Marc Ritter: Kreuzzug
(Droemer Verlag, München 2012)
Es passiert immer noch recht selten, dass ein deutscher Thriller sich eines überlebensgroßen Themas annimmt, dessen Wucht über regionale Konsequenzen hinausgeht und ein Szenario entwirft, das sowohl erschreckend aktuell als auch episch in seinen Ausmaßen ist. Im (vor allem) englischsprachigen Ausland sind solche Stoffe, ob in Literatur oder Film, schon an der Tagesordnung, seit Bruce Willis sich in DIE HARD im weißen Unterhemd durch die Etagen eines von Terroristen besetzten Wolkenkratzers drosch, aber hierzulande ist realistische Bodenständigkeit tatsächlich noch eines der verbreitetsten Merkmale eines Thrillers. Vor zwei Jahren begann dann der Erfolg von Christoph Scholders OKTOBERFEST den Weg für moderne High-Concept-Kracher zu ebnen, und mit seiner vergleichbaren Ausgangssituation (Terroristen bringen Tausende von Menschen an einem weltbekannten Touristenziel in ihrer Gewalt) muss sich nun auch Marc Ritters KREUZZUG sowohl an seinem Wegbereiter als auch an den internationalen Vorbildern messen lassen.
Nun war OKTOBERFEST zwar ein erster mutiger Schritt für die neue deutsche Spannungsliteratur, nur leider kein allzu gutes Buch. Scholder verhedderte sich in dem Versuch, Realismus mit Spannung zu paaren, in seiner eigenen Unschlüssigkeit, wagte dann doch nur wenig und lieferte einen zwar ausführlich recherchierten, aber dennoch seltsam blassen Reißbrett-Thriller ab, dessen Erfolg wohl mehr seiner unfassbaren Prämisse als tatsächlicher Erzählkunst zu verdanken ist. Es blieb ein schaler Nachgeschmack und jede Menge Raum für Verbesserungen. Wie schlägt sich jetzt also der KREUZZUG in diesem Kontext?
5000 Ausflügler hängen an diesem 6. Januar plötzlich auf dem Gipfel der Zugspitze fest, nachdem Terroristen zuerst die Zugspitzbahn im gesprengten Tunnel festsetzen und später ihrer Skrupellosigkeit mit dem opferreich inszenierten Absturz einer Seilbahn Nachdruck verleihen. Die Lage ist also ernst. Niemand kommt mehr rauf oder runter vom Berg. Und die Attentäter scheinen zu allem entschlossene islamische Gotteskrieger zu sein - doch weder sie noch die eiligst einberufenen Krisenstäbe der Regierung rechnen (laut Klappentext) "mit Thien Hung Baumgartner, der den Berg wie seine Westentasche kennt".
Um es gleich vorwegzunehmen: Thien Hung Baumgartner, der Partenkirchener Sportfotograf mit vietnamesischem Hintergrund, mutiert nicht zum deutschen Bruce Willis. Mit dieser Formulierung leistet Droemer dem Autoren leider einen Bärendienst, denn KREUZZUG ist eben beileibe nicht die One-Man-Action-Show, die der reißerische Teaser verspricht, sondern (ähnlich wie auch schon der größte Teil von OKTOBERFEST) die mehr oder weniger realistische Simulation eines Katastrophenszenarios und der logistischen wie emotionalen Herausforderungen aller darin involvierten Parteien.
Darin liegt auch der große Haken: Natürlich ist die Schilderung dieser Handlungsabläufe in einer Story von derart selbstauferlegter epischer Größe notwendig, doch wie alle großen Geschichten erfordert die unerhörte Katastrophe eine menschliche, individuellere Dimension, um die Tragödie rund um den Berg überhaupt fassbar zu machen - durch die Augen eines oder mehrerer Protagonisten, die sich im Angesicht dieser Herausforderung entwickeln und über sich hinauswachsen. Hier scheitert KREUZZUG an seiner eigenen Ambition. Sein selbsternannter Held Thien Hung Baumgartner bleibt durch die Situation bis kurz vor Schluss zur Untätigkeit verdammt, um dann durch einen kleinen Alibiplot seine Berechtigung in der Geschichte zu erlangen, während der Rest des viel zu großen Figurenensembles an viel zu vielen Nebenkriegsschauplätzen seiner Wirkung beraubt wird.
