Beiträge von Lipperin

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    Original von Clare


    Daran kann ich mich erinnern, und das meinte ich gar nicht. Ich meinte seinen völlig fehlende Drang, seiner geliebten Tätigkeit, seinem Leben sozusagen, weiter nachzugehen.


    Ich denke mir, dass das ineinandergriff, diese Welt war nicht mehr die seine, in keiner Beziehung. Ich glaube auch nicht, dass er nur ansatzweise verstanden hat (oder verstehen wollte, so genau durchschaue ich ihn nicht), was da im Grunde vor sich ging.

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    Original von Clare


    Das ist mir gar nicht so aufgefallen. Schade. Das muss wieder so eins der Details sein, die ich nicht bewusst wahrgenommen habe. Gut, dass du aufgepasst hast.
    So erscheint sein weiterer Weg in einem neuen Licht.


    ... und dabei zerdeppert er doch dann sogar Gläser :grin (Seite 45).

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    Original von Regenfisch
    Die Begegnung mit Django hat mich bewegt. Die beiden Lebenswege kreuzen sich noch einmal für einen kurzen Momnet. Er ist liebevoller Vater, bürgerlich geworden, ein Leben, das sich Franziska nicht mehr vorstellen kann, ja, was sie fast verabscheut.


    Aus meiner Sicht war es gut, dass sie ihn noch einmal getroffen hat, so hatte diese Geschichte für sie einen Abschluss und es blieb sozusagen kein offener Traum mehr.
    Ihr erinnert euch sicherlich an Seite 42 - "Django hat sich eingerichtet, er ist tot" -, diese Worte haben jetzt einen ganz eigenen "Geschmack".

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    Original von Clare
    Was hat ihn dazu getrieben, sich nach dem Ende des Krieges nicht um weitere Verlegerarbeit im neuen System zu bemühen? Diese Arbeit war ja sein Leben.


    Irgendwo spricht Franziska davon, dass das Heute nicht mehr seine Welt war. Im Grunde nicht einmal das 19. Jahrhundert. Und dann sind ja noch irgendwelche Druckmaterialien eingeschmolzen worden, das war wohl der ausschlaggebende Punkt.

    Seite 357 taucht ein Gedanke auf, der mich, seit ich das Buch kenne, beschäftigt: Ein Mann und eine Frau lernen sich kennen, erfahren über einander und nun, wie hier formuliert, ist der andere das „unbekannte Land“. Die Geschichten, die Franziska für ihn hatte, für sie plausibel, für sie erklärbar und hinterfragbar, tragen nicht mehr, weil die seinen dagegen stehen und das dann noch immer mit dem Anspruch, die Wahrheit kundzutun. Es trifft das Grundproblem von Erwartung und Wirklichkeit, von Hoffnung und Enttäuschung, aber so wunderschön ge- und beschrieben wie hier habe ich es selten gelesen.
    Ben jedenfalls ist außerordentlich gebildet, belesen, er weiß einzuschätzen und fundiert zu argumentieren, wie beispielsweise hier seine Erläuterungen zu Neustadt. Für mich sind die Sätze und Absätze ab Seite 358 letzter Absatz eine Erwiderung auf Franziskas Theorie von der „planerischen Idee, die“ Häuser „zur Stadt verbinden“ (Seite 336). Dass er „nur“ Fahrer ist, glaubt nicht einmal Franziska. Er ruht aber doch in gewisser Weise in sich selbst, wobei die Frage, ob das „anerzogen“ oder „natürlich“ ist, nicht (oder noch nicht) so leicht zu beantworten ist. Die dunklen Momente aus seiner Vergangenheit sind bei ihm wohlverwahrt, die vertraut er nicht so leicht jemandem an; vielleicht auch, weil er nicht mehr erinnert werden will, sich selbst nicht mehr erinnern will. „Raskolnikow“ (Seite 423)? Nein, für mich passen Ben, auch eventuell der „frühe“ Ben und jener nicht so recht zusammen, meine Vorstellungen von den beiden sind doch einigermaßen auseinander.


