Beiträge von Lipperin

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    Zitat

    Original von Sonnschein



    Ich denke auch, dass damals nicht wirklich bekannt war, was in Europa mit den Juden passierte bzw. man das vielleicht auch einfach nicht als real ansehen konnte/wollte.


    Mich erinnerte es an das Entsetzen der britischen und amerikanischen Soldaten bei der Befreiung der KZs. Obwohl natürlich Berichte darüber ins Ausland gelangten, aber wollte man wirklich wahrhaben, was eigentlich nicht sein durfte? Und Antisemitismus, auch in seiner schlimmsten Art, gab (und gibt) es auch in den USA. Das ist wohl eines der Dinge, die unausrottbar sind. Warum auch immer. Was mich wieder zu meiner Frage nach dem Buchtitel bringt: Will Roth die Nemesis auf die jüdische Bevölkerung angewandt sehen, sprich: die Polio als was auch immer für irgendwelche Geschehnisse?


    Ja, ich meinte wirklich nur den Romantitel. Was spiegelt der Romantext wieder: Rache? Von wem, für was? Oder ausgleichende Gerechtigkeit? Das sind für mich zwei vollkommen verschiedene Dinge: Rache fragt in meinen Augen eher selten nach Gerechtigkeit, nur nach der, die es selbst dafür hält. Gerechtigkeit würde ich als das ansehen, was die jeweilige Gesellschaft sich beispielsweise in Gesetzestexten normativ formuliert hat, auch wenn die Objektivität sicherlich manchmal nur scheinbar gegeben ist.

    Entschuldigung, wenn ich schon wieder als Erste poste, aber ich bin leider schon durch:


    Bucky Cantor also auch. Vielleicht hat er wirklich die Kinderlähmung in das Camp gebracht, dann wäre es aber seltsam, dass der Ausbruch bei ihm so spät stattfand. Jedenfalls ist seine Niederlage nun komplett, in seinen Augen wenigstens. Andere würden es vielleicht mit „Glück im Unglück“ beschreiben. Sein Leidensweg war nichts Außergewöhnliches bei dieser Krankheit, das Schlimmste ist ihm erspart geblieben, er hat sogar das Glück, ein relativ normales Leben führen zu können, er hat Arbeit … und wirft das Glück seines Lebens fort, kommt sich dabei noch wer weiß wie heroisch vor. Das Denken dieses Mannes kann ich, was seine Einstellung zu der Ehe mit Marcia betrifft, ein wenig nachvollziehen (das Binden an einen „Krüppel“), aber es bereitet mir trotzdem Schwierigkeiten zu verstehen, was in ihm vorgeht. Warum ignoriert er Marcias Wünsche, warum meint er, das Recht dazu zu haben? Wer hätte es ihm denn gegeben? Er, der doch so einfühlsam auf seine Jungen einzugehen wusste, ist hier bemerkenswert und brutal egoistisch und merkt es noch nicht einmal. Er redet sich ein, das Beste zu wollen und hinterfragt nicht, was das denn sein könnte. Für was hält er eigentlich Marcia, für eine Frau, die sich ausschließlich in seinen ansehnlichen Körper verliebt hat, die nur auf das Äußere achtet? Was für ein Sturesel!


    Arnie Mesnikoff hat sich also wirklich intensiv mit Mr. Cantor unterhalten, er hat ihm auch intensiv zugehört. Ein Realist, das lebensbejahende Gegenteil von Bucky. Seine Beschreibungen von diesem, seine Interpretationen (z. B. Seite 199 unten, 213, 214) sind sehr wahrscheinlich zutreffend. Bucky hat sich in ein selbstgewähltes Gefängnis zurückgezogen und will auch gar nicht mehr hinaus. Er meint, Schuld auf sich geladen zu haben, indem er die Kinder ansteckte, aber er kann nicht erkennen, dass es solche Schuld gar nicht gibt, sondern dass sie darin besteht, die Menschen von sich zu stoßen, sich dem Leben letztlich zu verweigern. „Ein solcher Mensch ist verdammt“, sagt Arnie (Seite 214) und man kann nicht umhin, ihm zuzustimmen, auch wenn das Wort mir ein wenig stark erscheint. So grausam es ist: Von dem Moment an, an dem ich von Buckys Erkrankung las, habe ich eine ähnliche Entwicklung erwartet, wobei ich seine Konsequenz nicht derart ausgeprägt erwartet habe. Es trifft ein jeder seine eigenen Entscheidungen darüber, wie man damit umgeht, nicht mehr der zu sein, der man war, der man zu sein erwartete. Oder über die Tatsache, dass und wer dafür verantwortlich ist bzw. wer dafür verantwortlich zu sein hat (Seite 206: „Irgendjemand muss das alles ja gemacht haben“). Buckys Entscheidung liegt für mich in Folgendem: Sein Selbstwertgefühl scheint mir einzig auf seiner Pflichterfüllung und seinen sportlichen Leistungen zu beruhen, ist beides eingeschränkt bzw. nicht mehr möglich, kann er nichts anders als zusammenzubrechen bzw. aufzugeben, das, was er hatte, was er wollte. „Die Tragödie muss in Schuld verwandelt werden (Seite 207) – das ist wohl Buckys eigentliches Problem: Es muss immer jemanden geben, der Verantwortung übernimmt, zu übernehmen hat, egal, für was. Was Marcia ihm vorwirft („Ich kenne niemanden, der so viel Trost darin findet, sich selbst zu bestrafen" – Seite 202 -, „Deine Haltung gegenüber Gott ist kindisch, einfach albern“ - Seite 203, wobei sie natürlich nicht von demselben Gott sprechen), erscheint mir wie die Rede des Lebens auf etwas Absterbendes. Nein, das Wort tritt es nicht ganz, es geht mir um etwas, was absterben will. Weil es/er seine Pflicht nicht mehr tun kann. Und weil er eine andere als die ihm beigebrachte nicht anerkennen kann, bliebt ihm nur der Weg, den er nun geht. Das ist ein einsames Sterben. Über sehr viele Jahre.


    Die letzte Szene des Buches, der Speerwurf, eine Reminiszenz des Erzählers an eine Vergangenheit, in der die Zukunft aufstrahlte, an einen Mann, der zum Vorbild geboren schien – mich macht sie traurig. Nicht, weil es die Erinnerung an diesen Moment gibt, sondern weil die Hauptperson dieses Moments nicht mehr erkennen kann und will, was für Glücksmomente er hatte und dass sie die Fähigkeit haben, auch ihm das Herz zu wärmen, wenn er es denn zulassen würde.


    Abschließend kann ich sagen, dass Roth mich jetzt zum ersten Mal wirklich gepackt hat. Dieses Buch hat mich ganz schön durchgeschüttelt und es wird mich gedanklich lange begleiten.