Neben Thien Hung führt Marc Ritter zwei weitere Hauptprotagonisten ein, die in den Fortgang der Handlung verstrickt werden: Thiens ehemalige Freundin Sandra Thaler und ihren derzeitigen "Neuen" Markus Denninger, seines Zeichens Gruppenführer bei den Gebirgsjägern. Dieses an sich konfliktreiche Beziehungsdreieck wird jedoch in der laufenden Geschichte außer Acht gelassen, als jede einzelne dieser Personen auf ihr eigenes kleines Abenteuer geschickt wird, ohne dass sich ihre Wege erneut kreuzen. Sandras Rolle ist dabei noch kleiner als die von Denninger, der durch seine Profession wenigstens bei einigen Aktionen in vorderster Front dabei ist und entscheidend eingreifen darf. Leider entscheidet sich Marc Ritter um des Realismus Willen gegen den Typus des klassischen Allround-Helden und muss sein Figurenkarussell aus Perspektivgründen mit immer neuen Charakteren bestücken, die nach Erfüllung dieser Aufgabe dann vorübergehend oder endgültig auf's Abstellgleis verschoben werden. Für den Leser gilt es dann, bei all den Ereignissen (die teilweise auch noch durch Rückblicke für Motivnachschub sorgen müssen) nicht den Überblick zu verlieren.
KREUZZUG hält nur mühsam die Balance zwischen den einzelnen Perspektiven. Freizügig versorgt Marc Ritter den Leser mit Informationen und muss dazu jede einzelne Entscheiderposition in der Geschichte bemühen: Wir begleiten die Terroristen bei der Planung ihres Anschlags, wir stehen einem amerikanischen CIA-Agenten bei einem etwas undurchsichtigen Überwachungsauftrag zur Seite und lernen in kurzen Einschüben auch seinen Chef kennen. Nebenher kehren wir wieder zu unseren Helden zurück, folgen dann der Verhandlungsführerin der Bundesregierung oder den eitlen Eskapaden des Verteidigungsministers, widmen uns den Sorgen des Betriebsleiters der Zugspitzbahn und spielen Mäuschen bei den Treffen des Krisenstabes - in 151 Kapiteln von jeweils nur wenigen Seiten Länge bleibt kaum Raum für weiterführende Spekulationen, weil man in rasantem Tempo die Schauplätze wechselt. Da ist wenig Zeit zum Nachdenken über Motive und Logik, aber eben auch sehr wenig Grund, den rasch durchgehechelten Charakteren weiterhin die Stange zu halten.
Von Beginn an schlägt Marc Ritter auch eine Saite an, deren Existenz im postmodernen Thriller geradezu eine Notwendigkeit zu sein scheint - seine Entscheidungsträger in Politik, Militär und Medien bestätigen das tiefe Misstrauen, das ihnen die Bevölkerung entgegenbringt und spielen (oftmals plakativ) nach ihren eigenen Regeln. Natürlich hat hier der amerikanische Geheimdienst Dreck am Stecken, natürlich interessiert die Politiker die Tragweite ihres Handelns nur soweit es ihrem Bild in der Öffentlichkeit und etwaigen parteipolitischen Interessen zuträglich ist, und natürlich besteht der schmierige Medienzirkus, der die Berichterstattung rund um die Großtragödie übernimmt, aus überzeichneten Berufszynikern, die ihre eigene Mutter für fünfzehn Sekunden Ruhm verkaufen würden. Das erscheint in KREUZZUG manchmal ein wenig zu bequem, denn natürlich lassen sich Emotionen im Leser schneller wecken, wenn man Klischees und Vorurteile einfach bestätigt statt sie ironisch zu brechen - und genau diese Ironie fehlt. Auch wenn es seltsam klingt, ist es Marc Ritter mit seinem Sarkasmus bierernst; KREUZZUG gestaltet unverdrossen die meisten seiner politischen Figuren sehr nah an realen Vorbildern und betritt damit gefährliches Glatteis. Ritters Verteidigungsminister Philipp von Brunnstein etwa trägt nicht nur einige Züge des wirklichen Ex-Verteidigungsministers Karl-Theodor von Guttenberg, sondern er IST von Guttenberg oder zumindest das literarische Abbild seiner medialen Präsenz. Hier fällt es schwer zu entscheiden, ob es dem Autor ein Anliegen ist, dass man als Leser die Romanfigur ernst nimmt oder ob hier einfach eine Figur verfeuert wird, um das Klischee des eitlen Politclowns gehörig abzuwatschen. Konsequenterweise schickt Ritter die beiden übertriebensten Politikerkarikaturen nach einem Drittel des Buches auf den Berg und setzt sie dort fest - sie haben mit der stellvertretenden Demontage aller politischen Entscheidungsträger ihre narrative Funktion erfüllt und tauchen ab sofort nur noch in ein paar Nebensätzen auf.