    Franziska als Objekt der Begierde, auch der Schafheutlinschen, natürlich, sie ist zu apart, um dem zu entgehen. Dass ihr Ehemann nicht gut für sie war, merkt man an vielen Dingen, unter anderem – meiner Meinung nach – auch an dem Quantum Alkohol, das sie verträgt. Das ist schon erheblich, nebenbei bemerkt hat die Romanfigur mit ihrer Schöpferin auch da etwas gemein. Bemerkenswert finde ich ihre Ansicht zu Schafheutlin, dass er „zu keiner Zeit eine Kollektion von Gesichtern besessen“ habe; das deckt sich mit meiner Meinung über ihn, er ist ein ehrlicher Mensch und im tiefsten Grunde seines Herzens ist er ein gutmütiger Mensch. Auf ihn kann man zählen, auf ihn kann man sich verlassen – wenn man sich denn die Mühe macht, den Menschen Schafheutlin hinter dem Genossen und Stadtarchitekten (hinter der Teufelsmaske) zu suchen.


    Der Name Stalin fällt tatsächlich auch (Seite 388). Abstrusum: Das Denkmal bzw. die Denkmäler verschwanden, die Namen für Straßen und Gebäude wohl auch, aber der ganz alltägliche Stalinismus blieb.
    Und auch eine der alten DDR-Legenden taucht auf (Seite 421 f.): „Das war drüben, ja“ (Seite 422), die Eichmann, die Hakenkreuze, der Nationalsozialismus, „die Hitlerei“. Natürlich, man brauchte ja schließlich etwas, um daran zu glauben, dem eigenen Staat eine Legitimationsgrundlage zu geben: Man war ja so dagegen, man war ja so im Widerstand. Und dann kam da noch ein Roman, "Allein unter Wölfen", und man hatte, was man brauchte.

    Meine Notizen zu diesem Abschnitt umfassen schlappe zehn Seiten im Notizbuch. Das ist wohl niemandem zuzumuten, deshalb nur einige Gedanken:


    Die Figur des Schafheutlin (Rilke-Gedichte!) beschäftigt mich sehr. So viele Träume und sie gingen dahin im Alltragsgrau. Er hat, in gewisser Weise wie Gertrud, gelernt, um sich zu „beißen“, wenn natürlich auch nicht mit der Aggressivität wie diese. Die Darstellung Reimanns, wie sich diese doch schon verkrustet erscheinenden Strukturen durch Interesse, durch Sehnsüchte, durch Liebe aufweichen, empfinde ich als äußerst gelungen, fast mit Zartgefühl, sie muss gar nicht allzu deutlich werden, da genügt beispielsweise auch schon mal die Erwähnung von Zwiebelschälen und -schneiden.
    (Herkunfts-)Welten liegen zwischen ihm und Franziska, ihm ist das mehr als deutlich, glaube ich. Das legt man wahrscheinlich nicht mal eben so ab, auch wenn man es möchte, Gedankenlosigkeit resp. für sie Selbstverständlichkeiten wie Franziskas Art, Butterbrote zu streichen, kommen dazu.


    Was immer wieder beeindruckt, ist die Zugewandtheit Franziskas, egal, ob es sich um ihre Kollegen handelt, um Gertrud, um Kersten, die Frauen im Haus. Sie möchte auf alle zugehen, kann aber manchmal doch nicht den rechten Ton finden, aber ihr Bemühen ist deutlich. An Durchhaltevermögen scheint es hin und wieder zu fehlen, wobei ich mich schon gefragt habe, ob ihr Bedürftnis nach Alleinsein, vielleicht sogar Einsamkeit nicht tiefere Gründe hat. „Das Tier“, das ihren Bruder heimsucht(e?), scheint ihr nicht ganz unbekannt zu sein (die Distanz zu sich selber, die ich im Teil 2 ansprach; wie sehr kennt bzw. durchschaut sie sich eigentlich selbst? Ist das, was wir von uns erzählen, nicht in der Regel das Bild, das wir uns von uns machen? Wir können nur das erzählen, was wir auch sehen, vielleicht könnte man es so besser umschreiben.)


