Beiträge von Lipperin

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    Original von Lese-rina
    Für mich sucht sie also in erster Linie ihre Heimat, das Gefühl von Zuhausesein, Angekommensein.


    Ja, so unterschiedlich sind die Menschen ... ich hab Heimweh nach bestimmten Menschen ...
    Mit "Angekommensein" sprichst Du genau den Punkt an, der für mein Verständnis von Georgina fast der wichtigste ist. Auch bei ihrer Rückkehr ist sie nicht wirklich angekommen, sie war zu Hause, ja, aber sie sucht immer noch und ich glaube, sie weiß nicht, was sie sucht oder suchen muss.

    Zitat

    Original von Nicole
    Manchmal habe ich schon den Wunsch, lieber rosarote, locker-flockige und zuckersüße Sachen zu schreiben, die die Leser einfach happy machen.
    Aber ich kann's nicht.
    Mich treibt das menschliche Leben in seiner ganzen Bandbreite, in all seinen Facetten um, mit den schönen und auch den nachtschwarzen, den schmerzvollen.
    Das beschäftigt mich, das bewegt mich, davon will ich erzählen.


    Mit "zuckersüß" könnte zumindest ich auch nicht so viel anfangen, ich bin dankbar zu lesen, dass auch andere Leute so ihre Probleme haben. Mir das nahezubringen, wenn es auch ganz andere sind als meine, auch ihre Entwicklung, ihre Lösungsansätze und Lösungen, ihre Fragen und manchmal das verzweifelte Suchen nach einer Antwort - dafür danke ich Dir und dafür liebe ich Deine Bücher.



    Noch meine Eindrücke zu diesem Abschnitt:


    Das Verhalten des Vaters gegenüber Georgina wirkt einerseits befremdlich, andererseits aber auch verständlich, wenn man seine eigene Einsamkeit und sein wohl ausschließliches Interesse am Handel berücksichtigt. Das passt natürlich nicht so ganz zur Empfindsamkeit einer jungen Dame. Obwohl ich ihm bzw. der Tante Recht geben muss. Was wird Georgina tun? Die Tage verträumen? Wird das auf die Dauer nicht ein wenig langweilig? Und so abgeschottet, wie sie sich einrichtet, mache ich mir den einen oder anderen Gedanken über das, was man gemeinhin als „soziale Kompetenz“ beschreibt. Gut tun kann das dem armen Kind nicht, sei sie nun umgeben von dienstbaren Geistern oder nicht.


    Die unbeschwerte Badeszene Seite 100 ff.: Man gönnt sie den beiden jungen Leuten, aber ich habe doch den Eindruck, die Rechnung dafür wird noch präsentiert werden. Sie sind letztlich beide in einer schwachen Position, aber ich glaube, Georgina wird es teurer zu stehen kommen als Raharjo. Nach den Gesetzen der Orang Laut sind sie also ab Seite 140 verheiratet. Das wird einige, nein: viele Probleme mit sich bringen, besonders für Georgina. Was mich erstaunt, ist, dass sie so gar keinen Gedanken an ihren Vater verschwendet. Sie dürfte ja nicht volljährig sein, geschweige denn, dass ihr das Recht zustand, diese Entscheidung alleine zu treffen. Wie ernst ist es ihr überhaupt mit dieser Ehe? Hat sie über die Konsequenzen nachgedacht? Manchmal frage ich mich, ob sie nur aus Spontanität und Emotion besteht und sich einfach treiben lässt.
    Ja, Entschuldigung, ich weiß, das ist alles sehr romantisch, aber ich bin wohl zu alt, um die praktische Seite außer Acht lassen zu können. Weil die so höchst unromantische Folgen hat, in der Regel.


    Raharjo jedenfalls ist manchmal bemerkenswert einfühlsam. Das hätte ich nicht in diesem Maße erwartet. Seine Antwort auf Georginas stumme Frage (Seite 107) hat mich positiv überrascht. Man sieht den Realitäten ins Auge, soweit man sie überblicken kann. Und trotzdem Mensch bleiben bei all dem, das ist wohl die Kunst. Georgina hat sich anscheinend nie Gedanken darüber gemacht, was die Europäer dem Land und den Menschen antun (Kolonialmacht hin oder her), aber das wäre wohl auch ein wenig viel verlangt. Der Handel hielt sie wohl nicht davon ab – die Europäer, meine ich -, die Einheimischen nicht unbedingt als gleichwertig zu empfinden. Abgesehen natürlich, wenn sie nur reich genug waren. Aber auf einer Stufe – nein, ich glaube doch nicht. Das ist aber vielleicht das Große an Georgina, dass sie die Menschen trotzdem als solche nimmt, auch wenn sie sie bedienen. Und deshalb, so glaube ich, kann sie Raharjo auch so begegnen, wie sie es tat und tut. Natürlich kommt dann – zum Glück? zu allem Überfluss? - etwas hinzu, was mit dem Begriff Liebe umschreiben könnte.


