Anmerkung zum Buch
Dystopien haben sich in letzter Zeit zu einem sehr beliebten Genre entwickelt – sowohl für Autoren als auch für die Leser. Sie sprießen aus dem Boden, eine nach der anderen, und halten für uns Konsumenten die unterschiedlichsten Zukunftsvisionen bereit. Auch die deutsche Autorin Andrea Schacht hat sich mit ihrem Reihen-Auftakt Kyria & Reb – Bis ans Ende der Welt in diese Gefilde begeben und damit für uns Leser eine Welt und Charaktere erschaffen, die vor allem eins sind: anders. Hier wird sich keinen Klischees bedient, die dem Leser bereits zigmal über den Weg gelaufen sind und auch dieses leise Gefühl, etwas schon einmal irgendwo anders gelesen zu haben, blieb für mich völlig aus. Doch wer nun glaubt, dass die Autorin dafür eine wahnsinnig komplexe und mit unendlich vielen und schwer zu erfassenden Details versehene Welt erschaffen hat, der irrt. Stattdessen hat man eher den Eindruck, Andrea Schacht hätte einfach hier ein bisschen an der Zeit gedreht und dort ein wenig was zusammengeschoben, um am Ende eine Zukunftsvision zu erhalten, die nicht nur glaubhaft, sondern auch gar nicht mal so unrealistisch ist.
Auf der einen Seite präsentiert sich uns diese Welt als Vereinigtes Europa, auch NuYu genannt, wo Fortschritt, Harmonie und Fürsorge im Zentrum der von Frauen regierten Gemeinschaft stehen, während die andere Seite, die der in Reservaten lebenden Menschen, unserer Zeit ein wenig hinterherhinkt, sich der steten Kontrolle entzieht und dafür in Kauf nimmt, auf die technischen und medizinischen Fortschritte NuYus verzichten zu müssen. Doch was sich im ersten Moment recht simpel oder, verglichen mit anderen Dystopien, vielleicht sogar auch etwas langweilig anhören mag, ist es in Wahrheit nicht, denn hinter diesem Grundgerüst steckt noch einiges mehr, als das oberflächlich betrachtete Konstrukt dieser Zukunftsvision zunächst erahnen lässt. So darf in einem solchen Buch natürlich auch die Seite nicht fehlen, die ihre weitläufigen Schatten über die so scheinbar gut strukturierte und friedliche Welt wirft. Stete Kontrolle unter dem Deckmantel der Fürsorge, gezielte Ausrottung der Unerwünschten Bürger durch Viren und Übergriffe, Ausnutzung von Macht, Schüren von Angst, Lügen und Intrigen sind es, die sich im Schutz der Schatten über die hier erschaffene Welt ziehen und das Grundgerüst zu einem runden Ganzen machen.
