die Esserin. Sie ist süchtig nach der Esserin, kann ihren Blick nicht abwenden, sie nicht gehen lassen. Sie redet um ihr Leben. Sie, die kaum jemals viele Worte macht, nur keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sich nicht in den Mittelpunkt stellen will, erzählt und plaudert und lacht sogar einmal. Sie kann sie nicht gehen lassen. Nicht schon wieder. Es ist Nacht, als sie nach Hause kommt.
Sie hat die Esserin eingeladen. Zu sich nach Hause. Zum Essen. Sie hat schon lange davon fantasiert, sich vorgestellt, dass es passieren könnte, irgendwann. Sie hat nicht damit gerechnet, den Mut aufzubringen, die Initiative zu ergreifen. Morgen. Morgen wird sie essen. Zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren.
Die Esserin ist pünktlich und hat knallbunte Blumen mitgebracht. Sie stellt sie in eine Vase, arrangiert sie sorgfältig, versucht, Zeit zu schinden. Die Esserin ist, was in ihrem Leben einer Freundin, einer Vertrauten am nächsten kommt. Ihre Familie. Sie ist noch nicht bereit. Bereiter wird sie nie sein. Sie zeigt der Esserin die Wohnung, bietet ihr den Cocktail an, wartet, bis sie bewusstlos ist, hievt sie in die Badewanne – das jahrelange Krafttraining zahlt sich aus.
In der Küche bindet sie sich ihre neue Schürze um, geht die Zutaten durch, kontrolliert, ob alles vorbereitet ist. Die Pfanne, der große Suppentopf, bereit eingeweiht zu werden. Tiefkühlbeutel in unterschiedlichen Größen, sie hasst Verschwendung. Sie nimmt das Messer, prüft ein letztes Mal die Schärfe und geht ins Badezimmer.
Sie hat sich Mühe gegeben. Der Tisch ist gedeckt, der Teller glänzt, das Besteck ist poliert. Die Leinenserviette steckt in einem gläsernen Serviettenring. Alles ist neu. Alles ist anders. Sie hat so lange gewartet.
Der erste Bissen kostet sie Überwindung. Das Fleisch ist zarter, als sie erwartet hat. Sie isst, bis sie satt und zufrieden ist. Und glücklich. Endlich ist sie glücklich. Sie hebt ihr Glas. »Auf dich!« -
Liebe Büchereulen,
ich möchte Euch hiermit meinen ersten Roman vorstellen. Viel Spaß beim Lesen!
Nicole MakarewiczTROPFENWEISE
Roman, April 2009, Seifert Verlag, WienDer Roman einer jungen Frau zwischen Todessehnsucht und Lebensmut
KLAPPENTEXT: Constance will sterben. Doch am Versuch zu sterben scheitert sie ebenso, wie sie am Leben zu scheitern droht. Ihr achtjähriger Sohn ist alles, was von ihrer Ehe geblieben ist. Seinetwegen nimmt sie den Kampf trotz allem auf, verliert sich aber je länger desto tiefer in Trauer und Wut. Ihr tyrannischer Vater und die egozentrische Mutter, gefangen in einer lieblosen Ehe, sind unfähig, ihr Halt zu geben, und so kämpft sie Tag für Tag mit sich selbst, mit ihren Dämonen. Nur Sebastian, selbst Vater einer kleinen Tochter, steht ihr zur Seite. Gemeinsam mit ihren Kindern verbringen Constance und Sebastian die Ferien in einem Haus am Meer. Ein Sommer, der alles verändert. Eine endgültige Entscheidung. Für das Leben?
VERLAGSTEXT: Aus dem Psychogramm eines zerstörten Lebens entwickelt die Autorin in diesem Erstlingsroman ein vielschichtiges Gewebe menschlicher Beziehungen im Spannungsfeld von Liebe und Liebesverlust, Trauer und Verantwortung für andere.
BIOGRAPHIE: 1976 in Wien geboren, studierte ich Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Psychologie. Seit 1994 als freie Journalistin und Redakteurin tätig. Veröffentlichungen in diversen Zeitschriften und Magazinen. Ich bin verheiratet und Mutter einer leiblichen und einer Adoptivtochter.
www.nicolemakarewicz.comLESEPROBE:
-PROLOG-
Ein Tropfen löst sich. Fällt zu Boden. Perfekt geformt. In Zeitlupe nähert er sich den weißen Fliesen. Trifft auf. Im Waschbecken eine Rasierklinge. Achtlos fallen gelassen. Sie hat ihren Zweck erfüllt.