    Paul Bigelow bemüht sich um sie, natürlich. Das war zu erwarten. Meine Gedanken kann er hervorragend in Worte fassen, nebenbei bemerkt (Seite 117 unten). Meinen nicht vorhandenen Hut ziehe ich jedenfalls vor ihm. In mich hineinlächeln musste ich, als er behauptete, er wolle Georgina „ein guter Freund“ sein. Ja, klar, natürlich. Man darf nur hoffen, dass es dabei bleibt, neben dem anderen Punkt. Er entwickelt sich für mich immer mehr zum Sympathieträger. Er ist ein Mann der Tat, steht zu seinem Wort, packt an, schafft klare Verhältnisse. Ich wünschte, Georgina würde ihn lassen („... wenn du mich nur lässt...“). Er würde alles für sie tun, fast, aber nicht alles. Immerhin steht er ihr aber sogar bei der Geburt bei. Das ist selbst heute nicht selbstverständlich, umso ungewöhnlicher wohl für die damalige Zeit.


    Seite 157 habe ich mich gefragt, und zwar doch ein wenig erschrocken, ob Georgina gesagt hätte, dass das Kind nicht von Bigelow ist. Sie ist sich wahrscheinlich überhaupt nicht darüber im Klaren, um was sie sich gebracht hätte, wäre sie zu Wort gekommen und hätte sie das eingestanden. Cempaka jedenfalls, so glaube ich, hat verstanden, wer der Vater des Kindes ist (Seite 155).


    Tja, und Raharjo? Er tut mir leid. Und es tut mir leid, dass er wirklich geglaubt hat, er hätte Georgina einfach so bekommen können. Hätte Reichtum ihm wirklich genutzt? Um wieviel reicher als ein Brite oder anderer Europäer hätte er sein müssen bzw. welche handelstechnischen Beziehungen hätte er bieten müssen, um ihren Vater zu überzeugen, dass er der Richtige für seine Tochter ist. Das Bild, das er am Hochzeitstag von ihr bekommt, entspricht, so glaube ich, nicht der Realität. Ich will es jedenfalls nicht hoffen...


    Ah Tong ist bisher die Figur, die meine Sympathie am meisten weckt. Er versucht, Cempaka zu erklären. Mag ja sein, dass das, was er sagt, tatsächlich so ist. Trotzdem glaube ich, da ist noch mehr, ich habe ein ungutes Gefühl, was sie betrifft. Denn ihr Verhalten, ihre Tiraden richteten sich ja gegen das Mädchen persönlich, sehr persönlich sogar, nicht in erster Linie gegen das Mitglied der Gesellschaft. Ah Tong jedenfalls – in ihm würde man in Europa wohl einen Philosophen vermuten (besonders Seite 123). Ein Weiser, so würde ich ihn bezeichnen. Nicht nur seine Kräuter, auch seine Worte können Schmerzen lindern, Wunden „verbinden“.


    Eine Frage habe ich noch: Ich habe vergessen, mir zu notieren, auf welcher Seite das stand, aber es war von „die Schwestern verkaufen“ die Rede. In welchem Stil geschah das? Als was (ich weiß, ich weiß, die Frage ist dumm. Ich weiß doch, was heute "im Angebot" ist, warum hätte das früher anders sein sollen)? Und wohin? Betraf das alle Volksgruppen?

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    Original von beowulf
    Das ihr dieses arrogante selbstverloebte Arschloch so in Schutz nehmt? der Kerl kommt Monate zu spät, hat seine eigenen wirtschaftlichen Interessen über die Liebe zu ihr gestellt. Das hätte damals schliesslich auch bedeuten können, er ist tot. aber er hinterfragt die Motive nicht im Mindesten, gibt der Frau, die er angeblich liebt null Chance sich zu äußern. So ein Depp.


    Schließe mich vollinhaltlich an. :grin
    Mit dem jungen Mann hab ich deutlich meine Probleme ...

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    Original von Nicole


    Haben sie. Dieser Roman hat nicht nur eine eigene Stimme, sondern auch einen eigenen Erzählrhythmus verlangt. Daraus haben sich ungewöhnlich wenige, ungewöhnlich lange Kapitel ergeben - und diese Schnörkel markieren sozusagen Unterkapitel, Szenenwechsel, zwischen denen ein bisschen ein längerer Zeitraum vergangen ist als bei einem Szenenwechsel, der nur durch eine Leerzeile markiert ist.


    Ja, so habe ich das auch aufgefasst, aber ich hatte mir eingebildet, sie würden darüber hinaus noch etwas bedeuten. Das äußere Zeichen (jeweils links und rechts) erinnert mich an irgendeine Schrift, aber ich finde das jetzt nicht mehr. Zur Erklärung: Ich sehe hin und wieder Übersetzungen in andere Sprachen, sprich auch in andere Schrift"arten", beispielsweise Russisch, Hebräisch etc. Und deshalb meine Frage.


    Danke für alle Antworten :knuddel1.
    Langsam hab ich nur Mühe, alle Gedanken wirklich festhalten zu können, die mir gerade so durchs Hirn schwirbeln...