    Man liest das Buch einfach zu schnell:


    Was ist dieser Bucky Cantor doch für eine Person, zerrissen kommt er mir vor. Zu genau weiß er um seine Pflicht, was er zu tun hat, was von ihm erwartet wird, was er von sich selbst erwartet, und dann kommen da auf einmal Wünsche, Sehnsüchte, Ängste vielleicht auch, die ihn die Pflicht beinahe vergessen lassen. Mir kommt die Frage auf, ob dieses Beharren und Verharren in und bei der Pflicht etwas ist, mit dem er das Trauma seines verbrecherischen Vaters bekämpfen will, abgesehen natürlich von der Erziehung seines Großvaters. Dazu der ebenso traumatische Tod seiner Mutter, das ist schon eine Gemengelage, die einen Menschen in etwas extremere Spuren gelangen lassen können. Die stete Verknüpfung des Namens Bucky Cantor im Text mit Begriffen wie Pflicht, Gehorsam (gehorsam blättert er in einem Buch, das ihm gereicht wird, gehorsam tanzt er mit Marcia) etc. ließen zwar in mir den Wunsch aufkommen, es möge doch etwas geschehen, dass er ein wenig durchgerüttelt wird, aber Polio musste es nun wirklich nicht sein. Nein, ich dachte eher an etwas Sanftes, was niemandem – außer Bucky – weh tut, schon gar nicht Kindern.
    Manchmal habe ich den Eindruck, er sei fast so etwas wie ein Gottsucher. Aber was er findet, ist einzig und allein sein von ihm selbst zurecht gezimmerter Götze, dem er aber immerhin Allmacht zuspricht. Jedenfalls scheint sich mir in ihm ein Vorurteil zu bestätigen: Gut im Sport, aber vielleicht doch nicht der Allerintelligenteste. Er scheint noch nicht einmal großes Interesse daran zu haben, nachzufragen, es sei denn, es steht in irgendeinem Zusammenhang mit Marcia. Sobald es aber um körperliche Aktivitäten geht, ist er auf seinem Posten, tut, was er tun muss, ist hilfsbereit und immer „an vorderster Front“. Was er jedenfalls braucht, ist eine Aufgabe, ist das Wissen, helfen zu können und dass seine Hilfe auch wirksam ist. Für mich ist das – auch – ein Grund, warum er aus Newark flieht, er kann gegen Polio nichts ausrichten, es ist ihm nicht genug zu wissen, dass er den Kindern, die schwer erkrankten oder starben, wunderschöne Tage beschert hat, dass er ihre Kindheit bereichert hat. Nein, in seinen Augen hat er versagt, weil er gegen das, was er Gott nennt, nicht ankommt.


    Marcia: Mir kommt sie vor wie jemand, der perfekt in die Rolle einer jungen amerikanischen Frau passt. Die Art der Schilderung, wie sie auf Buckys Nöte und Bedenken reagiert (z. B. Seite 156) wirken auf mich so, als wolle mir der Erzähler (oder wer sonst?) klar machen, dass sie überhaupt nicht in der Lage sei, ihren Verlobten „wirklich“ zu verstehen, auch wenn sie sich bemüht (in dem Sinne, in dem „bemühen“ so gerne in Zeugnissen gebraucht wird). Letztlich eine grausame Charakterisierung: Das schöne und begehrenswerte Weibchen, kann gut mit Kindern umgehen, wird eine perfekte Ehefrau abgeben, wird Haus und Hof in Ordnung halten, aber verstehen kann sie den Kämpfer und Held nicht wirklich, weil der ja „im Krieg“ ist und sie damit nicht zu tun hat/haben soll.
    Am Schluss dieses Abschnitts habe ich jedenfalls nicht das Gefühl, dass eine Ehe zwischen den beiden eine gute Idee ist. Bucky hat seinen „Krieg“ vielleicht mitgebracht, zumindest hat ihn dieser eingeholt in dem Frieden der Berge.
    Interessant finde ich hier noch die Tatsache, dass Bucky keine Frage nach Gott stellt und dem, was dieser zulässt, als er von Jakes Tod erfährt. Warum eigentlich nicht? Weil er Soldat war und mit dem Tod rechnen musste? Weil er kein Kind war? Weil keine Viren im Spiel waren? Menschlich herbeigeführter Tod ist für ihn akzeptabler?


    Dieses Camp … ich weiß nicht. Ja, es ist sicher wunderbar für die Kinder (aber wirklich für alle?). Aber diese Idealisierung und Heroisierung der Indianer, die Betonung der „Männlichkeit“ (Seite 116) erscheint mir doch etwas fragwürdig, auch für 1944, obwohl wahrscheinlich dieser Gruppenzwang als eine nicht ganz schlechte Einübung auf das spätere Leben der Kinder angesehen wurde. „Wie faszinierend, an Mord und Tod teilzuhaben!“ (Seite 168) – das sagt doch alles.
    Schade, dass nichts darüber berichtet wird, wer die Einteilungen vornimmt, welches Kind in welche Hütte kommt – oder ist das für einen amerikanischen Leser selbstverständliches Wissen?
    Die ganzen Beschreibungen der Kostüme etc. wirken auf mich jedenfalls wie aus einem Film übernommen, was sich das halt der große weiße Mann unter Indianern und indianischem Leben so vorstellt.


    Manchmal irritiert mich der Erzähler. Wenn ich jetzt davon ausgehe, dass es Arnie Mesnikoff ist, der uns berichtet, ein Betroffener, dann frage ich mich, ob es seine Wertung ist, wenn er beispielsweise Seite 133 „er hätte berücksichtigen sollen...“ über Bucky sagt oder Seite 135 „was er selbst begriffen hatte...“, oder ob er das – urteilsfrei? - so wiedergibt, wie er es von Bucky übernommen hat. Ich habe jedenfalls nicht mehr den Eindruck, der Erzähler sei objektiv.

    Ach je, da bin ich ausnahmsweise mal pünktlich und dann so ganz alleine hier? Na gut, dann fange ich mal an, der Roman liest sich ziemlich gut und schnell:



    „Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam“ - so oder ähnlich lautete der Slogan in meiner Jugend, vermutlich immer noch. Man bekam ein Löffelchen voll Medizin und dann war man geschützt vor den bösen, kleinen, unsichtbaren „Tierchen“, die die Kinder krank machten und töteten. Als ich mich in Vorbereitung auf die Leserunde mit Polio – wieder – vertraut machte, las ich voller Schrecken, dass die Krankheit keineswegs eingedämmt ist, sondern immer wieder in Epidemien ausbricht, Afghanistan wurde genannt, Somalia und andere, Länder, denen wir das Anhängsel „Schwellenland“ oder „Entwicklungsland“ anheften. Länder aber auch, von denen in Reiseberichten oder Berichten von Touristen, so es sie denn dorthin verschlagen hat, über die mangelnde Hygiene, den Schmutz, den Dreck erzählt wird. Mangelnde Hygiene also, das scheint eines der großen Probleme zu sein, das auch in „Genesis“ durchscheint. Immer Hände waschen, immer dies tun, immer das tun, damit die Viren keine Chance haben. Immerhin aber wusste man, dass es Viren waren, die für dieses besondere Grauen verantwortlich waren. Und immerhin ahnte man, dass Hygiene zumindestens helfen konnte, auch 1944. Und wenn nicht, wie in dem Viertel, das Hauptschauplatz des ersten Abschnitts dieses Romans ist, ein jüdisches Viertel, dann ist der Hysterie, der Panik Tür und Tor offen, dann werden Verdächtigungen ausgesprochen, dann sucht man Schuldige, sei es ein Restaurant bzw. dessen Besitzer, der „Dorftrottel“ oder halt, weil auch das so einfach ist, Gott, schließlich erfindet der die Kinderlähmung ja nur und ausschließlich, damit Kinder sterben (u. a. Seite 102). Stemmt man sich dagegen wie Bucky Cantor, der Lehrer, wohl die personale Hauptfigur (der aber auch jemanden braucht, dem er diese Schuld zuweisen kann, und weil er das Menschen nicht zubilligen will, muss halt sein ganz persönlicher Gott herhalten), bekommt man irgendwann auch eine Ladung Hysterie ab, ganz bestimmt aber merkt man, wie das Nervenkostüm mehr und mehr angespannt wird, wie es zu reißen droht, wie die Fragen, die man nicht beantworten kann, weder er selbst noch irgendwer sonst, Wut und Zorn hervorrufen, aufkochen lassen. Die Gedanken kreisen und kreisen und es scheint fast, als gebe es keinen Raum mehr für anderes als die Frage nach dem „Warum“ und dem „Wer“. Misstrauen bahnt sich seinen Weg, gegen alles und jeden. Nährboden für „Hexenjagden“. Das klingt schon an in Roths Text, ebenso wie der Antisemitismus, der auch und auch zu der Zeit in Amerika nicht zu leugnen war.