Sie starrt auf ihr Handgelenk. Ungläubig erst, kann es nicht fassen und ist doch unendlich erleichtert. Es ist vorbei. Sie sieht das Blut, das Leben auslaufen. Tropfen für Tropfen. Weiße Fliesen, gesprenkelt, rot. Wie Blütenblätter einer Rose, samtig, satt, intensiv. Mit den Fingern zieht sie Kreise, malt mit ihrem Blut, bildet Wörter, schreibt, schreit innerlich. Getreten, zerschlagen das ist sie. Zerrissen, in Stücke gebrochen. Eine Erleichterung, den Schmerz endlich zu spüren.
Nichts ist mehr von Bedeutung. Es zählt nur der Moment. Vergangenheit, Gegenwart, keine Zukunft. Kein Morgen mehr, kein Später. Vergessen. Vielleicht. Und danach? Erlösung. Oder nichts. Leere, keine Antworten. Keine Fragen.
Als hätte ihr jemand einen Stoß versetzt, taumelt sie vorwärts, stützt sich am Rand des Waschbeckens ab. Sieht Schlieren auf weißem Porzellan. Im Spiegelbild Angst, Verzweiflung, Ratlosigkeit. Dunkle, fast schwarze Haarsträhnen, die stumpf und glanzlos ins Gesicht fallen. Die Augen geweitet, krampfhaft offengehalten. Zum Irrsinn nur ein kleiner Schritt. Sie erlaubt sich kein Zwinkern. Nicht nachgeben, keine Schwäche zugeben, nicht einmal sich selbst gegenüber.
Wut und Hass übermannen sie. Der Damm ist gebrochen. Sie tobt, wütet, schlägt um sich, schreit. Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich!
Endlich beginnen die Tränen zu fließen. Sie bricht zusammen. Auf den Boden gekauert, schlägt sie die Hände vors Gesicht, beginnt haltlos zu schluchzen. Ihr Körper bebt. Blut, Schweiß, Rotz und Tränen vermischen sich, besudeln T-Shirt, Jeans, den Boden. Kalt auswaschen, schießt es ihr durch den Kopf, Blut muss kalt ausgewaschen werden. Das Ende ist trivial. Ein Ruck durchläuft ihren Körper. Nicht so.
Ausgelaugt, benommen, wird sie ruhiger. Stunden später, so kommt es ihr vor. Die Zeit läuft langsamer und schneller zugleich. Bleibt stehen, springt vorwärts. Dehnt sich aus wie Kaugummi, der zu Fäden gezogen wird. Ein Riss in der Wahrnehmung. Wie spät?
Geschwächt vom Gefühlsaufruhr, vom Blutverlust benebelt, zieht sie sich hoch. Langsam. Mit letzter Kraft. Es ist unsagbar schwer, nicht aufzugeben. Sie wickelt ein Handtuch um ihr Handgelenk. Verbindet die Schnitte, stoppt die Blutung. Ein Geräusch. Schritte. Constance dreht sich um. Er sollte nicht hier sein. Und steht dennoch in der Tür. Enttäuscht. Die Trauer in seinen Augen trifft sie wie ein Schlag. Sie weicht zurück.
Er sieht sie an, fragt nicht, warum. Es gibt keine Antwort, und das weiß auch er. »Du hast es versprochen.« Keine Anklage. Er bittet. Er dreht sich um, klein und zerbrechlich. Verletzt. Seine Schritte verklingen, die Tränen beginnen wieder zu fließen. Tränen der Scham, der Reue.
-SECHZIG-
Luca saß vor dem Fernseher. Eine japanische Zeichentrickserie. Junkfood fürs Gehirn. Heute war Constance alles recht. Jede Ablenkung kam gelegen. Nicht nachdenken müssen. Nur nicht denken. Sie setzte sich zu ihm auf die Couch. Er hatte die Beine angezogen, die Arme darum geschlungen, das Kinn auf den Knien. Lautloses Schluchzen schüttelte seinen Körper, sein Gesicht war Tränen überströmt. Constance streckte den Arm aus, wollte ihn berühren, ihn an sich ziehen, den Schmerz wegstreicheln. Doch dann ließ sie die Hand sinken. Als ob das etwas änderte. Sie hatte ihm das Schlimmste angetan. Absolution konnte sie nicht erwarten.
Sie nahm eine Decke, legte sie ihrem Sohn um die Schultern. Zuerst wollte er sie abstreifen, wehrte sich gegen ihren Arm, schlug um sich. Dann war er nur noch acht Jahre alt und flüchtete vor der Wirklichkeit in die Arme seiner Mutter. Die ihn beschützen sollte, versagt hatte. Constance und Luca klammerten sich aneinander wie Ertrinkende.