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    Original von Nicole


    Für mich war vieles an diesem Buch neu und anders als bei meinen vorangegangenene Büchern; Geschichte und Schauplatz verlangten meinem Gefühl nach eine eigene Erzählweise. Ich hab sehr mit dem Text gerungen, um eine bestimmte Atmosphäre rüberzubringen. Ein Gefühl, das ich aus Singapur mitgebracht hatte.



    ...und ich hab mich schon gefragt, was sich in meinem Sprachempfinden für Nicole-Bücher geändert hat ... ich bildete mir tatsächlich ein, in den anderen Büchern habe sich Dein Ton anders angehört ... irgendwie bin ich jetzt doch erleichtert ... aber passt, die neue Erzählweise, finde ich ...



    Meine Eindrücke zu diesem Abschnitt:


    Um 1840, sagt der Klappentext. Singapur, sagt der Klappentext auch. Die Zeit interessiert mich sehr, wenn auch nicht in erster Linie in diesem Kontext. Der Ort, nun gut, er wäre nicht meine erste Wahl, nach den Beschreibungen schon gar nicht. Aber andere fühlen sich dort umso wohler, Georgina zum Beispiel. Wem tut dieses – buchstäblich – arme Mädchen nicht leid. Da muss man wohl einigermaßen gefühllos sein oder einen wenn auch starken, aber bisher eher nicht genau zu definierenden Groll gegen das Kind haben wie Cempaka. (Nicht, dass ich bisher unzufrieden wäre, aber über diese Ehe – Ah Tong/Cempaka – wäre sicherlich Interessantes zu erfahren – vielleicht kommt da noch etwas?). Bisher ist mir Cempaka jedenfalls das größte Rätsel, anders ausgedrückt: Die Figur, die mich am meisten beschäftigt – im Moment jedenfalls.


    Dass Raharjo Georgina so sieht, wie er das auf Seite 37 (unten) tut, zeugt schon von einiger Menschenkenntnis. Aber die bekommt man wohl in seiner Situation. Sehr weit bin ich noch nicht in dem Roman, aber bisher ist mein Eindruck, dass er ziemlich genau ins Schwarze getroffen hat. Eigentlich finde ich es nicht gerade schlecht, dass sie andere Länder, andere Sitten, andere Leute kennengelernt hat, es konnte doch ihren Horizont eigentlich nur erweitern. Heimweh hatte sie, das ist verständlich, aber dennoch: Auf mich wirkt diese Beschreibung, als gelte dieses Heimweh hauptsächlich dem Licht, der Wärme, den Gerüchen … sprich, dem Teil des Landes, den sie kennengelernt hat. Alle Spuren, die sie hinterlassen hat, sind „gründlich“ getilgt worden … mich verwundert, dass ihr Vater das geduldet hat. Ist das wirklich nur Trauer, die ihn so abweisend wirken lässt? Auf sein Haus scheint er ja auch nicht sonderlich zu achten (Seite 62). Jedenfalls empfinde ich die Wiedersehensszene Georgina/Vater als fast noch schmerzhafter als die Ablehnung Cempakas. Sie war deutlich, dabei ehrlich, unverstellt. Bei dem Vater hingegen … ein Versuch, Zuneigung zu zeigen, aber er versagt sie sich. Warum? Aus Schuldgefühl? Aus Trauer? Hat er Sorgen finanzieller Art? Kommt Georgina zu einem falschen Zeitpunkt?


    Ein interessanter Typ, der Paul Bigelow. Erst einmal erscheint er mir als jemand, zu dem man Vertrauen fassen kann. Man würde sich vermutlich auf ihn verlassen können. Er geht auf Georgina ein … aber es bleibt letztlich so: Da treffen sich zwei aus demselben Kulturkreis, aus derselben gesellschaftlichen Ebene. Sein Interesse für sie gilt ihr wohl auch, weil sie jemand wäre, die als Ehefrau eines Geschäftsmannes in Asien mit Klima, Umständen etc. zurecht käme, sie also als eine solche für ihn in Betracht käme. Für mich wäre es interessant(er), sein Verhalten gegenüber den Einheimischen oder Mitgliedern anderer Ethnien zu beobachten.


    Ach ja, noch zu Georgina: Sie kehrt zurück, aber ich frage mich, was sie sich eigentlich vorgestellt hat. Hat sie überhaupt die Fragen ihrer Tante (Seite 75) ernst genommen, sie für sich beantwortet? Als junge Frau, Angehörige einer Kolonialmacht, ist sie ganz anderen Regeln unterworfen, als sie es als Kind war, wird sie keinesfalls mehr die Freiheit haben, die sie früher genoss. Sie wird unter Beobachtung stehen … und man wird sie bei Bedarf in ihre Schranken weisen, es zumindest versuchen. Jedenfalls erscheint es mir so, als sei Georgina zurückgekehrt, um etwas zu suchen, aber ist sie sich bewusst, was und ob sie es überhaupt finden kann?