    Es gibt bisher viele Stellen, die mich sehr berühren (und nicht nur in positivem Sinn), beispielsweise, wenn das Kind Bucky die Ratte erschlägt (Seite 24) – da kommt nicht nur so etwas wie Ekel in mir auf, sondern in allererster Linie Mitleid mit dem Kind -, die Schilderung des einsamen Sterbens von Alan (Seite 40), die Ansprache des Onkels von Alan bei der Trauerfeier – hat man da nicht den Eindruck eines „Frühvollendeten“ (mit dem fast schon ketzerischen Gedanken daran, was aus ihm als Erwachsener geworden wäre)? -, oder die mir wunderschön erscheinende Beschreibung der Großmutter, ihres Gesichts (Seite 98, 99).


    „Und wenn du den Preis bezahlen musst, … dann bezahlst du ihn eben“ (Seite 25), sagte der Großvater zu Bucky und ich werde den Verdacht nicht los, dass das einer der Schlüsselsätze, vielleicht der Schlüsselsatz in diesem Roman ist. Bucky wird ja eigentlich positiv gezeichnet, jemand, der seine Pflicht nicht nur kennt, sondern sie auch tut, der den Schwachen beisteht, zu trösten vermag, der die Kinder ernst nimmt (sh. auch das Gespräch mit Bobby Seite 91, 92) – trotzdem fehlt mir etwas an ihm, bei ihm. Vielleicht ist es sein überaus großes Pflichtbewusstsein, das in mir manchmal den Anschein erweckt, er tröste beispielsweise, weil das „sein Job“ ist, weil man Kinder zu schützen habe, weil man dieses oder jenes zu tun habe in seiner Situation. Vielleicht weckt das in mir den Anschein, es fehle ihm etwas, und sei es ein letzter Funke Empathie. Bemerkenswert finde ich übrigens die Gegenüberstellung der Stärke Buckys mit der Schwäche Kennys (der ja das Potential hätte, ein zweiter Bucky zu werden). Die Tränen des Jungen wirken auf mich ehrlicher als mancher Aktionismus von Bucky. Auf die Begegnung mit Marcia bin ich gespannt, ich glaube jedenfalls aus dem wenigen, was man bisher über sie lesen konnte, dass die Ehe interessant zu werden verspricht.


    Verblüfft hat mich Seite 68 unten, der Erzähler offenbart sich. Bisher glaubte ich eigentlich an eine Art allwissender Erzähler, nun scheint es auf eine Ich-Erzählung hinauszulaufen. Aber woher weiß Arnie Mesnikoff all das, auch über die Gedanken Buckys? Haben sie Zeit miteinander verbracht, miteinander intensiv gesprochen? Was ist überhaupt "seines", was ist seine Interpretation?


    Eine Frage, die sich mir immer wieder aufdrängt: Warum dieser Titel? Laut Duden gibt es zwei Variationen zur Erklärung, einmal steht der Begriff für die Göttin der Rache, andererseits für „ausgleichende Gerechtigkeit“. Gespannt bin ich, als was es sich für mich entpuppen wird. Gar zu gerne würde ich doch wissen, ob Roth derselben Meinung ist wie Bucky auf den Seiten 62, 63 (bezogen sind die Seitenangaben auf die Taschenbuchausgabe).

    Zitat

    Original von Lese-rina
    Man kann niemanden zur Liebe zwingen.


    Und doch geschieht genau das immer wieder, leider nicht nur im Roman.


    Zitat

    Mir macht es ja eigentlich gar nichts aus, hier so still vor mich hinzuschreiben, aber bei dieser Frage wundere ich mich schon, dass dazu noch gar nichts angemerkt wurde. Falls noch jemand mitliest, würde ich gerne eure Meinung dazu hören. Empfinde nur ich das so dramatisch? Findet ihr Pauls Verhalten wirklich richtig?


    Mitlesen immer ... nur leider fehlt mir momentan zu oft Zeit und Gelegenheit zu antworten.


    Deine Frage empfinde ich als ziemlich komplex. Was ist richtig, was ist falsch? Wer handelt hier richtig, wer falsch? Eines bedingt das andere, ein Gefühl provoziert ein anderes, ein Handeln ebenso ein anderes. Ich glaube, dass Paul - aus seiner Sicht - gar nichts anderes übrig blieb als so zu handeln, wie er es tat. Von daher: Sein Handeln ist für mich plausibel, es ergibt "Sinn", es hat sozusagen eine eigene Logik, für wie richtig oder falsch ich das auch halte. Paul ist für mich im Grunde die stimmigste Figur; dass ich ihn mag, wird man wohl erkannt haben :grin. Vielleicht mag ich ihn, weil ich bei ihm das Gefühl habe, er würde das "schwankende Schilfrohr" nicht brechen, sondern stützen - mit seinen Mitteln und denen, die er für richtig hält -, im Gegensatz zu einer anderen männlichen Figur in diesem Roman ... Namen werden selbstverständlich nicht genannt. :grin

    Zitat

    Original von Salonlöwin
    Zu "Ein Tag im Jahr: 1960-2000" gibt es bedauerlicherweise noch keine Rezension.
    Sind diese Aufzeichnungen ebenso empfehlenswert wie die neueren Tagebucheinträge?


    Unbedingt empfehlenswert. Man erlebt die Entwicklung nicht nur einer Schriftstellerin mit, sondern auch die Entwicklung einer Frau, die man versuchte einzubinden in das politische System und Gebahren "ihres" Landes, man erlebt ihre Kritik und Kritiklosigkeit. Mir ging es bei beiden Bänden ähnlich: Es gibt immer wieder Passagen, bei denen ich mich beim Kopfschütteln ertappe, ab und zu ärgere ich mich gewaltig, aber es ist immer interessant, was sie erzählt, es ist immer lebendig ... meinen Respekt und meine Verehrung für Christa Wolf sind auch durch diese beiden Bände gewachsen.


    Wenn Buzz das Buch beschreiben wird, brauche ich ja nicht mehr zu sagen, nicht wahr?

    Danke, Herr Palomar, dass Du das Buch hier vorgestellt hast. Ich habe es mir nicht zugetraut.




    Dem kann man nur unumwunden zustimmen. Und er wird fehlen, gerade weil er kein Blatt vor den Mund nahm.
    Bloß gut, dass er so viel geschrieben hat, da findet sich immer wieder ein Buch, das man unbedingt noch einmal lesen will und wird.

    Zehn Jahre später. Die Entwicklungsgeschichte Singapurs, im ganzen Roman schon sehr deutlich und nachvollziehbar geschildert, erfährt hier in einer einzigen Umschreibung für mich einen Höhepunkt: ein „etwas abgelegener tropischer Vorort London“ (Seite 450). Mehr braucht man nicht, um zu wissen, was dort vor sich geht.


