Beiträge von dbhellmann

    Wir haben das weitergeguckt, denn wir sind ja alle schon "gross". Ich persönlich habe auch weniger Probleme mit dem Sex als vielmehr mit der Gewalt. Ich kann und will mir nicht ansehen, wie Augen ausgestochen und Finger mit Zangen abgeknipst werden. Auf Pilcher stehe ich allerdings ebenso wenig. Hält sich echt die Waage.

    Auch im Feld der Psychiatrie geht es in den USA ganz anders zu als in Europa. Die Stationen sind strikt unterteilt. In dem Sicherheitstrakt, in dem mein "Jean" jetzt untergebracht ist, befinden sich ausnahmslos Drogensüchtige, die abhängig sind von einer illegalen Substanz, also keine Alkoholiker.
    Der Gesetzgeber erlaubt den Krankenhäusern nur eine dreitägige Zwangseinweisung. Danach muß der Patient einer weiteren stationären Behandlung zustimmen, und zwar nicht nur vor einem Arzt, sondern auch vor einem vom Gericht geschickten Richter und einem Patientenanwalt. Diese persönliche Zustimmung gilt für nicht länger als zehn Tage am Stück, dann gibt es einen neuen Gerichtstermin. Und wer das jetzt liest, wird sich vielleicht an Britney Spears erinnern, daran, wie häufig sie vor Gericht erscheinen mußte, bis man einen für alle Teile zufriedenstellenden Modus Operandi gefunden hatte.

    Ich komme gerade von einem Besuch bei meinem Freund und werde meinem Mann jetzt gleich sein Lieblingsessen kochen. Ich war nämlich gerade erstmals auf der Station, auf der er seit vielen Jahren täglich zu tun hat, und habe dadurch einen aktuten Anfall von Gattenrespekt, dem ich mich jetzt sofort ergeben werde. Tja, so sieht er also von innen aus, der Sicherheitstrakt der geschlossenen Psychiatrie ... das war ein Erlebnis, davon werde ich mich so schnell nicht erholen. Vielleicht hilft das Kochen.

    Nun, was uns die Geschichte vor allem verrät, ist natürlich, warum akut Drogenabhängige so häufig schwere Verbrechen begehen. Mein Freund war, als er bei uns anrief, dermaßen auf "withdrawal", dass er alles tat, was man ihm sagte. Glücklicherweise wurde ihm in dieser Situation gesagt, in den ER zu gehen und dort zu behaupten, er habe Schmerzen, und dann würde er seine Pillen bekommen. Darüber hat er in seiner Lage nicht weiter nachgedacht, es einfach getan. Man stelle sich vor, er hätte jemand anderen kontaktiert, und der hätte ihm geraten, zur Apotheke X zu gehen, den Apotheker niederzuschlagen und sich sein Zeug aus dem Giftschrank zu holen.

    Ich gebe zu kund und zu wissen, dass mein Freund "Jean" gestern wahrhaft Meisterhaftes geleistet hat. (Gottes Wege sind häufig unergründlich, führen aber immer zum Ziel!) Er rief uns gestern Abend an, weil er von meinem Mann ein Rezept für Oxycontin haben wollte. Und mein Mann hat wohl irgend etwas gewittert und ihm vorgeschlagen, doch zur Notaufnahme ins Krankenhaus zu gehen und da um ein Rezept zu bitten. Und et Jean war so zu, dass er das gemacht hat!!!


    Mit anderen Worten: Er ist jetzt sicher und geborgen in der geschlossenen Psychiatrie im Entzug, und heute Nachmittag durfte er uns kurz anrufen. Eigentlich ist er froh, dass jetzt alles so gekommen ist, hat er gesagt. Nur wieso das so gekommen ist, kriegt er noch nicht so richtig auf die Reihe. Die wären wahnsinnig nett zu ihm gewesen, hat er gesagt. Die hätten ihn mit den Worten begrüßt: "Wir haben schon auf Sie gewartet."

    Es ist nach meinem persönlichen Empfinden weniger der Glaube, der Menschen wie "Alicia Collum" bei der Stange des Lebens hält, als vielmehr Angst. Angst davor, dass sie, wenn sie sich das Leben nehmen, damit die Chance verlieren, im Jenseits mit ihren Lieben wiedervereinigt zu werden. Dabei fürchten sie sich nicht so sehr vor einer christlichen Hölle, denn sie erleben ihr derzeitiges Leben als solche, sondern sie fürchten sich vor der Möglichkeit einer Reinkarnation für Selbstmörder. Dass sie dann alles noch mal machen müssen, weil sie es diesmal hier nicht aushalten konnten.


    Da ihnen niemand versichern kann, dass das nicht passieren wird, erscheint das Aushalten die auf Dauer erträglichere Entscheidung. Und die Hoffnung, dass es bis zu ihrem eigenen Ende nicht mehr so lange hin ist.