    Im Nachwort wird einiges zu den Orang Laut erklärt. Ich würde gar zu gerne wisen, ob das auch bedeutet, dass diese ein ganz anderes Selbstverständnis hatten und dementsprechend auftraten? Sich also deutlich abgrenzten/abzugrenzen wünschten von der übrigen Bevölkerung. Die Wiederbegegnung Georgina/Raharjo würde mir auch unter diesem Gesichtspunkt erklärlich in ihrer Intensität sein, eben nicht nur, weil er das Kind gut kennengelernt hat. Würde er sich einer anderen Nyonya, die er lange Jahre nicht gesehen hat, vergleichbar geben (abgezogen natürlich das Quentchen Liebe, das offensichtlich im Spiel ist)?


    Zu den Spekulationen über die Elternschaft: Mir fiel dazu eigentlich nur ein, dass man das Kind in irgendeiner Weise für den Tod der Mutter verantwortlich machte, ob es wirklich so war, sei erst einmal dahingestellt. Früher sah man das eventuell anders als heute.



    Frage: Was bedeuten diese Zeichen zwischen den Szenenwechseln in den einzelnen Kapiteln? Pure Dekoration? Vielleicht für uns deutschsprachige Leser, aber ich bin mir fast sicher, sie haben eine Bedeutung.

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    Original von Nicole
    Ich hab Dich schon vermisst, liebe Lipperin!


    Danke! :knuddel


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    Aber lass Dir ruhig die Zeit, die Du brauchst, hier läuft nichts weg ... :-)


    Im Moment ist es etwas schwierig bei mir. Mir scheint, ich bin umzingelt von Tod und Leid und ich muss gestehen, ich habe die Hoffnung, dass Dein Roman mich ein wenig abzulenken vermag ... Entschuldigung, wenn ich das so sage, ich möchte ihn nicht degradieren oder so ... ich freue mich immer auf ein neues Nicole-Buch, das weißt Du (hoffentlich). :kiss

    Das Psychogramm eines Spielers. Und was für eines. Da spricht einer, der genau, allzu genau weiß, wovon er spricht. Dostojewski hat meines Erachtens eine schlicht brillante Zeichnung vorgelegt, da sitzt jeder Strich, jedes Wort ist an dem Platz, an den es gehört. Der Text lässt sich vollkommen auf die jeweilige Gemütslage des Erzählers ein, gibt an keiner Stelle vor, mehr zu wissen als das erzählende Ich wissen kann. Man kann, so mein Eindruck, sehr gut seine sich ändernde Gefühlslage, sein immer tieferes Abgleiten in die Sucht an dem sich teils drängenden Ton ablesen.


    Es gibt natürlich auch eine Liebesgeschichte. Eine seltsame. Eine beunruhigende. Mir scheint es weniger um ein Miteinander der beiden Protagonisten zu gehen, als vielmehr darum, über dem/der Anderen zu sein, ihm überlegen zu sein, ja vielleicht sogar ihn beherrschen zu wollen. Der weibliche Part dieses Paares handelt nach dem Sprichwort „der Klügere gibt nach“, verzichtet, weil sie erkennt, dass sie gegen die Sucht des Erzählers nicht, wohl niemals ankommen wird. Der Preis, den Pauline dafür zahlen muss, ist hoch, aber er erscheint gering gegen den, der ihr abverlangt würde, wenn sie in eine gelebte Partnerschaft mit ihm einwilligen würde.


    Dostojewski verwebt diese beiden „Geschichten“ - den Werdegang des Spielers und das Scheitern einer Beziehung – auf sehr eindrückliche Weise. An keiner Stelle lässt er in seiner Intensität nach, im Gegenzug lässt er dem Leser keinen Moment Zeit, in seiner Konzentration nachzulassen. Mich hat er zu einer sehr intensiven Beobachterin dieses eigenartigen Spiels gemacht, was ihm meiner Meinung nach auch nur gelingen konnte, weil er mehr als genau wusste, wovon er schreibt und weil er seine eigenen Empfinden, Gefühle und Erlebnisse mehr als genau in Worte zu fassen vermochte.

    Zitat

    Original von made


    Ein Gelbschnabel ist ein unerfahrerer Mensch. Auch junge Vögel erkennt man daran, dass ihr Schnabel einen hellen Rand hat.


    Die kenne ich nur als Grünschnäbel... drum meine Verwunderung.
    Danke für Deine Erklärung! :knuddel1

    Das ist ja eine seltsame Geschichte mit dem französischen Edelmann bzw. dem, der so tut, als ob er einer wäre. Das vermutete Verhältnis zu Pauline bekommt damit eine beleidigende Note, degradiert sie zu einer Frau, die sich verkauft. Aber der Retter ist ja nicht weit, er eilt der Geliebten wenn schon nicht zur Seite, so doch auf und davon, um ihr Ruhm und Ehre, zumindest aber Geld zu gewinnen. Meine Güte, da hat er sie fast gewonnen und was macht er? Rennt davon, um zu spielen. Natürlich mit einem so höchst ehrenwerten Vorsatz. Aber ahnte er nicht selber den Vorwand? Mir will doch so scheinen, wenn er darüber sinniert, dass „sich ein Gedanke mit einem heftigen, leidenschaftlichen Verlangen“ „vereinigt“ und was daraus sich ergeben kann, für ihn ergeben wird.