    Das Leben in den Wohnsilos, die „Dressurakte mit Meerschweinchen“, die Selbstmorde … es ist eindrucksvolle Kritik am Leben in der DDR. Manchmal frage ich mich, wie dieser Roman ausgesehen hätte (wenn es ihn denn überhaupt gegeben hätte), wenn Brigitte Reimann nicht in/bei/auf „Schwarze Pumpe“ gelebt und gearbeitet hätte. Eigentlich müsste man die Tagebücher und wenigstens den Briefwechsel mit Henselmann als Ergänzung dazu lesen. Die Frage jedenfalls, die in diesem Zusammenhang bei mir auftauchte: Fällt es Franziska mit ihrem familiären und bildungstechnischen Hintergrund schwerer, sich an die Gegebenheiten zu gewöhnen? Vielleicht ist man dann eher zum Widerspruch bereit?


    „Das Zimmer war taubstumm“ - das ist doch mal ein Satz, perfekt widerspiegelt er Wohnsituationen, die es nicht nur in der DDR gab. Ausstellungsräume, diesen Begriff habe ich für dergleichen schon öfter gehört, Reimanns Formulierung gefällt mir aber wesentlich besser.


    Seite 342: Das Buch von Günther Weisenborn – mag es sich dabei wohl um „Die Aussage“ handeln? Das hätte ich sogar gelesen, allerdings: Erinnern kann ich mich mehr an den Streit mit einem Lehrer um bzw. über dieses Buch (er lehnte es strikt ab) als an den Inhalt.


    Abschließend drei Dinge, die mir aufgefallen sind: Die Einsamkeit des Gebärens mit der des Sterbens zu vergleichen, die Beschreibungen von Frau Schafheutling, die mir fast überzeichnet, fast grotesk erscheinen – und die vielleicht deshalb um so wahrer sind -, dass die Sorbinnen in ihrer Tracht auftreten.

    Puh, da bin ich aber beruhigt, das wäre denn doch ein Eindruck gewesen, der total an der Realität vorbeigeht, aber so was von ...


    Nein, ich bin nicht genervt, dazu sehe ich auch überhaupt keinen Grund. Es geht mir ja öfters so, dass ich ein Buch wundervoll finde und andere nichts damit anfangen können ... und umgekehrt. Ein bisschen traurig bin ich, ja, das schon, weil ich mir natürlich eingebildet habe, Brigitte Reimanns Sprache und Franziskas Leben würden euch begeistern, wenigstens aber mitreißen.


    Mit dem Buch bin ich durch, finde aber kaum mal etwas Zeit, meine Gedanken zu sortieren und in einigermaßen verständlichen Sätze unterzubringen. Vielleicht wird es am Wochenende klappen.

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    Original von Clare


    Das habe ich weiter vor auch geschrieben, aber noch hat mich niemand aufklären können. Ich hoffe da sehr auf Lipperin!


    Ähem ... wie viele "Negerbäuche" mit roten Haaren habt ihr schon gesehen? Es dürfte wohl eher gemeint sein, dass sie aus Sicht von "Madame, ihrer Mutter" eher unkonventionell herumlief und mehr Haut zeigte, die natürlich bräunte. Das Kind scheint schwer im Haus zu halten gewesen sein.
    Im Sinne von "Hungerbauch" dürfte es in keinem Fall zu verstehen sein, eher das Gegenteil.


    1936 gab es definitiv Farbige im Dritten Reich. Ansonsten wohl nur in Botschaften oder Konsulaten.

    Falls die Rede gemeint ist, ist es die, die in Anlehnung eines weltberühmten Romans die Periode einleitete, die man "Tauwetter" nannte. Selbstverständlich kennen wir ihn alle...



    Ossip Mandelstam ist einer der wunderbarsten russischen Dichter, der übrigens nicht nur Lyrik im Programm hatte.

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    Original von Voltaire


    Das stimmt. Plötzlich war er weg.


    Räumlich dürfte er irgendwo in der UdSSR sein (egal, ob als Wissenschaftler bei irgendetwas, was man lieber nicht so genau wissen will, oder in einem Lager), Seite 149 berichtet, dass er aus Moskau kam, aber der Punkt, dass er nicht mehr erwähnt wird, dürfte ein anderer sein: Franziska spricht ja selbst davon (Seite 43), dass Wilhelm "immer weiter weg von mir ... oder ich von ihm" rückt, "... aber es sind nicht die zweitausend Kilometer zwischen uns...". Es gibt für sie keinen Grund mehr, den erwachsenen, ihr entwachsenen Wilhelm zu erinnern, nur der vergötterte Bruder der kleinen Franziska und des jungen Mädchens sind der Erinnerung wert.
    Wenigstens ist das mein Eindruck.