    Paul – wie genau sein Blick für Georgina doch ist. Genau so, wie er sie Seite 453 charakterisiert, ist sie wohl. Und wird sie wohl bleiben, das legt man nicht ab wie ein altes Kleidungsstück. Sie wird immer jemanden brauchen, der ihr Halt gibt. Ihre bemerkenswerte Naivität scheint sie ja unbedingt behalten zu wollen (sh. Pauls Brief an Raharjo).
    Um ihn weine ich, wie um Ah Tong, wie um Mei Yu, um Leelavati. Vieles, was ihm widerfahren ist, hat er nicht verdient – aber das ist ja meistens so. Aber er hat, so glaube ich, die Fähigkeit, die glücklichen Momente bewusst wahrzunehmen und zu erleben und sie zu speichern, für schlechte Zeiten, von denen er weiß, dass sie kommen.
    Seite 477, die Worte, die er wählt: „mein(en) Sohn“, aber auch „nicht mein Fleisch und Blut“. Alles klar. Alles geklärt (auch Seite 481). Meine Hochachtung.


    Die beiden Brüder, Duncan und David (gibt es eigentlich einen Grund, warum beide Namen mit „D“ beginnen? Oder habe ich etwas überlesen?): Sie verstehen sich wunderbar. David, der Erdverbundene, nicht zu leugnender Sohn seines Vaters, er wird mithalten mit der Zeit und ihren Erfordernissen. Er wird sein ganz persönliches Lebensschiff und das ihm Anvertraute schon durch vorhandene Klippen und Untiefen steuern, um ihn ist mir nicht bange.


    Raharjo, was soll ich sagen? Zum ersten Mal in diesem Roman fühle ich wirklich mit ihm, suche ich nach Worten des Trostes für ihn. Die Hölle, durch die er geschickt wird, hat wohl bewirkt, dass er endlich auch einmal ehrlich zu sich selbst ist, dass er seinen verletzten Stolz beiseite schiebt. Leicht war das für ihn bestimmt nicht (Seite 497).
    Mein Herz blutet, wenn Raharjo so über Duncan und Li Mei redet, wie er das Seite 498 tut. Auch das Schicksal der Insel sieht er in ihnen erfüllt. Vielleicht hat er ja Recht. Aus Leidenschaft, für was auch immer, aus allem guten Willen, zu was auch immer, erwächst nicht immer Gutes. Fatal wird es dann, wenn andere die Rechnung bezahlen müssen für etwas, an dem sie nicht teilhaben.


    Der Schluss gefällt mir, er lässt vieles offen, verspricht aber ebenso viel.
    Trotzdem ist dies mein schmerzlichstes Buch von Dir, liebe Nicole. Das hat seine Gründe. Du wirst bemerkt haben, worüber und wozu ich schweige, weil in mir dazu nur ein einziges Wort aufschreit: „Nein“. Ich werde versuche, es Dir in einer PN zu erklären.


    Mein Gewissen malträtiert mich, ich hätte mal wieder viel zu viel geredet. Und wie immer, wenn ich meinte, nicht richtig verstanden worden zu sein, hätte ich wieder in epischer Länge und Breite mich zu erklären versucht. Mein Gewissen hat meistens Recht; ich kann daher nur sagen: Es tut mir leid, wenn ich so viele Worte gebraucht und so viel Platz beansprucht habe.
    Mein Gewissen hat mich auch ausgeschimpft, weil ich die schon fertige Rezi gelöscht habe. Aber ich glaube, es hat mich verstanden, auch wenn es mir vorhält, dass ich doch immer so viel Wert darauf legen würde, eingegangene Verpflichtungen seien möglichst zu erfüllen. Auch das erklärt sich vielleicht aus der PN.


    Danke für das Buch, Danke für die Leserunde, Danke für die Bilder und erklärenden Worte. Und Danke für lobende Worte! :anbet :knuddel1

    Zitat

    Original von Nicole



    Das hat mich ein bisschen gewundert, dass das hier in der Runde bisher noch gar nicht angesprochen wurde.
    Ja, absolut linkes Ding - aber so klug eingefädelt, so gezielt ausgeteilt ...


    Paul ist eben lernfähig, und bei einem Lehrmeister wie Raharjo bleibt ihm gar nichts anderes übrig ... meiner Meinung nach.



    Meine Eindrücke:
    Vordergründig scheint sich also erst einmal alles zum Besseren zu wenden. Singapur wächst, der Reichtum wächst, die Geschwindigkeit des Lebens wächst.
    Zeiten des Neuen auch auf L'Espoir. Zeiten des Neuen bedeuten immer auch Zeiten des Abschieds. Ein Stück Vertrautheit für Georgina geht verloren. Aber welch Schock hat sie zu erleiden. Für mich erklärt sich nun einiges, dass man ihr ihr malaiisches Blut angesehen hat zum Beispiel.
    Paul könnte ihr Halt geben, aber nimmt sie es an? Cempaka dagegen, endlich hat sie Gelegenheit zu etwas, was man vielleicht sogar mit dem Wort Rache umschreiben könnte.
    Georgina verstehe ich und verstehe sie nicht. Irgendetwas an ihr bleibt mir fremd. Zu meiner Schande muss ich sagen, dass sie Entscheidungen getroffen hat, die mich nicht unbedingt dazu bringen, Vertrauen in sie zu fassen, sie ganz erfassen zu wollen. Im Gegenteil, manchmal möchte ich sie schütteln, sie fragen, ob sie sich vielleicht nicht auch mal Gedanken über andere und anderes machen möchte. Über das, was Paul ihr Seite 408 entgegenhält, zum Beispiel. Nein, sie kann nicht erkennen, was Paul für sie getan hat, weil sie es nicht will, weil sie viel zu sehr fixiert ist auf das, was ihr vermeintlich genommen wurde, wo sie sich betrogen fühlt. Aber dagegen ist man chancenlos. „Du hast noch nicht einmal versucht, mich je kennenzulernen“ (Seite 409). Das ist nicht nur ein Steinchen, das ins Wasser geworfen wird, das ist ein ganzer Felsbrock, und die Ringe, die sich zart bilden könnten, werden brutal von den Wellen überrollt.
    Paul verlässt sie auf Zeit, um ihr Zeit zu geben. Und mehr.


    Natürlich Raharjo, wieder mal. Hört das nie auf? Obwohl er ihrer Familie ja einiges angetan hat, was man früh ahnte. Dass er aber Paul so unterschätzt, schenkt mir eine gewisse Befriedigung. Entschuldigung. Nicht nur, dass er genau gewusst hat, dass seine Frau ihn mit Raharjo betrügt. Seine „Warnung“ (Seite 428) lässt ein kleines heimliches Teufelchen in mir frohlocken. Erstaunlich ja immerhin, dass Raharjo zu der Erkenntnis gelangt, seine Frau und seine Kinder würden ihn brauchen, ohne ihn schutzlos sein; mich lässt das für ihn hoffen.
    Zu alt fühlt sich Raharjo zur Rache, na, das ist doch auch mal eine gute Nachricht. Entschuldigung! Wenn er allerdings dem Kind – Jo – etwas antun würde, hätte er nicht nur in Paul einen Todfeind. Ach je, jetzt werde ich noch pathetischer als gewöhnlich. Aber welcher Wind hat ihn gerade an diesen Strand gespült?


    Georgina und Raharjo nehmen also erwartungsgemäß ihre Beziehung wieder auf. Scheint auch ruhiger zu verlaufen, diesmal … ähm, ich meine ohne die Beleidigungen und Verletzungen. Die Bitterkeit, denke ich mir, wird nicht verschwunden sein, aber das Alter und die vergangene Zeit werden das Ihre dazu beigetragen haben, um Balsam auf verwundete Seelen zu legen. Und wahrscheinlich spürt Raharjo, welche und wie tiefe Wunden Georgina erlitten hat durch die Offenlegung des Geheimnisses. Genau wie Paul, er geht nur anders darauf ein. Welches Eingehen besser ist, sei dahingestellt.