Sowieso wird der Humor in KREUZZUG oft mit einem gewollt-flapsigen Umgangston verwechselt, dessen Timing ein wenig mehr Subtilität vertragen hätte. Ein Witze reißender Krisenstab mag unkonventionell erscheinen, aber spätestens wenn Kanzlerin und Berater über den "Quatsch Comedy Club" und Kreditkarten im Media Markt parlieren oder der zufällig gleichzeitig stattfindende Australienurlaub zweier (männlicher) Politiker mit einem juvenil-anzüglichen "Oh la la!" kommentiert wird, schießt Marc Ritter übers Ziel hinaus, da den Dialogen in diesen Szenen einfach ein Gespür für punktgenaue Pointen fehlt. Hier hätte etwas Feinschliff gutgetan.
Unabhängig davon, ob sich der Leser vom vorliegenden Thriller nun realistische Antiterroreinsätze oder eher eskapistische Einzelkämpferaction erwartet - ist KREUZZUG ein gutes Buch geworden? Die Antwort darauf ist ähnlich ambivalent wie der Roman selbst: Jein.
KREUZZUG ist einer der Fälle, bei denen man schon dankbar ist, dass Büchern wie diesem überhaupt eine Chance in der deutschen Verlagslandschaft eingeräumt wird; noch vor wenigen Jahren hätte man überlebensgroßer High-Concept-Spannungsliteratur von internationalem Format hierzulande wenig zugetraut. Und Marc Ritter macht auch eine Menge richtig, angefangen vom faszinierenden Thema selbst bis hin zu den blitzsauber und detailliert recherchierten Hintergründen. Mit dem betriebenen Aufwand und dem stimmigen Konzept hat er seine willigen Leser schon im Kasten, bevor sie das Buch überhaupt begonnen haben; das können nur wenige Autoren von sich behaupten.
So weit, so gut ... leider aber begeht Ritter den Fehler, die Story selbst zu seiner zentralen Hauptfigur zu machen und die menschlichen Protagonisten in den Dienst dieser Geschichte zu stellen. Jeder Charakter hat hier eine Funktion, muss in der Handlung und beim Publikum die jeweiligen emotionalen Knöpfchen drücken und wird dann bis zum nächsten Gebrauch ins Kistchen zurückgelegt. Das führt dazu, dass man als Leser irgendwann die im Ideallfall unsichtbare Struktur, die einen Plot magisch zusammenhält, auch als solche wahrnimmt und sich damit automatisch stärker vom Geschehen distanziert. Hinzu kommt, dass Ritter bei weitem nicht genügend Personen an strategisch entscheidenden Positionen seiner Geschichte platzieren kann und so auch die behauptete Bedrohung seltsam vage bleibt: Die in Geiselhaft befindlichen Zugpassagiere sind zuerst ein zentrales Motiv, das mit einer einzigen Aktion dann jedoch in Bedeutungslosigkeit versinkt, weil es nicht mehr benötigt wird. Die 5000 zusätzlichen Geiseln auf dem Berg sind andererseits nur indirekt in ihrer augenblicklichen Situation gefangene Statisten, auf deren Befindlichkeit meist in wenigen Nebensätzen verwiesen wird, wenn es dem Fortgang der Handlung dienlich ist - folgerichtig verliert Ritter sie gegen Ende dann auch fast komplett aus dem Fokus.
Als zentraler Kern der Geschichte entpuppt sich dann letztlich nicht das klassische Thriller-Sujet vom Kampf des Einzelnen gegen übermächtige Feinde, sondern die Einzelheiten des großen Plans der Terroristen und die Rolle des militärisch-industriellen Komplexes in diesen Ereignissen - allen voran der amerikanische Geheimdienst und die politische Elite dieser Welt. Diese verführerisch chaotischen Verflechtungen als Teil der Struktur von KREUZZUG zu übernehmen, ist tatsächlich legitim, wird dem Roman als ganzheitliches Unterhaltungsprodukt allerdings nicht vollständig gerecht.
Letztendlich muss der Leser entscheiden, ob die Strategie aufgeht - für Marc Ritter jedenfalls, soviel dürfte sicher sein, ist KREUZZUG trotz aller Mängel ein weiterer Schritt in eine hoffentlich vielversprechende Karriere als deutscher Vorzeigeautor für die internationale Thrillerszene.
Danke, Marc, für die Begleitung der Leserunde.