    Wir erfahren bei meiner Arbeit im Trauma-Center fast nie, was aus den Angehörigen wird, denen wir in einer so schwierigen Situation ihres Lebens begegnen. Manchmal treffen wir sie bei den Celebrations of Life wieder, und was aus der Frau geworden ist, die im Buch Alicia Collum heißt, weiß ich deshalb.
    Sie war nach dem Verlust ihrer Familie geraume Zeit in der geschlossenen Psychiatrie auf Suicíde Watch. Anschließend haben Freunde sich ihrer angenommen, doch war es unmöglich, sie in irgend einer Weise in irgend etwas einzubinden. Und dann hat sie eines Tages vor dem Fernseher gesessen.


    Es gibt hier bei uns die Oprah-Winfrey-Show, eine tägliche Talkshow mit enormen Einschaltquoten. In einer Sendung hat Oprah eine Frau vorgestellt, der Unfassbares passiert war. Sie ist eine Tierärztin, die aus erster Ehe vier Kinder hatte, das älteste 17, das Jüngste 5 oder 6. In zweiter Ehe heiratete sie einen Polizisten, doch ging das schon nach wenigen Monaten schief, und sie trennten sich wieder. Das war bereits geraume Zeit her, und es gab keinen Grund für die Frau, sich vor irgend etwas zu fürchten, schon gar nicht vor ihrem zweiten Ex-Mann.
    Sie ging jeden Morgen um halb sieben für zwanzig Minuten mit ihrem Hund spazieren. Als sie einen Morgen nach Hause kam, war ihr zweiter Ex-Mann innerhalb dieser zwanzig Minuten in ihr Haus eingedrungen und hatte ihre vier Kinder und dann sich selbst getötet. Er war geisteskrank, manisch-depressiv.


    In der Sendung erzählte die Frau Dr.vet., dass sie einen festen Termin hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen, und sie nichts und niemand davon würde abhalten können. Durch die Sendung erhielt sie massenhaft Zuschriften von Menschen, die Ähnliches mitgemacht hatten, unter anderem die Zuschrift von der Frau, die im Buch Alicia Collum heißt.


    Heute betreiben diese und eine Reihe anderer Frauen eine Selbsthilfegruppe für Menschen, denen durch Unfälle, Verbrechen oder Naturkatastrophen solche Verluste widerfahren. Ihre Philosophie ist es, die verbleibende Lebenszeit als eine bittere Pflicht in den Dienst anderer zu stellen, weil es einen Grund gehabt haben muss, dass sie übriggeblieben sind. Leben als nackte Aufgabe.

    Die Vorstellung und die Realität von Hospiz-Arbeit sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Nur die wenigsten Patienten möchten in dieser letzten Phase ihres Lebens Philosophie oder Religion diskutieren oder den vermeintlichen Weg, den ihre Energie vielleicht, sofern es sie überhaupt gibt, bla-bla ... Die meisten Patienten müssen furzen und können nicht, müssen scheißen und können nicht, haben einen trockenen Mund, bringen aber nichts herunter, sind genervt von Kuebler-Ross-Zitaten und Gedichtbänden, die sich auf ihrem Nachttisch häufen. Die Trennung von Körper und Seele ist eine anstrengende und wenig appetitliche Sache. Die Tür öffnet sich manchmal vorab und erlaubt einen Blick, aber dann kommt der nächste Furz, oder es kommt die Angst, oder es kommt gar die Nachbarin, die gehört hat, dass die Indianer bei ihren Sterbenden immer trommeln und das soll beruhigend wirken.
    Ich habe bei meiner Hospizarbeit vornehmlich Endbetreuung gemacht. Ich war für viele der letzte neue Mensch, den sie in ihrem Leben kennenlernten, und das habe ich meist offen so gesagt, wenn wir einander begegneten. Meine Aufgabe war es, mit purer Anwesenheit dafür zu sorgen, dass sie nicht allein waren in dieser letzten Phase, und nichts zu unternehmen, wenn akute Lebensgefahr eintrat, lediglich zu versuchen, sie dabei zu beruhigen, soweit man das überhaupt kann.
    Erfolgreich ist man gewesen, wenn der Patient tot ist. A job well done. "Wrap & Die" nannten wir das untereinander.

    Im Augenblick weiß er gar nichts mehr. Sein Gehirn ist total dicht. Er war auf einer Drogentour die letzten sechs Monate, hat neben Kokain auch Oxycontin genommen, Aderol gerschnupft, Crystal Meth gespritzt, Poppers eingeworfen - er erzählt das meinem Mann immer ganz genau, weil er weiß, dass der sich mit den Medikamenten auskennt. Er meint, deshalb würde mein Mann auch verstehen, wie TOLL das Zeug ist und dass man doch unmöglich davon lassen kann, weil es halt so toll ist.