    Was soll man für sie wünschen? Gerade in Bezug auf Seite 430 wünsche ich ihr vor allen Dingen eines: Dass sie lernt, loszulassen. Ihre Träume, ihre Trauer. Das wäre nicht nur für sie gut.


    Duncan ist wieder da. Er will zur See. Natürlich. Sie wird ihn lassen. Natürlich wird sie das. Er wird auch für sie fahren. Wird ihre Sehnsucht mitnehmen. Ich glaube nicht, dass sie Angst um ihren Sohn hat. Höchstens davor, dass er in der Welt der Weißen an Wert verlieren wird (Seite 389).


    Seite 421 bringt einer leidenschaftlichen Teetrinkerin die Frage, was denn bitte eine „Stimme wie bitterer Kaffee mit einem Schuss Milch“ ist. Darunter kann sie sich nämlich so gar überhaupt nichts vorstellen.

    Zitat

    Original von SiCollier


    Ist das für Stammleser nicht schwierig?


    Wenn ich mich da einfach mal einklinken darf und weil ich mich als Stammleser ein wenig angesprochen fühle: Eine Weltreise mit Nicole mache ich mit, aber nicht eine Reise in magische/paranormale "Gegenden". Es gibt Grenzen, die ich nicht übertreten mag. So gesehen: Es ist ein ganz klein wenig schwierig - und vielleicht nicht nur für mich -, dass Nicole ihr "Einzugsgebiet" erweitert und Geschichten schreibt, von denen ich weiß, dass ich sie nicht glauben kann. Weil sie mir sonst nämlich alles so schlüssig und nachvollziehbar beschreibt.

    Wie unterschiedlich man doch diese Geschichte(n) lesen kann!


    Zitat

    Original von Lese-rina
    Georgina denkt schon an ihre Kinder, sonst hätte sie wohl nicht gezögert, mit Raharjo zu gehen. Außerdem wird sie als sehr liebevolle und umsichtige Mutter geschildert, ich finde es deswegen in diesem Zusammenhang unfair, ihr vorzuwerfen, sie wäre eine schlechte Mutter. Die Kinder haben mit dieser Affäre am allerwenigsten etwas zu tun und dass sie mal an sich denkt möchte ich ihr als Frau wirklich nicht vorwerfen.


    Zweifelt denn jemand daran, dass sie ihre Kinder liebt? Und gerade darum habe ich erwartet, dass sie das Wohl der Kinder nicht aus den Augen verliert, wenn sie darüber nachdenkt, zu Raharjo zu gehen. Das Verhalten dieses Mannes gegenüber seinen eigenen Kindern mit Leelavati kann ich nicht aus den Augen verlieren; was würde mir denn garantieren, er würde Georginas Kinder anders behandeln als diese - weil sie eben an demselben Umstand "kranken", wie seine ... haben die einen die aus seiner Sicht "falsche" Mutter, so die anderen die aus eben derselben Sicht "falschen" Vater. Soll ich denn wirklich glauben können, er würde ihre Söhne begeistert aufnehmen, nur weil Georgina ihre Mutter ist? Und welches Monstrum an Donnerwetter würde denn wohl losbrechen, wenn er irgendwann erkennen würde, dass Duncan sein Sohn ist?
    Ersteres kann Georgina nicht wissen, zweites aber zumindest ahnen. Und wie gesagt, was ist mit der Liebe der Kinder zu ihrem Vater? Müssen die darunter leiden, weil sie in eine Ehe gedrängt wurde, die sie nicht wollte, an der sie aber, und das kann ich nicht so ganz vergessen, letztlich nicht ganz schuldlos ist. Ohne die Schwangerschaft wäre es Paul wohl nicht so leicht gefallen, sie vor dem Zorn ihres Vater zu retten.


    Ja, ich hätte mir auch gewünscht, sie hätte mal an sich gedacht. Dann hätte ich ihr gewünscht, dass sie zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass sie ihrem charmanten Liebhaber ... nein, ich sage jetzt nicht, was ich denke, sondern formuliere es anders: Sie hätte ihm den Laufpass geben sollen, bis sie sich sicher war, dass er sein arrogantes, von maßlosem und verletztem Stolz geprägtes Verhalten geändert hätte, bis sie sich seiner sicher gefühlt hätte und sie nicht auf weitere Verletzungen und Beleidigungen gefasst sein musste.
    Aber es müsste, so glaube ich, schon ein mittleres Erdbeben geschehen (nicht in Singapur, aber in Raharjo), um ihn zu ändern, um seinen Blick zu weiten für die Ängste und Leiden anderer, um ihn zum Nachdenken zu bewegen und mehr zu sehen als sich selbst und das, was ihm vermeintlich angetan wurde.


    Trotzdem bliebe da noch ein Knackpunkt:

    Zitat

    Paul nutzt das vermeintliche Wohl der Kinder eiskalt, um seine Interessen durchzusetzen. Das ist meiner Meinung nach genauso unschön und sein Vorwurf an dieser Stelle absolut unangebrac


    Paul handelt in meinen Augen genau so, wie ich es von ihm erwartet habe. Hätte er auch nur ein Jota von dem Weg abgewichen, den Nicole ihn gehen lässt, wäre er mir nicht mehr glaubwürdig erschienen.
    Ja, ich finde schon, er handelt zum Wohl seiner Kinder. Sie hätten doch sowieso irgendwann nach good old britain gehen müssen zur weiteren Ausbildung, gesellschaftlichen Schliff etc. pp., warum sollte er nicht die Gelegenheit ergreifen, das in dem Moment in die Wege zu leiten, als seine Ehe im höchsten Maß gefährdet war?
    Ich kann ihm das nicht vorwerfen, sondern gestehe ihm zu, dass er alles in seiner Macht Stehende tut, um das zu halten, was ihm das Wertvollste ist, nämlich Georgina und die Kinder, seine Ehe.
    Was hätte ihm denn sonst zu Gebote gestanden? Hätte er ihr das Köfferchen packen und sie mit freundlichem Gruß an Raharjo schicken sollen? Hätte er Raharjo zum Duell zur Teatime an den Strand bitten sollen?
    Entschuldige bitte, wenn ich mich in Ironie flüchte, aber Paul stehen nicht ansatzweise die "Waffen" zur Verfügung wie sie Raharjo hat. Er ist immer in der schlechtesten Position. Paul liebt seine Frau, das spüre ich sehr deutlich. Und das er daneben den Geschäftsmann nicht verleugnen kann ... könnte Raharjo denn jemals den Seemann ablegen?


    Sieh es mir nach, liebe Lese-rina :knuddel1, wenn ich das Bittere, das im Hintergrund lauert, in diesem Roman nicht aus dem Kopf bekomme. Vielleicht sollte ich von all dem schweigen. Ich bin zu alt und vielleicht auch zu müde, um an ein romantisches Happy End für Raharjo und Georgina zu glauben. Sich nach der Decke strecken und trotzdem die Hoffnung auf eine erfüllende Liebe nicht aufzugeben, das ist schwer genug, auch für diese beiden. Glaube ich.


    :knuddel1

    Schmunzeln musste ich über die verschiedenen Sichtweisen des Raharjo eigenen Charakters (Seite 306, 307). Sie haben letztlich alle Recht, jeder aus seiner ganz eigenen Perspektive. Er ist eine schillernde Persönlichkeit – was ich so über den Himmel über Singapur lese, über die Farben, die Wolken, lassen mich diese Unbeständigkeit im Beständigen am ehesten mit Raharjo vergleichen. Natürlich fragt man sich, ob Bunga nicht auch mit ihrer Bemerkung ins Schwarze trifft, er hätte niemals heiraten sollen. Da ist was dran und beantworten kann man die Frage im Grunde nur nach Tagesform … nicht meiner, sondern Raharjos.