    Die Beschreibung des Spielrausches ist exzellent, natürlich, kannte Dostojewski ihn allzu gut aus eigener Anschauung. Das Fieber, die Trance, das ist geschildert in einem Spannungsbogen, der in mir den Eindruck aufkommen ließ, ich dürfe das Buch jetzt nicht aus der Hand legen bis … Dostojewski hat mich förmlich als Zuschauerin an den Spieltisch gezogen.


    Wissen würde ich gerne, warum die flüsternden Stimmen extra als „Juden“ identifiziert werden. Haben sie es sich zur Pflicht gemacht, einzugreifen? Zu mehr als Worten greifen sie nicht, drängen sich nicht weiter auf als wie mit den Warnungen. Sind sie „Gläubiger“ des Casinos?


    „„Pauline, wiederum, wiederum!“ begann ich.“ Aber ich bitte doch. Ging das wirklich nicht anders? Wie auch immer: Pauline ist in einer nicht wirklich beneidenswerten Lage. Sie muss doch das Gefühl haben, sie abermals verkaufen zu sollen. Ihr Problem ist vielleicht, dass sie Ehrlichkeit nicht kennengelernt hat, nur Lug und Betrug, nur Spiel um hohe und höchste Einsätze. Wie kann sie glauben, dass es der Erzähler ehrlich mit ihr meinen könnte? Zumal sie Anzeichen der Sucht an ihm ja deutlichen erkennen muss. Dass sie erkrankt, ist wohl kein Wunder. Ein wenig exaltiert kommt sie mir seit der ersten Seite vor, sie hat sich in etwas hineingesteigert, was einerseits durch ihr Umfeld verschuldet war, andererseits vielleicht ihrem Denken und ihrer Phantasie entsprach.


    Und der Erzähler? Er will vielleicht „dem Geld nicht gewachsen“ sein, mir scheint es, als sei er den Leuten nicht gewachsen. Nun wird er also aus- und benutzt, mit seiner Zustimmung, wie es scheint. Er will, dass das Geld schnell verbraucht sei … um einen Grund zu haben, erneut zu spielen?


    Kapitel XVII bringt abermals einen zeitlichen Sprung, diesmal gar ein Jahr acht Monate. Der Erzähler ist nun in einem Stadium, das mir unheilbar erscheint. Seine Lage ist desolat. Sein Denken, seine Hoffnung - „eine einzige Drehung des Rades, und alles ändert sich“ -, sein Selbstbetrug, über „allen diesen törichten Schicksalsschlägen“ zu stehen, … da schwanke ich zwischen Mitleid und der Frage „das wusstest du doch?“ Das Gespräch zwischen Mr. Astlei und dem Erzähler verwundert nicht nur Ersteren. Letzterer spielt weiter, er will uns – und sich? - wohl bedeuten, er könne jederzeit aufhören, er habe seine Würde nicht verloren. Astlei nennt ihn einen „verlorenen Menschen“, durchschaut ihn, man darf ihm wohl zustimmen. Ein trauriges, ein grausames Fazit. Nun kann man ihm alles sagen, wie man ihn schützte, wer ihn liebt, nun vergibt man weder sich noch ihm etwas, nun ist es egal. „Morgen, morgen wird sich“ … nichts mehr wenden.


    Von der Thematik her hat mir das Buch nicht gefallen, aber gleichwohl: Ich habe den Text als eine brillante Studie eines Spielers empfunden.

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    Original von Rouge


    Das gleiche habe ich mich nach diese Abschnitt auch gefragt.



    Meine Vermutung ging dahin, dass die Entwicklung gezeigt werden soll, von einem, der vielleicht nur theoretisch spielt zu einem, der der Sucht vollkommen erlegen ist, in allen Details.



    Zu diesem Abschnitt:
    „Gib ihr Glück, Herr! denke ich, und da hatte Ihnen Gott Glück geschenkt“ spricht das Dienstmädchen und meint mit „Glück“ den Gewinn des Geldes. Nun ja. Was soll man dazu sagen? Außer: Das war wohl so und das ist wohl so und das wird wohl so bleiben. Jedenfalls werden die Gedanken des Erzählers zu Großmutters Spielen wohl ihre Berechtigung haben. Sie wird spielen, bis sie alles verloren hat. Und wenn es denn so ist, wer weiß, ob es ihr nicht eine gewisse Genugtuung bereitet, weil der Neffe nichts mehr erben wird. Bemerkenswert eigentlich, dass sie sich förmlich mit einem Ruck befreien kann, wenigstens für ein paar Stunden. „Ich habe mein Eigentum durchgebracht, aber nicht eures“. Das ist doch mal ein Wort, ein wahres dazu. Und die entsprechende Haltung dazu. Im Gegensatz zum General, der das Erbe seiner minderjährigen Kinder durchgebracht hat. „Ohne Geld wird ihn diese gemeine Dirne... nicht einmal zu ihrem Diener nehmen, ja, und dazu hat er auch noch ein falsches Gebiß“: Bei den Achterbahnfahrten in diesem schmalen Buch lechze ich ja schon nach ein bisschen Humor … und frage mich, ob das früher auch witzig war, ob die Großmutter es witzig gemeint hat oder es nur als einen Hinweis auf sein Alter verstanden wissen wollte (immerhin: er konnte sich eines leisten). So ist das hier: Mittlerweile hinterfrage ich jeden Satz.