    Das "Mitleid", das die Jodie im Buch Charlotte gegenüber an den Tag legt, kennen viele Menschen, denen ein großer Verlust widerfahren ist.
    Ich habe hier in Los Angeles eine sehr liebe Freundin, die ich seit vielen Jahren kenne. Sie macht jede Beerdigung zu einem Spektakel. Gleichgültig, wer stirbt, sie wird bei den Feierlichkeiten dermaßen die Fassung verlieren, dass man meinen möchte, sie sei die Hauptleidtragende.
    Dieser Jammer, den sie da an den Tag legt, ist echt. Der kommt bei ihr von tief drinnen. Sie hat nie den Tod ihrer Mutter verkraftet, hat Todesangst davor, weitere Verluste in ihrem Leben erleiden zu müssen und vermeidet gezielt, sich mit diesem Gemisch aus Trauer und Angst auseinanderzusetzen. Im Alltag klappt das großartig. Aber wehe, es stirbt einer!
    Das Problem ist, dass man diejenigen, die in einer Stunde Null tatsächlich einen Verlust erlitten haben, in diesem Moment vor dieser Frau schützen muss. Sie fühlen sich beim Anblick von so viel Mega-Trauer für einen "Bekannten" wie gefühllose Klötze. Das "Klageweib" muß gestützt und mit Wasser versorgt werden, während der Witwer oder die Witwe mit leeren Augen fragt, wie man denn hier jetzt an Wasser kommt. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man glatt darüber lachen.

    Es ist der "Jean" aus "Ich fang noch mal zu leben an". Damals hat er mir in den Entzug und durch die erste Zeit danach geholfen, heute - zur Stunde - irrt er obdachlos durch Los Angeles und ruft jeden Abend hier an, weil er bei uns übernachten oder wenigstens ein paar hundert Dollar will, um irgendwo zu übernachten.
    Mein Mann hat so etwas ausgestellt, was einer deutschen Einweisung ins Krankenhaus entspricht, und ich habe ein Bett beschafft für eine medizinische Detox. Dahin bringen wir ihn jederzeit, er braucht bloss unten beim Sicherheitsdienst Bescheid zu sagen und wir fahren ihn hin. Davon will er aber noch nichts hören. Er erklärt mir mit ernster Miene, er könne unmöglich in die Klinik gehen, denn dort würden sie ihm die Drogen wegnehmen, das würde ich einfach nicht kapieren ...

    Das ist sehr nett von Ihnen, dass Sie verstehen, wie schwierig und gefährlich das auch ist, zu so etwas Stellung zu beziehen. Durch das, was Sie hier jetzt schreiben, verstärkt sich das Gefühl bei mir, dass Sie es mit einer Suchtkrankheit und vermutlich mit Kokain zu tun haben. Diese Droge macht extrem wach und aufnahmefähig, der Energiefluss ist erschreckend.


    Für mich persönlich ist es eine der unfassbarsten Suchterkrankungen überhaupt, denn ich selbst bin ja eine trockengelegte Alkoholikerin, und Alkohol gehört zu den "Downers". Nach dreizehneinhalb Jahren trockenem Leben habe ich immer noch Verständnis dafür, dass ein Mensch, der im Stress und im Gegensatz zu mir nicht suchtkrank ist, einen Schnaps will, ein Valium oder eine Schlaftablette. Mir vorsätzlich etwas in den Bauch oder gar in die Nase zu tun, was mich noch agiler macht, als ich es ohnehin schon immer bin, ist mir DIE Horrorvision schlechthin. Aber wir sind halt alle Unikate, auch auf diesem Gebiet.

    Ich verstehe, dass die "mechanische Art", mit der wir unsere Arbeit verrichten, sehr schwer nachzuempfinden ist. Doch ist es schlichtweg so, dass ich es in meinem Arbeitsfeld IMMER mit entsetzlichen Tragödien zu tun habe. Ein Kind sitzt arglos im Wohnzimmer vor dem Computer und wird von einer Kugel getroffen, die ein Junkie aus einem fahrenden Auto schießt - grundlos. Eine Mutter will eben noch Milch im Supermarkt kaufen und wird frontal von einem LKW erwischt, weil der Fahrer sie einfach nicht gesehen hat.
    Die Gefühle der Angehörigen sind dermaßen überwältigend, dass man sich ihnen nicht aussetzen KANN. Würde man das tun, ginge man in der Zimmerecke in die Knie mit beiden Händen über dem Kopf. Da werden Laute ausgestoßen, die schwerlich zu beschreiben sind. Da ist eine von Schmerz und Grauen erfüllte Energie im Raum, die im schlimmsten aller Fälle zu Selbstzerstörung oder Gewaltausübung führen kann.
    Immer wieder müssen wir Kurse besuchen, in denen immer wieder das gleiche gelehrt wird: Sich niemals von den Gefühlen der Angehörigen berühren zu lassen, damit wir ihre Gefühle in eine konstruktive, für alle Teile ungefährliche Richtung lenken können.