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    Original von Voltaire
    Mir ist dieser Satz einfach zu plakativ und es stört mich, dass er keinen Widerspruch zulässt.


    Geben Schriftsteller (wie N., nicht wie Reimann, die scheint mir zu klug dafür zu sein) nicht manchmal solches und so von sich? Ein Satz jedenfalls, der sich gut im Poesiealbum macht. Ein bisschen wahr, für manche trifft es zu, aber klingen tut's gut.


    Sehr viel weiter bin ich mit dem Abschnitt noch nicht.

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    Original von Voltaire



    Damit habe ich auch so meine Schwierigkeiten und ich stelle fest, das sich auch kein Gewöhnungseffekt eingestellt hat.
    Die Sprache/der Stil ist eher ungewöhnlich.


    Wenn ich euch so lese, trau ich es mich kaum zu sagen, aber ich habe immer mehr Vergnügen an diesem Stil. Im ersten Teil habe ich versucht zu erklären, wie ich mir dieses "Sprechen" vorstelle, es ist für mich eine Art Duett zweier Stimmen, die eine so sprunghaft, wie Franziska nun mal ist, die andere versucht wenigstens ansatzweise mit Erklärungen hinterher zu kommen.



    Zum zweiten Teil:
    Franziska mit ihrem schönen Lebensmotto („lieber dreißig wilde Jahre...“ - Seite 119), mit ihren schönen Plänen vom Häuserbauen, mit all ihrer offen gezeigten Lebensfreude … dann kommen diese kleinen Details wie das Wiedertreffen mit Django, sie bekommt den einen oder anderen Nasenstüber, aber ich habe nicht wirklich den Eindruck, dass sie in ihrem tiefsten Kern zu treffen war (bisher), auch nicht die desolate Wolfgang-Geschichte, auch wenn die natürlich tiefe Wunden gerissen hat; sie bleibt sich in gewisser Weise treu. Die Bewunderung für ihren Bruder, bei der mich hin und wieder eine leichte Irritation streift, der gnadenlose Blick auf die Eltern, das sind auch so Markierungen, die ihr bleiben, sie wird sie hin und wieder aus den Augen verlieren, aber wissen, dass sie da sind. Sie scheint so überaus offen zu sein, und doch ist da immer auch ein Stück Distanz, vielleicht auch zu sich selber, vielleicht muss sie sich hin und wieder selbst betrügen, um der Welt eine schöne Maske zeigen zu können.


    Nun ist sie also in Neustadt. Eine furchtbare Stadt, „so billig wie möglich“ (Seite 144) gebaut, muss sie doch eine buchstäblich unglaubliche Wohnqualität ausstrahlen, vor allen Dingen, wenn alles so gleich ist und aussieht, dass man sich glatt verlaufen kann, dazu dann diese wie überall und immer wieder stattfindende Konzentration gewisser „Elemente“ in einem Block, man könnte es vielleicht sogar Ghetto nennen, dort wie überall ein Fehler, der Auswirkungen hat, die sich nicht nur nach Tagen bemessen lassen. Hoyerswerda wurde genannt, dort spürt(e) man es bis in unsere Tage. „Wir gründen unsere Städte nicht mehr für Generationen“ (Seite 154), eine Bankrotterklärung der besonderen Art. Ist den Planern und Machern eigentlich nie aufgegangen, was sie da eigentlich angerichtet haben, spätestens, als die Probleme immer mehr und größer wurden? Brauchte der „neue Mensch“ nichts fürs Auge? Nichts mehr zum Wohlfühlen, Geborgensein, weil er ja doch nur werkeln tut, für Andere, für die Gesellschaft, immer parat, immer einsatzbereit und Geheimnisse haben wir schon gar nicht voreinander? Funktional die Menschen, funktional die Wohnungen? Reimann beschreibt sie ja teils ironisch genug (beispielsweise als Franziska ihr Zimmer in Augenschein nimmt).