    Ich bin immer wieder fasziniert von Dostojewskis Fähigkeit, das Peinliche, das Blamable am Verhalten der „Erbwilligen“ und Geldgierigen zu schildern. Auch wenn ich die Übersetzung nach wie vor nicht für gelungen halte, habe ich den Eindruck, da sitzt jedes Wort, da ist nichts zu viel und nichts zu wenig. Wenige Striche, wenige Worte und alle Masken fallen und die „Nacktheit“ der Personen tritt in all ihrer Erbärmlichkeit zutage. Er kennt die Menschen, schaut sie an und bis in ihr Herz. Er weiß um die Spieler und um die Ehrlichen (von denen man im Buch nur wenig sieht), er weiß es wohl deshalb so genau, weil er sich selbst sehr gut kennengelernt hat.


    Kapitel XIII bedeutet für mich fast einen Bruch. Der Erzähler hat nun seine Sucht und sie als seine Krankheit erkannt, ja anerkannt. Der Ton scheint sich mir verändert zu haben, die gezeigte Selbstsicherheit hat Einbuße erlitten. Großmutter hat nun endgültig alles verloren (warum schleppt sie neben Geld auch noch „innere Anleihen“ und „alle Aktien“ mit? Hatte sie keine Befürchtungen, diese könnten ihr abhanden kommen? Deutet das vielleicht darauf hin, dass sie doch mit dem Vorsatz zum Spiel gefahren ist?), der verhinderte Erbe sinniert über „Vormundschaft oder ein Spielverbot“. Was für Gedanken, und leider muss man sagen: Was für eine Aktualität. Man stellt fest, zu viel(e) hängt am Geld, bestimmt das Verhalten, ja, es ist fast, als raube es die Würde, besonders, wenn man darauf wartet und es nicht bekommt.

    An den Deutschen lässt der Erzähler kein gutes Haar. Schon im Abschnitt I seine Ausführungen über „die“ deutsche Familie, jetzt über den Baron. Allein der Name. Bedauerlich finde ich, dass für die französischen Sätze keine Übersetzung geliefert wird, sei es als Fußnote, sei es im Anhang. Oder soll so die Belanglosigkeit der Bemerkungen attestiert werden? Mir verdeutlicht die Szene mit dem Baron, aber auch später mit dem General vor allen Dingen eines: Der Erzähler ist ein Spieler, nicht nur am Rouletttisch. Vielleicht ist „das Leben“ sein Spieltisch mangels ausreichender Mittel, um sich im Casino auszutoben. Er spielt jedenfalls mit hohem Einsatz; beim General gewinnt er, auch, weil ihm keine Gefühle „in die Quere“ kommen. Bei Pauline sieht das anders aus, aber auch hier, sein Reden, sein Handeln: Spiel mit hohem Einsatz. Nicht um Geld, aber um sein Leben, seine Position. In dem Gespräch mit dem General zählt er auf, was er denn alles sei: „Kandidat der Universität“, „Adliger“, „ein ganz einfacher Hauslehrer“ und immerhin dem General „durchaus ein Fremder“. Interessante Aufzählung, nur den Spieler verschweigt er. Auch wenn man natürlich nicht damit hausieren gehen würde. Ich frage mich eigentlich nur, ob er sich dessen überhaupt bewusst ist … oder zu sehr bewusst ist.


    Jedenfalls schleppt der Erzähler einiges an Ressentiments mit sich herum, auch die Franzosen weiß er allzu gut einzuschätzen. Keine sehr noblen Gedanken. Auch wenn ich ehrlich gesagt bei seinen Bemerkungen und Schilderungen anlässlich der Ankunft der Großmutter an mich halten muss, um nicht einer gewissen Häme Raum zu geben. Großmutter jedenfalls gefällt mir. Nicht nur wegen: „Weil das ein Dienstbote ist, soll man sich nicht um ihn kümmern! Das ist doch auch ein lebendiger Mensch!“ Bedauerlicherweise wird auch sie zur Spielerin. Mit einer ziemlichen Geschwindigkeit … oder bricht sich da auch nur in der Praxis Bahn, was in der Theorie schon durchprobiert wurde?


    Die Übersetzung macht mir keine Freude. Mir fallen immer wieder kleine „Ungeschicklichkeiten“ auf, zum Beispiel steht dort ein bemerkenswerter Satz: „Für jene alte Hexe in Moskau, die nicht sterben will, und von deren Tod die dort die telegraphische Nachricht erwarten“. Man weiß immerhin, was gemeint ist.

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    Original von Karthause


    Wenn man sich überlegt, dass Dostojewski diesen Roman aus der Not heraus in 26 Tagen diktierte und mangels eines Themas seine eigene Spielleidenschaft thematisierte ...


    Für jeden, der/die sich für Dostojewski interessiert, ein Buchtipp. Gerigk geht auch auf den "Spieler" ein, schildert, dass diese 26 Tage stets ins Gespräch gebracht werden, berichtet aber auch - und das erscheint mir das Wichtigere -, dass sich D. sich seit 1863 mit dem Plan für einen Roman wie diesen intensiv beschäftigt hat.