»Es tut mir leid. Es tut mir so leid.« Die Lippen in sein Haar gepresst, wiederholte sie die Entschuldigung immer wieder. Ein Mantra der Schuld, um Vergebung flehend. »Bitte nicht weinen. Wein nicht, Mami.« Jetzt waren die Rollen vertauscht. »Es wird alles wieder gut.« Die Hoffnung eines Achtjährigen. Bescheiden und doch fast unerfüllbar. Verzweifelt wünschte sie, ihm all das ersparen zu können.
Irgendwann wurden die Pausen zwischen Lucas Schluchzern länger, sein Atem ruhiger. Er schlief ein. Constance hielt ihn im Arm, streichelte sein Haar, sein erhitztes, vom Weinen verschwollenes Gesicht. Er war alles für sie. Sie schwor sich, ihn nie mehr zu enttäuschen. Er musste ihr wieder vertrauen können. Seine seelischen Wunden würden heilen. Narben bleiben. Aber er würde darüber hinwegkommen, redete sie sich ein. Er war so erwachsen, viel zu reif für sein Alter. Doch was war mit ihr?
Sein Wimmern riss sie aus dem Schlaf. Sie benötigte einige Sekunden, die Orientierung wieder zu erlangen. Sie lagen auf der Couch. Luca war nass geschwitzt, hatte sich von der Decke freigestrampelt und dicht an sie gekuschelt. Er weinte im Schlaf. Das schlechte Gewissen schnürte ihr die Kehle zu. Sanft rüttelte sie ihn wach. »Komm, ich bring dich ins Bett.« »Darf ich bei dir bleiben?«, murmelte er
schlaftrunken. Er war todmüde. »Na klar.« Sie hob ihn hoch und brachte ihn in ihr Schlafzimmer. Als sie ihn ins Bett legte, schlief er bereits. Sie blieb stehen, sah ihn an und Liebe überwältigte sie. Sie wandte sich ab, verließ leise den Raum.
Das Badezimmer. Sie musste die Spuren ihres Wahnsinns beseitigen. Widerstrebend blieb sie vor der Türe stehen. Sie konnte da nicht wieder hinein. Wer kehrt freiwillig in die Hölle zurück? Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht. Davonlaufen. Darin war sie gut. Beinahe hätte sie sich heute – oder war es gestern? – davongestohlen. Was für ein Abgang. Theatralisch, egozentrisch, unfair.
Luca. Endlich überwand sie sich, öffnete die Tür. Das Licht zu grell, die Fließen zu weiß, das Blut zu rot. Nicht real. Eine Filmkulisse, nicht das Leben. Der Schauplatz eines Kampfes.
Müde begann sie zu putzen. Sie war erschöpft, verstört. Qualvoll, das eingetrocknete Blut abzukratzen, die verkrusteten Schlieren zu entfernen. Blut, überall Blut. Vergossen im Gefecht mit Dämonen, denen sie sich weder stellen noch ihnen trotzen konnte. Beinahe drei Stunden wischte, schabte, kratzte, schrubbte, putzte sie. Stunden, in denen sie das Geschehene in Gedanken wieder und wieder durchlebte. Stunden der Sühne, der Reinigung, der Buße. Sich selbst verzeihen? Unmöglich.
Erst als das Badezimmer aussah wie neu, fand sie ein wenig Erleichterung. Doch der Zwang zu reinigen, ließ nicht nach. Sie duschte. Wasser prasselte auf ihren Körper, so heiß, dass sie es kaum ertragen konnte. Unzählige Male seifte sie ihren Körper ein, schrubbte sich mit einer Bürste ab, versuchte, das Blut unter ihren Fingernägeln zu entfernen. Und entdeckte immer noch verbliebene Reste. Real oder eingebildet? Lady Macbeth. An ihren Händen klebte Blut. Blut, das sie vergossen hatte. Sie hatte versucht zu töten. Der Tod als Ausweg? Eine letzte, ultimative Wahlmöglichkeit. Für den, dem keine Wahl bleibt.
Wasserdampf erfüllte das Badezimmer. Es war drückend schwül. Der Spiegel völlig beschlagen. So musste sie sich wenigstens nicht in die Augen sehen. Sie zweifelte, dazu stark genug zu sein. Die besudelten Kleidungsstücke warf sie in den Müll. Unmöglich, die Vorstellung, sie je wieder zu tragen.
Noch lange lag sie wach. Neben ihrem Sohn, der sich unruhig herumwälzte. Erst im Morgengrauen fand sie Ruhe, ein leichter Schlaf, aus dem sie wieder und wieder hoch schreckte. Orientierungslos, angsterfüllt, leer.