    Der Genosse Schafheutlin ist von bemerkenswerter Direktheit, aber natürlich wird auch sein Beschützerinstinkt geweckt, sehr wahrscheinlich lässt die junge Dame ihn keineswegs kalt. Wie überzeugt er doch von seinem Beruf, seiner Mission ist, aber es muss es wohl auch sein, Zweifel sind nicht erlaubt, können nicht geduldet werden. Eine Teufelsmaske hat er in seinem Büro. Interessant, dass immer wieder Masken ins Spiel kommen, Masken, die fallen, zum Beispiel wenn Franziska von Schafheutlin durch den Türspion beobachtet wird oder der Playboy vom Dienst von ihr selbst. Gesellschaftliches Leben … ohne Maskierung nicht zu leben? (Warum setze ich eigentlich das Fragezeichen dahinter?)


    Eine der interessantesten Figuren ist für mich Gertrud. Eine von denen, die vom oder ums Leben betrogen wurden. Die Andeutungen, sie betreffend, zeigen die Konturen sehr, sehr hässlicher Geschichten. Andeutungen über eine Art von Selbstmord wirft sie wie einen Köder aus. Franziska fällt darauf herein und streitet natürlich ab. In einem halben Zimmer muss Gertrud hausen, das stelle ich mir grausig vor. Lesbisch? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Eine ungeheure Verletzung, ja, das auf jeden Fall.


    Frau Hellwig, eine andere Geschichte, in gewisser Weise doch gradlinig, sie hat ihren Weg gefunden.


    Und Jazwauk, was für ein feinfühliger Mensch, und ach, wie er doch die Frauen durchschaut. Die Frau als Objekt sexueller Begierde, ist das nicht auch einer dieser Punkte, von denen man doch träumte, sie im real existierenden Sozialismus (oder erst im Kommunismus?) überwunden sehen zu können.

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    Original von Clare


    Es sind nicht die Andeutungen, die ich meine. Mit denen komme ich gut klar. Was mich irritiert, sind die Sprünge, die scheinbar abgerissenen Sätze, die manchmal mitten drin enden und in den nächsten übergehen und oft in das nächste Thema.


    Hängt das nicht miteinander zusammen?
    Ich versuche, mir die Szene vorzustellen, wobei ich davon ausgehe, dass Franziska und Ben nicht etwa leicht gelangweilt auf dem Sofa sitzen und zu plaudern beginnen, na ja, Franziska würde plaudern, im Fernsehen kommt nichts, was sich anzusehen lohnt und der letzte Krimi ist auch schon durch. Nein, ich glaube, sie plaudert in einer ... nennen wir es gesättigten Situation, ein wenig traumverloren, ein wenig hin und her beginnt sie zu erzählen, wobei die Erzählstimme immer wieder - scheinbar - erklärend einspringt.
    Könnte das eine Erklärung für die Sprünge und abgerissenen Sätze sein?



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    Ist das Buch Abi-Stoff? Ich finde, dass das die allermeisten der Jugendlichen überfordern dürfte und ihnen die Lust nehmen wird, sich im Weiteren mit DDR-Literatur zu beschäftigen.


    Scheint zumindest so gewesen zu sein.

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    Original von Clare
    Allerdings, und ich sage es ungern :wow, kann ich der Autorin manchmal nicht folgen. Es sind gar nicht so sehr die Handlungssprünge, sondern eher, dass ich mich immer wieder bei dem Gefühl oder auch der Gewissheit ertappe, dass mir ein Detail entgangen ist. Ein Beispiel: Die Handlung wogt hin und her, und plötzlich lese ich, und das auch mehr zwischen den Zeilen, dass Franziska mit Wolfgang verheiratet ist.
    Vielleicht ist das auch die Schreibweise der Autorin. Nicht alles wird direkt mitgeteilt.


    Mir wurde es vor Jahren so berichtet (von lieben Bekannten aus dem Thüringer Wald): Dieses Sprechen gewöhne man sich an, jeder wusste, was gemeint war. Man brauchte oft genug nicht mehr als Andeutungen.