    Seite 311: Das Verkaufen der Töchter. Es ist bedrückend, wie lange es das schon gibt und dass es immer noch nicht abgeschafft ist, wohl auch nicht abzuschaffen ist. Irgendein kluger Mensch hat mal gesagt (sinngemäß), das Maß der menschlichen Reife messe sich an seinem Verhalten gegenüber den Schwachen, er meinte damit in erster Linie die Kinder. Mir scheint aber zunehmend, dass man das auf die weibliche Bevölkerung ausdenen muss. Und nicht nur in sogenannten Dritte-Welt- oder Schwellenländern und ja, immer noch.


    Diese kleinen zarten Erinnerungen von Mei Yu an ihre „Bergung“ nehmen mich wieder mehr für Raharjo ein. Was hat er wohl in ihr gesehen? Seine jüngeren Schwestern? Oder auch das Kind Georgina?


    Selbige ist also wieder in Singapur. Sie hat noch ein Kind, Josephine, ist nun 33 Jahre alt und kommt zu Erkenntnissen, auf die ich schon gefühlte 1000 Seiten warte. Paul ist so schlecht nicht. Wenn er nicht die Leidenschaftlichkeit eines Raharjo hat, kann man ihm das wohl kaum vorwerfen. Er sorgt für seine Familie und zwar gut, er tut alles, was in seiner Macht steht, er liebt seine Frau und die Kinder, er greift nicht zu Mitteln der körperlichen Gewalt. Er bemüht sich nach meinem Verständnis darum, Georginas Leben und Leiden leicht zu machen, er macht ihr keine Vorwürfe über ihr Verhältnis. Man darf aber wohl gespannt sein, wie lange diese ihre Einsicht denn anhält oder ob sie beim stärkeren Gegenwind wieder in sich zusammenfällt. „Sie war eine Distel, mit Lavendelzweigen umflochten“ (Seite 323). Eine bemerkenswerte Selbstcharakterisierung. Die meiner Meinung nach zutrifft. Und die ihr noch das eine oder andere Unangenehme bescheren wird. Und anderen, natürlich, das auch. Eine Distel, ein wehrhaftes Gewächs. Mit einem seidenweichen Herzen. Es gibt Lebewesen, die da leicht drankommen. Raharjo … eine Art Distelfink? Ohne Rücksicht auf Verluste, Hauptsache, er bekommt, was er will, wird satt, ob die Blume dabei zerstört wird, was kümmert es ihn? Und den Lavendelduft für die Kinder? Und die Stacheln für Paul … und für sich selbst?
    Aber in ihrem Grübeln Seite 325 fehlt noch ein Puzzlesteinchen. Begreift sie denn nicht, dass Paul sie nicht nur für die Söhne fortgeschickt hat, nicht nur als Mittel zur Rettung der Ehe, sondern auch zu ihrem eigenen Schutz? Bemerkt sie das Zerstörerische an dieser Beziehung nicht, kann sie es nicht?


    Eine Frage, die sich mir immer wieder stellt, wenn ich von Gordon lese und Georginas Fragen: Dass er nicht über ihre Mutter sprechen will, ist meiner Meinung nach nicht mehr nur Trauer, da ist noch etwas anderes. Mein Verdacht, dass es eine ähnliche, vergleichbare Konstellation wie bei Georgina/Paul schon einmal vorgekommen sei in dieser Familie, will nicht weichen.
    Bedauerlich der Tod Ah Tongs. Aber erwartet, irgendwo. Und dankbar, dass ich davon lesen darf. Dass das nicht in einem Nebensatz abgetan wird. Sondern Raum bekommt. Er wird fehlen, nicht nur dem Garten. Irritierend wieder das Verhalten Cempakas, sie beschimpft Georgina, obwohl so lange Zeit Frieden herrschte. Brüchiger Frieden, wie sich ja herausgestellt hat, aber immerhin. Ihren Hass von Georgina auf Jo zu verlagern, deutet auf zweierlei hin: Einmal ist natürlich das weibliche Element, das diese Reaktion hervorruft, zum Zweiten die Ähnlichkeit des Kindes mit ihrer Mutter. Georgina – die Hexe. Jo – das Hexenkind. Und zukünftige Hexe? Die Szene am Schluss des 21. Kapitels gibt mir schwer zu denken. Man hat das Gefühl, dort widerspiegelt sich ein Geheimnis, vielleicht, nein, mit Sicherheit berührt es auch das Geheimnis um Georginas Herkunft.


    Mei Yu also. Raharjos Retterin. Irgendjemand musste ja kommen, das war ja langsam nicht mehr zum Aushalten mit dem Herrn. Aber das sie ihn so verführt. Alle Achtung. „... eine Wunde seiner Seele...“ (Seite 333) – mein Reden, nicht nur eine hat er, zu viele vielleicht. Warum hat sie eigentlich keine Angst vor ihm (Seite 335) – gute Frage, die er da stellt. Vielleicht lautet die Antwort einfach, weil er ihr die Angst genommen hat, weil er ihr nicht nur einen Blick in ihr Herz gewährt hat (wessen er sich natürlich nicht bewusst ist), sondern weil sie auch hingeschaut hat, sehr genau sogar, genau dorthin, wohin sonst selten jemand blick.
    Mein erster Eindruck von ihr war, dass sie hoch spielt. Aber dieser Eindruck blieb nicht lange. Nein, mir erscheint sie fast wie eine kleine, perfekte Blume, dazu da, mit ihrem Leben Freude zu schenken, aber nicht für ein eigenes langes Leben geschaffen zu sein. Sie ist das Beste, was Raharjo passieren konnte. Sie wird schwanger – natürlich. Ihre Fähigkeit, Wunden zu heilen, kann und darf nicht verloren gehen. Sie stirbt – natürlich, möchte man sagen, sie ist zu zart für diese Welt und vielleicht auch für das Maß an Schuld, das zu vergrößern sie geholfen hat. Aber das Glück darf man wohl trotzdem beiden gönnen.


    Li Mei – noch eine kleine Wundenheilerin. Zumindest sorgt sie unter tätiger Mithilfe von Leelavati dafür, dass Raharjo seine Kinder als das wahrnimmt, was sie sind. Vielleicht wird sie auch eine Versöhnerin?
    Vor Leelavati ziehe ich erneut meinen Hut. Gut, dass sie endlich mal energisch wird. Verdient hat Raharjo auf jeden Fall, was sie ihm alles sagt.
    Und Raharjo? Er trauert, er erleidet den Verlust seines Lebens. Die Szene mit den Kindern ist fast zu schön, um wahr zu sein. Mir geht es wie Veena, wie lange hält das wohl an, wann kommt die Enttäuschung wieder? Der Tod, meint Leelavati, habe ihn gezähmt. Ich glaube das nicht, sondern vielmehr, dass er ihn „nur“ betäubt hat.


    Ein hochinteressanter Abschnitt. Da wird einiges geboten. Erwartetes, etwas Unerwartetes, kleine Löcher tun sich auf, um einen Blick in die nähere und fernere Vergangenheit zu gewähren. Sie lüften das eine oder andere kleine Geheimnis, werfen aber wieder Fragen auf.