    Wenn Ihr Bekannter Symptome aufweist wie die Jodie im Buch und daneben häufig eine "zue" Nase hat, sollten Sie für sich selbst die Möglichkeit ins Auge fassen, dass Sie es hier mit einer Kokain-Abhängigkeit zu tun haben.
    Kokain verursacht diese dichte Nase. Deshalb behaupten die meisten Patienten, Allergiker zu sein, denn die Symptome sind haargenau die gleichen. Sie nehmen ihre Nasentropfen, und vielfach ist die Droge untergemischt.


    Leider Gottes kenne ich mich damit recht gut aus, denn einer meiner besten Freunde ist seit über zwanzig Jahren kokainabhängig und schafft es immer nur, ein paar Monate clean zu bleiben. Dann geht alles von vorn los.
    Würden Sie ihn kennenlernen, kämen Sie niemals darauf. Er ißt ausschließlich organisch angebaute Lebensmittel. Er verachtet und haßt das Rauchen. Er trinkt keinen Schluck Alkohol. Er ist stockschwul und hat einen Körper wie gemeißelt, weil er täglich stundenlang im Fitness-Center herumturnt. Er ist hier in Los Angeles ein sehr erfolgreicher Friseur und verdient damit eine Stange Geld, die er allerdings auch braucht, denn Kokain ist eine teure Droge.
    Auch mein Freund hat Probleme mit der Haut, vor allem, wenn er zusätzlich wieder mal Steroide nimmt. Die geben auch einen Kick, ebenso wie Kokain, verursachen vor allem, dass die Kranken sehr schnell in Rage geraten.


    Diese Drogen fallen in die Kategorie der "Uppers". Solange sie zur Verfügung stehen, fühlen sich die Betroffenen fähig, aktiv und gut. Erst wenn ein "Versorgungsengpaß" eintritt, entstehen heftige Depressionen, die zumeist vor Freunden und Familie mit Kranksein getarnt werden. Da Kokainabhängige auf Entzug Symptome aufweisen, die einem Laien wie eine schwere Erkältung vorkommen, kommen sie damit auch lange gut durch.

    Nicht Mitleid und Mitleid sind zwei verschiedene Dinge, sondern Mitleid und Mitgefühl. Im Privatleben, als Privatperson kann auch ich oft nicht umhin, Mitleid zu empfinden. Wenn jemand stirbt, den ich liebe, leide ich mit den nächsten Angehörigen, und bin damit eine enge Freundin, aber keine Hilfe mehr. Denn echtes Mitleid ist ja eigenes Leid und macht handlungsunfähig.
    Mitgefühl ist etwas Anderes. Man akzeptiert mit innerer Distanz den Verlust des Gegenübers und wird für ihn handlungsfähig, weil er dazu im Moment nicht in der Lage ist.

    Amerikaner empfinden das nicht so, denn sie haben unter anderem eine völlig andere Einstellung zur Arbeit. Ich erlebe das gerade im Moment sehr deutlich, weil ich neben meiner Schreiberei eine Übersetzeragentur betreibe. Wenn ich da am Freitag eine Anfrage bekomme und deutsche Übersetzer anspreche, bekomme ich prompt zur Antwort, dass ja jetzt gleich Wochenende ist und sie das, wenn überhaupt, nur mit 200% Aufschlag machen können. Frage ich daraufhin US-Übersetzer, ob sie bereit wären, den Text am Samstag und Sonntag zu bearbeiten, meinen die "Warum nicht?" Und machen es - ohne Aufschlag.
    So positiv das für den Arbeitgeber auch ist, so sind die gesellschaftspolitischen Aspekte hinter dieser Realität doch ganz und gar nicht heiter. Europäer arbeiten um zu leben. Amerikaner identifizieren sich durch ihre Arbeit. Freizeit wird vornehmlich dazu genutzt, an anderen Dingen zu arbeiten, i.e., was Ehrenamtliches zu tun, am Haus rumzuwerkeln, damit man es in Bälde für mehr Geld weiterverkaufen kann, als man selbst gezahlt hat. Urlaub sollte nicht länger als fünf Tage am Stück dauern, sonst übertreibt man es. Und wenn man zehn Tage frei macht, muß man mindestens auf eine Europareise gehen nach dem schönen alten Prinzip: "Ist heut Montag, dann ist dies London, ist heut Dienstag, ist es Paris."