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    Eigentlich habe ich im Moment den Kopf nicht frei für so ein intensives Buch, aber ich werde mich bemühen. :grin


    Dann wünsche ich Dir freie Momente mit freiem Kopf!. Gern würde ich sagen, Du wirst es nicht bereuen, aber bei Brigitte Reimann bin ich zugegebenermaßen nicht objektiv (so ich denn solches jemals wäre ...).



    Ach ja, Edit sagt, ich wollte doch auch was sagen zu diesem Abschnitt:
    Wer erzählt? Franziska von sich in der ersten und der dritten Person, oder Franziska von sich und ein allwissender Erzähler, beides Sprechen miteinander verwoben. Mir gefällt dieser Stil ganz besonders gut. Natürlich, so schnell kann ich dann nicht lesen, aber ich stelle fest, ich lese sozusagen genießerischer. Auch wenn das alles nicht so positiv ist, was sie (oder beide) zu berichten hat (haben). „Sorgen wie Handschellen tragen“ - dieses Bild von Seite 88 trage ich seit langem mit mir herum. Man vergisst vieles, aber solche Bilder, die haften.


    Es gibt da tatsächlich ein paar Stellen, an denen ich zu gerne gewusst hätte, ob sie so in der DDR-Ausgabe auch gestanden haben, immer mit Angela Dreschers Wundern im Ohr, was „alles nicht gestrichen wurde“ (Seite 635). Die Erwähnung von Jazz (das hat Franziska von Brigitte), von einem gewissen Elvis – geschenkt; es sind diese anderen Begriffe, Sätze, das „Massengrab“ von Seite 6 zum Beispiel, „von der GPU verhaftet und starb im Lager“ (Seite 14), vom „wir durften uns nicht geirrt haben“ (Seite 65), von Umweltsünden und noch so viele, die man hier aufführen könnte, von denen wohl auch das Nachwort spricht (wobei, ganz köstlich und bestimmt nicht vom Zensor beanstandet die Erklärung, wie denn die Kinder auf die Welt kommen – Seite 36. Ich habe tatsächlich darüber nachgegrübelt, wie wir uns das als Kinder erklärt haben...).


    Immer wieder fällt mir wieder auf, dass ich – in Kenntnis ihrer Tagebücher und der Briefbände – statt Franziska auch Brigitte sagen könnte. Den Jazz erwähnte ich schon, die Lebensgiers, die bei dem Mädchen schon zu beobachten ist, die Gedanken an „wenn es mir schlecht geht, bin ich deprimiert...“ (Seite 34), das Interesse (oder soll man sagen: offen gezeigte Interesse) an Männern, letztlich vielleicht auch die „Fluchtbewegung“.


    Zwei Dinge möchte ich noch ansprechen: „Färbe ich schon ein Bild um …, weil ich weiß, was danach kam?“ - in einer Variante gilt dies für mich bei diesem zweiten, mir intensiver erscheinenden Lesen. Die Überraschung ist weg, es zählt das Erzählen, das Darbringen, das Ausmalen und die Freistellen … und das alles macht mir das Buch im Moment jedenfalls noch ein bisschen wertvoller. Irgendwo habe ich mal gelesen, „Franziska Linkerhand“ und die Tagebücher machten Brigitte Reimann zu einer der bedeutenden Schriftstellerinnen. Bei einem Wiederlesen bestätigt sich das für mich.


    Ich habe mir mal den Spaß gemacht, bei Amazon nach den „Rezis“ zu schauen. Verblüffend, aber zu erwarten. Die Frage, die sich mir stellte: Muss man, wenn man Abi-Klassen mit solcher Lektüre beauftragt, nicht auch die Hintergründe vermitteln, die verschiedenen Ausgaben … oder geschieht das? Und: Ein solches Buch, überfordert das nicht ein wenig in dem Alter, in dem Abiturienten so sind?
    Mir ist übrigens noch kein Absatz, kein Satz aufgefallen, den ich gestrichen sehen möchte.

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    Original von Clare
    Das Tagebuch habe ich nicht gelesen, aber nach dem Lesen des Nachworts bin ich auf die Briefe neugierig geworden.