    Mein Eindruck zu diesem Abschnitt:


    Mein Büchlein ist alt genug, dass es sich das Vergnügen versagen kann, den Übersetzer zu nennen. Dass der Roman von Dostojewski sei, muss wohl genügen. Schade, denn bei der Arbeit wäre es wohl angemessen, wenigstens den Namen dessen zu erfahren, der uns diese Geschichte nacherzählt. Und abermals schade, denn es hätte mich in den Stand versetzt, Nachforschungen anzustellen, z. B. über Ansehen des Übersetzers, eventuell gar die Qualität seiner Arbeit. Immerhin macht er gleich zu Anfang aus einer „Polina“ eine „Pauline“, was zu dem Vaternamen Alexandrowna meiner Meinung nach in einem leicht unglücklichen Verhältnis steht.


    Jedenfalls ist ihr – Paulines – Verhältnis zum Ich-Erzähler eines, das einiges an Emotion zu bieten hat. Ein seltsames Paar, passend fast zu der seltsamen Bagage mit und um den General. Mademoiselle Blanche und der französische Marquis erscheinen mir fast ein wenig zu auftrumpfend, andererseits auch speichelleckend, um „echt“ zu sein. Mademoiselle Blanche hat „eines jener Gesichter, vor denen man Angst bekommen kann“. Was für eine fast schon brillante Charakterisierung, aber man weiß ja nur allzu genau, was gemeint ist, auch wenn man sich hüten würde, reale Namen damit zu verbinden.


    Am meisten interessiert mich der Ich-Erzähler. Er ist natürlich auch geschickt genug, um das Interesse an sich zu wecken und wach zu halten. Seine Vermutung, in Roulettenburg werde sich in seinem „Schicksal ein radikaler und endgültiger Umschwung vollziehen“ erscheint weniger hellsichtig als auf mich vielmehr so, dass er erwarte, es werde sich hier ereignen, womit er schon (länger) rechne. Seine Ausführungen über das Gewinnen, über das Verhalten der „Plebejer“ resp. des Gentleman gemahnen mich fast ein bisschen an Goethes „graue Theorie“, aber auch wie eine Art Beschwörung. Dass „des Lebens Fülle“ ihm das bereithält, was Pauline ihm „höhnisch“ fragend entgegnet, nämlich „Ausweg und Rettung“, glaube ich eher nicht, obwohl er ja so davon überzeugt ist, er werde gewinnen. Natürlich, kann ja gar nicht anders sein. Einer der ersten Schritte in die Sucht? Aber – im Moment? - scheinen sich noch die Lust am Gewinnen von Geld und das lockende Provozieren von Pauline die Waage zu halten. „Geld ist doch alles“ … das klingt so fatal real, erst recht aktuell und zeugt von diversen Erfahrungen.


    Eine Formulierung, die mir auffiel: „So spricht nur ein Gelbschnabel“ erwidert Pauline dem Erzähler. Ein ungewöhnliches Wort, dem zu begegnen ich mich nur in Bezug auf die Tierwelt erinnern kann. Ein interessantes Wort allemal … nur, wie bewusst gewählt? Ob es eine wörtliche Übersetzung ist? Aber Gelb – steht diese Farbe nicht für den Neid und die Eifersucht. Und die Dummheit, so sagt man bei uns. Wenn so gemeint, würde die gute Pauline aber eine messerscharfe Zunge führen ohne den geringsten Skrupel, sie einzusetzen, besonders dem Erzähler gegenüber. Stimmt dessen Einschätzung („Der Mensch ist von Hause aus despotisch und liebt zu quälen. Sie lieben das furchtbar!“) über sie – oder muss man eher fragen: Stimmt diese Einschätzung immer?

    Danke fürs Eintragen! :wave


    Mir wäre ja beinahe ein "wenn schon Solschenizyn, dann aber Schalamow" rausgerutscht ... nein, Solschenizyn würde ich auch mitlesen. Paustowskij sowieso, ich mag ihn.
    Was würdet ihr denn von "Der sterbende See" von Abdishamil Nurpeissow halten? Umweltverschmutzung in der Sowjetunion, hier ist der Aralsee gemeint, ein nicht ganz unbrisantes Thema.


    Beim "Leidensweg" käme es sehr auf den Termin an, es sind ja ... mehrere Seiten ... :grin

    Zitat

    Original von Herr Palomar
    Saramagos Roman vermag es, beim Leser viele Fragen aufzuwerfen. Offensichtliche Antworten gibt der Autor nicht. Qualität oder Lücke?



    Qualität, für mich ganz eindeutig. Eine Welt, in der es keine Fragen mehr geben wird, erscheint mir eine ziemliche leere Welt zu sein. Jede Frage prüft den, der fragt, bringt ihn weiter - vielleicht auch manchmal zurück -. Saramagos Fragen sind ganz sicherlich nicht immer meine, meine "Wahrheit" ist ganz sicherlich in einem anderen Bereich zu suchen, als er es tut, aber in seiner Humanität, seinem schlichten Einsatz für die Mitmenschlichkeit bin ich ganz bei ihm.