    Zitat

    Original von Nicole
    Ich habe heftigst überlegt, welche Schrift Du meinen könntest - bis mir spontan Tamil eingefallen ist.
    Diese Zeichen hatte ich mir ausgesucht, weil ich die hübsch und irgendwie passend fand - und jetzt denke ich, vielleicht auch deshalb, weil sie mich komplett unbewusst an Tamil erinnert haben könnten.


    Na ja, ich kann es ja jetzt zugeben, wir sind ja unter uns :grin: Ich hatte mir tatsächlich eingebildet, es wäre vielleicht der Name dieser seltsamen blauen Orchidee in der Landessprache oder so ...





    Zitat

    Und mach Dir keine Gedanken wegen der Leserunde hier - ich bin auf jeden Fall auch noch länger da und wart auf Dich.
    Mir tut's nur so leid, dass das Leben bei Dir gerade so hart zuschlägt - alles, alles Liebe für Dich! :knuddel1


    Danke!

    Mühsam ernährt sich das lippische Eichhörnchen ...



    Ein neues Haus für die Familie, aber die Probleme bleiben nicht nur, sie scheinen sich zu steigern. Georginas Verhalten stärkt in mir eigentlich den Verdacht, sie habe irgendeine Beziehung bzw. Bindung an die Orang Laut. Aber „niedlich“ ist doch ihre Eifersüchtelei. Seltsames Mädchen- sie träumt von einem anderen, aber bitte, eine Nebenbuhlerin sollte es dann doch nicht geben (nicht, dass das einmalig wäre, man hörte schon dergleichen). Die finanziellen Probleme, von denen Paul berichtet, lassen natürlich sofort die Gedanken an Raharjos Drohung schweifen. Aber ob es so „einfach“ ist?
    Manchmal verliere ich ein wenig aus dem Blick, wie alt bzw. jung sie ist. 26 also, jung genug für alle Schandtaten.


    Raharjo ist mir manchmal allzu komplex, ich habe hin und wieder Mühe, ihn zu verstehen … und will es wenigstens im Moment auch gar nicht. Aber: Sein Vorschlag, seine Wortwahl auf Seite 256 sind genau das, was ich von ihm erwartet hatte … und trotzdem werde ich ihm beides nicht so rasch verzeihen, wie immer Georgina das auch sieht. Ihre Antwort, sie würde es für ihre Kinder und die Firma ihres Vaters tun, überzeugt mich nicht ganz. Mich irritiert, dass sie Vorschlag und Wortwahl erst einmal so hingenommen hat, selbst wenn ich Zeit und Ort und ihre schwächere Position berücksichtige.
    Wenigstens sagt sie ihm (noch?) nicht, dass einer der Söhne sein Kind ist. Ab und an zeigt sie wirklich einen Anflug von Vernunft (wenn es um Raharjo geht). Pardon. Aber das musste einfach mal gesagt sein.


    Bei der einen oder anderen kleinen Szene habe ich den Eindruck, sie versucht, mit Raharjo zu „spielen“, beispielsweise wenn sie diese … Bezahlung als einmalig hinzustellen versucht (vielleicht ist es aber auch „nur“ ein Versuch, etwas von der Schärfe, dem fast schon gewalttätigen Potential aus der Beziehung zu nehmen). Sie wird doch wohl nicht allen Ernstes geglaubt haben, dass Raharjo es dabei belassen würde .. und wohl auch nicht gehofft, so wie ich sie einschätze.


    Der Orang Laut schafft es jedenfalls spielend, sie aus ihren Träumen herauszureißen, seine Beleidigungen (Seite 268) geben zwar in einem Fall die Tatsache wieder, im anderen Fall nur seine Vorstellung, aber sagt man so etwas der Frau, die man zu seiner Geliebten gemacht hat? Doch wohl nur, wenn man sich ihrer allzu sicher ist, wenn es kein Miteinander geben soll, sondern nur ein Beherrschen. Die Worte, die diese Beziehung kennzeichnen, werden deutlich genug genannt: Seite 267 „Lust und Begierde“, Seite 271 „Leidenschaft“. Und sonst, was ist da sonst noch? Im vorigen Abschnitt habe ich diese Beziehung etwas Seltsames, etwas nicht Erklärbares genannt, hatte einen anderen Begriff dafür gestrichen: Manie. Georginas Verhalten gegenüber ihrer Familie spricht fast dafür (Seite 274).


    Paul weiß anscheinend Bescheid. Und wohl nicht nur er, eine Beziehung zu einem Mann wie Raharjo lässt sich auf Dauer nicht verheimlichen (entweder ich habe es nicht bemerkt oder es wird nicht erwähnt, dass dieser sich sonderlich um Geheimhaltung bemüht, aber ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass er es tun würde, ganz im Gegenteil). Nun wird es interessant, oder brenzlig, je nachdem. Es geht schließlich ums Geschäft und Raharjo ist wohl auch für Paul erkennbar nicht jemand, mit dem man sich anlegt, will man als Händler überleben und gut überleben. Der arme Paul. Die Geschichte ist nicht zu Ende, auch wenn er sie fortschickt, daran glaube ich keine Minute, und das nicht nur, weil noch etliche Seiten bis Romanende zu lesen sind. Sein Anwurf „Was bist du nur für eine Mutter“ erscheint mir eine allzu berechtigte Frage zu sein, die mir im Übrigen auch schon hin und wieder in den Sinn kam, spätestens, als sie sich einbildet, sie könne mit den Kindern zu Raharjo gehen. Hat sie überhaupt kein Gefühl dafür, was sie David damit auf Dauer antun würde (auch wenn das Abenteuer natürlich erst mal lockt – und was ist im Übrigen mit der Liebe der Kinder zu Paul)? Ihre Leidenschaft für Raharjo scheint mir ihren Sinn für Relationen und Realitäten ein wenig zu trüben. Es geht nicht nur um sie. Aber mehr als ihre Emotionen, ihre Wünsche und Träume nimmt sie ja fast nicht mehr war, der Realität ins Auge zu blicken scheint nicht mehr nur nicht wünschenswert, sondern vielleicht ab einem Punkt auch nicht mehr möglich.


    Pauls Bestreben, „Georgina vor dem Wahnsinn zu bewahren“ (Seite 285) ist vielleicht das, worum es geht. Er ist das erdverbundene Gegenmittel zu einer Macht, die diesen Wahnsinn ausgelöst hat, wer immer sie auch sei. Ich sagte es schon einmal, Liebe ist das für mich nicht. Da ist etwas, was die Menschen nicht „erhebt“, sondern sie zerstören will. Ich empfinde diese Beziehung nach wie vor als beängstigend.


    Irritierend ist auch, dass nicht nur Raharjo alleine in ihr malaiisches Blut sah. Eigentlich sollte man denken, dass diese Leute einen Blick dafür haben, wer zu ihnen gehört und wer nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass doch einiges davon abhing, jemand „zu erkennen“, zu wissen, zu welcher Volksgruppe er gehört. Hin und wieder schleicht mir die Frage durch meine Gedanke, ob ihr Vater auch ihr leiblicher Vater ist? Oder ob es da eine vergleichbare Konstellation wie bei Paul und Georgina gab.


    Leelavati handelt. Weil sie nicht anders kann, weil sie sich nicht mehr zu helfen weiß. Ihre Liebe zu Raharjo … Entschuldigung, aber ich finde nicht, dass er sie – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – auch nur ansatzweise verdient. Auch wenn das, was sie tut, nicht richtig ist, es hätte ihrem Mann vieles erklärt, auch wenn es die Situation zwischen den verschiedenen Paarkonstellationen verschärft hätte. Aber besser wird es jetzt wohl auch nicht.