    Die Tagebücher, zwei Bände, lauten: "Ich bedaure nichts" und "Alles schmeckt nach Abschied". Sie sind mehr als lohnend. Die Briefe sind allesamt sehr lesenswert! Davon solltest Du Dir nichts entgehen lassen. :grin

    Allzuviel kann man zum Nachwort eigentlich nicht sagen, ohne schon etliches zum Inhalt zu verraten. Ein paar Punkte aber scheinen mir erwähnenswert:
    Die Sexualität: Einerseits wurde doch einige Prüderie an den Tag gelegt, andererseits hat man das Heiraten und das Scheiden, wenn ich es richtig verstanden habe, überaus einfach gemacht. Brigitte Reimann beschreibt das auch in ihrem Tagebuch – ein ziemlicher Gegensatz zu ähnlichen Situationen in der damaligen BRD.
    Damit einhergehend natürlich einer der größten Tabubrüche, auf den Withold Bonner ab Seite 611 unten eingeht und den ich hier nicht mit Namen benennen will, obwohl man sich vielleicht denken kann, worum es geht. Vielleicht ist es ratsamer, auf diesen Punkt in der LR einzugehen, besonders auch im Hinblick auf Bonners Bemerkungen Seiten 612 oben und 613 oben das Verhalten der Deutschen betreffend.
    Die Tabubrüche, derer sich Reimann darüber hinaus „schuldig“ machte, und das sind ja nicht gerade wenig, obwohl Bonner auch, was ich einerseits einen sehr hilfreichen, andererseits einen wertvollen Hinweis finde, über den „inneren Zensor … die Schere im eigenen Kopf“ spricht. Wie beeinflusst war man damals in der DDR, wie konnte man sich davor schützen, dem entgehen? Ich befürchte, wenn man einzig der Einflussnahme „der Partei“ ausgesetzt war, waren die Chancen vielleicht nicht ganz so groß. Andere Einflüsse, seien es Westradio und -fernsehen, Bücher resp. Publikationen aus anderen, auch sozialistischen Ländern werden geholfen haben, wohl auch und ganz besonders, Augen und Ohren aufgesperrt gelassen zu haben, zu fragen, zu hinterfragen. Aber wie groß war wohl das Bestreben, seine Ruhe zu haben, nicht auffallen zu wollen, sich den Gegebenheiten anzupassen, eben nicht anzusprechen, was einem „quer“ ging, wenn man es denn bemerken wollte, wollte man dort bleiben, wo man sein Zuhause hatte. Dieser Satz auf Seite 628: „Den Lesern der ungekürzten Fassung ...“ werde ich bei diesem Lesen wohl nicht aus dem Kopf bekommen.
    Im Grunde passt dazu auch eine Bemerkung von Angela Drescher auf Seite 635, dass sie es dem damaligen Cheflektor abnimmt, wenn er sagt, dass es "nur wenige vorsichtige Streichungen gab". Auch den Zensoren scheint der Zensor über die Schulter geschaut zu haben.


    Vielleicht kommen wir bei diesem Roman ja auch dem Phänomen des „sozialistischen Realismus“ auf die Spur – nach dem Anmerkungsapparat zum Nachwort habe ich zumindest Hoffnung, wobei man natürlich wieder wissen müsste, welche Variante zur Zeit der Planung und Vorbereitung des Drucks auf dem Tagesprogramm stand.

    Ach, das wäre doch schön. Ich werde versuchen, bis morgen meine Gedanken zu Papier ... äh Bildschirm zu bringen.


    Man hat ja schon so einiges gehört und gelesen über die Damen und Herren Zensoren, aber so ein Geschmurgele war dann doch für mich neu. Obwohl es teilweise natürlich an Strittmatters Wundertäter III erinnerte. Aber der hatte natürlich bessere Karten und die Zeit war ja auch ein ganz klein wenig fortgeschritten ...

    Ein wenig verschämt gestehe ich, dass ich das Nachwort schon mal studiert habe. Das Zensurgehabe jener Zeit ist schon ein wenig ...
    Jedenfalls bin ich ziemlich gespannt, ob mir das Buch auch heute noch so gut gefallen wird, ob mich Brigitte Reimann auch heute noch so zu fesseln vermag wie vor ... ja, wie viel Jahren eigentlich?


    Hat eigentlich jemand von euch das (gekürzte) DDR-Original?