    Mein Eindruck zu diesem letzten Abschnitt:


    Die Frau des Arztes dauert mich, sie sieht, all den Schmutz, all das Elend, all die Not, all die Brutalität. Und keine Möglichkeit, mit jemandem darüber ins Gespräch zu kommen, weil sie alleine das sieht. Es ist ja kein Wunder, dass sie fast zusammenbricht, ihre Kraft kann ja nicht ewig reichen. Woraus sie ihre Kraftquellen speist, habe ich mich schon länger gefragt. „Du bist nie so viel wie jetzt gewesen“ (Seite 340). Einiges Plakative fällt einem ein: Für diese Situation wurde sie geboren (sagt sie ja sinngemäß selbst irgendwo). Man wächst mit seinen Aufgaben.


    Dieser letzte Abschnitt hat es ja noch einmal in sich. Beschreibungen, die schwer auszuhalten sind, vielleicht auch, weil sie so wahr sind? Hoffnungen, die sich auftun, nicht nur, weil immer mehr Menschen die Fähigkeit zu sehen wiedererlangen. Sondern auch, weil sich eine Macht bemerkbar macht, ohne die man nie die Rechnung machen sollte, nämlich die Liebe.


    Die Menschen werden also wieder sehend, oder bleibt es bei dem, was die Frau des Arztes sagt: „wir sind … Blinde, die sehend nicht sehen“. Wird sich also etwas ändern? Das steht wohl nicht zu befürchten.


    Was soll ich nun schließen aus dem Buch? Dass Leid geschieht, ohne dass jemand die Verantwortung trüge, aber es ist der Mensch, der das Leid vergrößert? Wir sehen und sehen doch nicht? Oder immer nur in unserem eigenen Horizont?


    Das Buch hat mich stark beschäftigt und zum Nachdenken gebracht. Und ich habe verstanden, warum Saramago mit hohen Auszeichnungen bedacht wurde. Ohne diese Leserunde hätte ich wohl kaum noch ein Buch von ihm in die Hand genommen, daher mein herzliches Danke, dass ich daran teilnehmen durfte!

    Seite 251 ist eine dieser jetzt mehrfach vorkommenden Stellen, an denen ich den Eindruck habe, es gibt nicht nur zwei oder drei Erzählstimmen, sondern manchmal wird das „wir“ gebraucht wie der Chor in einer griechischen Tragödie. Es hat einen eigenartigen Effekt, manchmal habe ich das Gefühl, Saramago wolle auffordern, „mitzusprechen“, wolle nicht nur die Geschichte erzählen, sondern man soll sich wenigstens in Teilen mit ihr identifizieren, solle sie erleben.


    Seite 256: „... auch das ist Blindheit, in einer Welt zu laben, in der die Hoffnung aufgehört hat“. Mal ganz abgesehen davon, dass jeder Atemzug, jeder Schritt ein gewisses Maß an Hoffnung hat, blieb die Frau des Arztes sehend, weil sie – auch – für die Hoffnung steht?


    Die Frau, die für den Brand sorgt – es wird zwar nicht so genau gesagt, zumindest lese ich es nicht so, aber ich gehe davon aus, es ist die, die gesagt hat „wo du hingehst ...“.


    Die „Befreiung“ aus der Irrenanstalt liest sich wieder einmal wie ein Bericht aus einem KZ. Schwach, zerlumpt, viele sind tot, einige leben so lange, bis sie in Freiheit sind und sterben dort. Auch die Beschreibungen aus der Stadt – wie nach einem Krieg. Die Menschen irren umher, hungrig und müde, sie sind – noch – blind. Blind von dem, was sie hingenommen haben, hinnehmen mussten? Man fragt sich voller Beklommenheit, was denn wohl passiert, wenn das Essen noch knapper wird, wenn sich wieder „solche“ organisieren, dann bleibt zumindest die Blindheit und der Terror geht weiter.
    Es werden im Schlussteil dieses Abschnitts einige Fragen aufgeworfen, die so leicht nicht zu beantworten sind. Da erscheint es mir gut, dass es Fragen und Gegenfragen gibt, die Blindheit gibt den nötigen Raum für Nachdenklichkeit, so man denn nachzudenken wünscht und nicht nur lamentiert. Die Frage, ob sich die Menschheit durch das Augenlicht definiert, ist sicher zu stellen, aber die Antwort, die die Frau des Arztes selbst gibt, ist mir ein wenig zu kurz. Die Menschheit ist trotzdem eine Menschheit, nur eine andere, andere Werte werden in den Vordergrund geraten, ein anderes Miteinander wird sich etablieren. „Wir kehren zur primitiven Horde zurück“ (Seite 310), das ist vielleicht doch auch eine Chance und nicht nur schlecht.
    Stellenweise kommt es mir vor wie die Erschaffung einer neuen Welt. Chaos herrscht, es muss sich erst bilden, was gebildet werden soll. Es gibt jemanden, der resp. die den Überblick behält. Und es tun sich immer wieder kleine Wunder auf.