Highlight dieser Geschichte sind die einzigartigen und mehr als sympathischen Charaktere, denen der Leser auf den rund 380 Seiten über den Weg läuft und die sich mit ihren spritzigen und humorvollen Dialogen zu meinen absoluten Lieblingen gemausert haben. Mit Eindimensionalität und farblosen, scheinbar nur als Spielfiguren eingesetzten Charakteren wird sich hier nicht aufgehalten, nein, dem Leser werden Protagonisten präsentiert, die sich ungeniert ihren Launen und Frotzeleien hingeben, die Ecken und Kanten haben, sich auch mal selbst auf die Schippe nehmen können und eine erfrischende Natürlichkeit an den Tag legen. So haben wir hier die junge Electi Kyria, die ein stets privilegiertes und wohl behütetes Leben geführt hat, die es gewöhnt ist, in einer Welt zu leben, in der Männer nichts zu sagen und nur eine Rolle als Spaßobjekt oder Handlanger inne haben. Doch Kyrias Leben ändert sich abrupt, als der "uncharmante Lümmel" Reb in ihr Leben tritt und unmissverständlich klar macht, dass er kein Erbarmen mit "Elitezicken" hat und er Kannnicht und Willnicht nicht gelten lässt. Für Kyria bedeutet es allerdings eine gewaltige Umstellung, sich von einem Mann etwas sagen zu lassen und dazu auch noch von einem solch ungehobelten Exemplar, was für witzige und erfrischende Wortgefechte zwischen den beiden sorgt. Doch nicht nur der Schlagabtausch zwischen den Hauptcharakteren sorgt für Schmunzler und Lacher, sondern auch Kyrias Beschreibungen ihrer Umgebung. So wird zum Beispiel der bevorstehende Ritt auf einem Pferd oder die Fahrt auf einem Zweirad mit Kindersarg nicht nur zu einem Abenteuer für unsere Helden, sondern reihen sich auch in die Liste der witzigsten Szenen dieser Geschichte ein. Bei all dem Pfeffer, den die Autorin diesem Buch gegeben hat, vergisst sie jedoch nicht auch die Charaktere mit dem nötigen Ernst zu versorgen. So haben sowohl Kyria als auch Reb neben ihren Unterschieden doch eins gemeinsam: ein Päckchen, welches nur schwer zu schultern ist und tiefe Wunden hinterlassen hat. Während Kyria bereits als Kind erfahren musste, dass sie an einem Gendefekt leidet und fortan mit der ständigen Angst lebte, ihre Krankheit könne jeden Moment ausbrechen und ihr Leben fordern, hat Reb auf der anderen Seite schon früh erfahren, was es heißt, ungewollt zu sein, verlassen und verstoßen zu werden, was ihn schlussendlich sowohl hart als auch verschlossen werden ließ. Diese Erfahrungen sind es, die den beiden eine gewisse Tiefe verleihen, sie Dinge hinterfragen und Ziele setzen lässt. Als sehr erfrischend empfand ich beim Lesen besonders die Tatsache, dass es sich hier nicht um ein Buch handelt, in dem sich Männlein und Weiblein über den Weg laufen und bereits nach Sekunden unsterblich in einander verliebt sind. Liebe auf den ersten Blick ist einfach nicht Kyrias und Rebs Ding und so findet der Leser hier auch keine sich über mehr als die Hälfte des Buches erstreckende Liebesgeschichte, sondern wirklich eine Entwicklung.
Junora Kyria hat jedoch nicht nur die Rolle der weiblichen Hauptcharakterin inne, sondern auch die der Erzählerin. Dabei bedient sie sich einer Sprache, die modern und locker ist, in der sich hier und da das Vereinigte Europa herauskristallisiert und manchmal ein wenig abgehakt wirken kann, doch gerade dadurch wieder einen gewissen Charme und Witz verliehen bekommt, den ich nur ungern hätte missen wollen.
Aufgeteilt ist das Buch in zwei Teile, die sich auf der einen Seite aus der Begegnung der beiden Hauptcharaktere und ihrer Flucht zusammensetzt und auf der anderen Seite durch Kyrias Aufenthalt im Reservat bei ihrer Freundin Hazel. Zum schnelleren Einfinden in die Handlung gibt auf den ersten Seiten des Buches ein kleines Namensregister, welches die wichtigsten Charaktere und ihre Funktion innerhalb der Geschichte auflistet.
Fazit
Die wohldosierte Mischung aus Lügen, Intrigen, Witz und herrlich erfrischenden Charakteren haben nicht nur für jede Menge Lesevergnügen gesorgt, sondern Kyria & Reb. Bis ans Ende der Welt für mich zu einem Highlight gemacht, dessen Fortsetzung ich nur schwer erwarten kann. Nicht zuletzt, weil dieser erste Band mich mit einem kleinen Cliffhanger und einigen offenen Fragen zurückgelassen hat, die meine Geduld auf eine harte Probe stellen und ich hoffe sehr, dass ich nicht, wie befürchtet, ein volles Jahr darauf warten muss zu erfahren, wie es mit Kyria & Reb weitergeht!