    Ich glaube, dass Du, liebe Nicole, gespürt hast, wie wenig liebenswert Raharjo auf die Leserinnen und Leser wirken wird, nun bekommt er Gelegenheit, eine Seite zu zeigen, von der ich nicht vermutet habe, dass sie vorhanden sein würde, schon gar nicht, wenn ich berücksichtige, wie er seine eigenen Kinder behandelt. Die Beschreibungen des Kinder-Elends ab Seite 292, besonders 295 lassen mir wieder die Kehle eng werden. Nichts, was ich nicht weiß, wird dort beschrieben, aber sehr eindrücklich, es kommt mir zu nah. Raharjo bemüht sich um eines der Mädchen, es will nicht reden, scheint aber – instinktiv? Das ließe vielen Gedanken Raum – Vertrauen zu ihm zu fassen. Einerseits schön zu lesen, was und wie es sein könnte, sein Verhalten zu den Kindern, andererseits verstörend, weil es nur (wenigstens bisher) diesem Kind gilt. Aber sie wird wohl noch eine gewichtige Rolle zu spielen haben, so ausführlich, wie das alles geschildert ist ...

    Raharjo ist nun also reich geworden, eine Heirat wird arrangiert wie ein Geschäft (auch wenn die Braut nie im Leben "nein" gesagt hätte), er hat ein Haus gebaut, das wunderschön sein muss – besonders die Beschreibung des Inneren, des Lichts und der Farben hat es mir angetan, dafür hat er meine Hochachtung -. Man scheint ihn zu respektieren, vielleicht sogar zu fürchten; auf jeden Fall ist er nun jemand, mit dem man sich gut stellen sollte. Tja. So weit, so gut – oder ungut.
    Er ist ein seltsamer Mensch, Treibholz seiner Zeit, seiner Umgebung. Die Wunde, die ihm geschlagen wurde (nur durch Georgina?), erklärt mir manches, aber nicht alles. Vermutlich kommt die Entfremdung in Bezug auf seine Familie hinzu.
    Das geschilderte Verhalten gegenüber seinen Kindern erscheint mir fragwürdig, auch wenn ich Zeit und Ort berücksichtige. Warum tut er ihnen das an, was haben sie ihm denn getan bzw. was können sie dafür, dass Georgina nicht ihre Mutter ist – sollte er nicht wissen um die Schwäche und Schwachheit von Kindern? Im Moment finde ich wenig Liebenswertes an ihm … und wenn er so weitermacht, ist ihm wenigstens augenblicksweise meine Verachtung sicher. Was ganz besonders in Bezug auf seine „Ehre“, seinen verletzten Stolz gilt. Was ist das doch für ein misshandelter, missbrauchter und vergewaltigter Begriff. Raharjo bringt er dazu, nicht einmal nachzudenken, nicht einmal eine einzige Frage zu stellen, er will gar nicht wissen, ob Georgina auch nur den Hauch einer Chance gehabt hätte, anders zu handeln, als man ihr auferlegte. Aber es ist, wie es ist: Er ist nicht der Erste, und er wird nicht der Letzte sein, der so handelt. Das zu lesen, bedrückt mich sehr, und ich habe mir sogar leise die Frage gestellt, ob es ihm nicht einmal etwas ausgemacht hätte, wenn er in Georgina Hass geweckt hätte.


    Georgina … in gewisser Weise ist sie Raharjo sehr ähnlich. Ein Teil ihres Wesens fehlt, sagt sie Seite 224. Ein wesentlicher Teil, möchte man hinzufügen. Manchmal habe ich das Gefühl, sie habe irgendeine (familiäre?) Bindung an die Orang Laut. Etwas beängstigend empfinde ich die Beziehung zu Raharjo. Liebe, sagt sie, sagt er. Aber in dieser Abhängigkeit ist fast etwas Seltsames, etwas nicht Erklärbares (dämonisch fiel mir auch noch ein, aber der Begriff ist mir dann doch zu stark) … jedenfalls sehe ich da etwas, was ich mit dem Begriff Liebe, so wie ich sie verstehe, nur bedingt in Einklang bringen kann. Leidenschaft – einverstanden. Rausch, Lust, Begierde – auch einverstanden. Mir kam der Liebestrank aus „Tristan und Isolde“ in den Sinn. So wirkt das auf mich: Etwas hat seinen „Zauber“ gesprochen, sein „Netz“ ausgeworfen, und die beiden sind darin gefangen, ob sie wollen oder nicht (und das ist ihnen natürlich nicht bewusst).


    Jedenfalls würde ich für eine langfristige Partnerschaft keine großen Chancen sehen. Sie würde irgendwann an der Realität scheitern, auch wenn Raharjo nun reich ist, ein großes Haus führt und sich „zu benehmen“ weiß (wenigstens, so lange es dem Geschäft dient). Letztlich liegt es vielleicht – auch – daran, dass Georgina zu wenig von der Welt der Orang Laut kennengelernt hat, sondern nur das, was Raharjo ihr erzählt hat, nur das, was sie sich vorstellt. Und was, wenn die Leidenschaft abkühlt?


    Das Gerede, Georgina würde Unglück und Unheil bringen, wohin sie auch gehe, hat etwas Rätselhaftes. Cempaka erwähnte es auch schon … und ich frage mich, ob es nicht mit dem erklärlich ist, was Paul Bigelow anspricht (ihr Ausweichen, was er auch unternimmt, Seite 223). Manchmal habe ich den Eindruck, sie ist nicht wirklich bindungsfähig, etwas hält sie ab, sich ganz einzulassen, sich ganz zu öffnen. Ihre Kinder scheint sie zu lieben, sie scheint auch zu wissen, welchen Halt ihr Bigelow bietet, bieten kann. Hat man sie allzu deutlich spüren lassen – und nicht im Guten -, dass sie als einziges Kind überlebte, während alle anderen und die Mutter starben? Jedenfalls: Ab einem Punkt ist sie nicht mehr zu fassen, und ich vermute stark, das würde auch für Raharjo gelten.


    Paul Bigelow jedenfalls tut mir aufrichtig leid. Manchmal, das sei eingestanden, werfe ich ihm ein „konntest du dich nicht in jemand anderes verlieben?“ an den Kopf. Schlimm, nicht wahr?


    Und dann ist da ja auch noch Leelavati. Ein so schöner Name. Und so schöne Träume. Und der schönste … zerplatzt. Und niemand da, der sie trösten wird. Hoffentlich schlägt ihre Liebe nicht einmal um, in Hass, oder in Verachtung.


    Die historischen Begebenheiten, die Beschreibungen von Land und Leuten, von Farben und Gerüchen haben es mir angetan und ich mag mir gar nicht vorstellen, wie viele Recherchen dafür nötig waren, wie viel Zeit das „gekostet“ hat (ist ja schon beantwortet, aber, Pardon, es war nun schon mal geschrieben :grin). Für mich bringen sie jedenfalls Ruhe in diesen Roman, derer ich manchmal doch etwas nötiger bedarf. Die Personen lassen mich nicht gleichgültig, ich würde die Eine oder den Anderen manchmal am liebsten in den Arm nehmen und trösten, ich schimpfe mit ihnen, schüttele über sie den Kopf, in einem Fall habe ich mich gar dabei ertappt, eine Ohrfeige austeilen zu wollen! Ich! Schlimm, ich sag's ja...


    Wieder eine Frage: Was bitte, ist „herzloses Blau“ (Seite 237)? So etwas wie ein kalter eisblauer Januarhimmel, versetzt ins schwül-heiße Singapur?