Beiträge von Rem Brandt

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    Diese Rezension wäre doch eine gute Gelegenheit gewesen, die äußerst groben sachlichen Fehler in der Amazon-Rezension zu korrigieren:


    Zitat

    Schon Großmutter Olga hatte sich nach Picassos Liebesentzug umgebracht, Marinas Vater Pablo, ein einziges Angstbündel angesichts des rigiden Alten, setzte wenig später seinem Leben ein Ende, sein Sohn Pablito, Marinas Bruder, folgte ihm nach.


    Olga ist an Krebs gestorben und Marinas Vater, der Paul getauft und Paulo genannt wurde, nicht etwa Pablo, starb an den Folgen seines Drogenkonsums, und zwar zwei Jahre nach seinem Sohn. Diese Fakten kann man überall ohne Schwierigkeiten nachlesen.


    Der einleitende Satz läßt vermuten, daß diese Autobiografie schlecht ist. Das halte ich für ein Fehlurteil. Der Schlußsatz ist absolut ungerechtfertigt; es gibt Tausende von Büchern über Picasso, aber niemand hat bisher über die Gefühle seiner Enkel schreiben können, weil diese sich weder geäußert haben noch befragt worden sind.


    Insofern ist dieses Buch eine ausgezeichnete Ergänzung zu den vorliegenden Biografien, die sich, sofern sie nicht auf eigene Erfahrungen zurückgreifen können, auf Berichte seiner engeren Umgebung berufen. Da man in dieser Hinsicht schon über genügend Einzelheiten verfügte, erlebt man keine grundsätzliche Überraschung. Allerdings werden die subtilen Mechanismen, deren sich Picasso bedient, in dieser Schilderung wesentlich deutlicher, und auch der Schaden, der dadurch angerichtet wurde, wird erheblich greifbarer und deshalb auch nachvollziehbarer.


    Die anderen Augenzeugen haben sich in dieser Hinsicht bisher sehr stark zurückgehalten, offenbar auch, um weiteren Schaden zu verhindern. So mußte etwa Françoise Gilot befürchten, daß ihre Kinder leiden müssen. Bekanntlich hat sie sich sehr verrechnet, da schon ihre relativ verhaltenen Andeutungen den größtmöglichen Schaden angerichtet haben - der Vater ihrer Kinder weigerte sich fortan, diese zu empfangen. Marina muß nun keine Rücksicht mehr nehmen, da alle ihr nahestehenden Personen verstorben sind und sie auf den Rest der Sippe offenbar keine Rücksicht nehmen muß.


    Interessant ist auch die Bemerkung, daß nicht nur Picasso selbst beschuldigt wird, sondern auch seine Umgebung, die ihn nicht nur hat gewähren lassen, sondern sogar zur Unterstützung des gesamten Systems beitrug.


    Zitat

    Es war nicht unbedingt Picasso selbst, der uns mit diesem Verdikt mundtot machte. Es waren ebenso all die Leute, die meinem Großvater Macht zumaßen, diejenigen, die ihn glorifizierten, mit einem Heiligenschein umgaben, in den Status eines Gottes erhoben: die Experten, die Kunsthistoriker, die Konservatoren, die Kunstkritiker, ganz zu schweigen von den Kurtisanen, den Parasiten, den Katzbucklern, die dermaßen beeindruckt waren von alldem, was mein Großvater mit einer solchen Leichtigkeit machte, daß es in ihnen die großartigsten Fantasien nährte. Wen interessiert es schon, ob mein Großvater glücklich oder unglücklich war, was einzig zählte, war seine Macht, sein Herrschaftsbereich, das Vermögen, das er repräsentierte und das aus ihm eine spektakuläre Person machte.
    (Seite 28)


    So etwas habe ich bisher noch nie gelesen, und ich habe schon sehr viel über Picasso gelesen. Diese Beobachtung ist nicht nur richtig, sondern auch sehr wichtig. Selbstverständlich sonnen sich nicht nur die oben genannten Personengruppen in seinem Ruhm, sondern auch noch die Rezensenten und nicht zuletzt die Leser - diesen Mechanismus hat sie sehr gut erkannt und gewissermaßen in einem Nebensatz ein Riesenproblem angesprochen: wie soll unter diesen Voraussetzungen eine einigermaßen angemessenen Rezeption möglich sein? Wer Picasso ein Genie nennt, stellt ihn außerhalb der Menschheit und Menschlichkeit und will nichts Negatives hören. Deshalb hat es Marina Picasso sehr schwer. Wer läßt sich schon gerne sein Idol zerstören? Und wenn man schon die Ungeheuerlichkeiten nicht leugnen kann, so ist man doch gar nicht verlegen, wenn man sie ihm seine Genialität wegen gerne zubilligt.


    Daß sie ihren Namen benutzt, um an die Öffentlichkeit zu gehen, sehe ich nicht als verwerflich an. Es ist genau dieser Name, der ihr Schicksal ist, der schon ihre Mutter verführt hat. Als peinlich empfinde ich die Replik auf dieses Buch durch ihren Neffen Olivier, der meint, dieser Familienbeschmutzung unbedingt entgegnen zu müssen. Sein dickes Werk ist absolut ungenießbar, er hat auch nichts zu sagen. Indirekt bestätigt er sogar noch Marinas Aussagen, da er als Enkel seinen Urgroßvater noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hat, obwohl dieser doch so lange lebte, was besonders bemerkenswert ist, weil seine Mutter, soweit man weiß, sich Picasso gegenüber nichts hatte zuschulden kommen lassen.


    Ich finde dieses Buch sehr lesbar, eigentlich sogar spannend, auf jeden Fall gut geschrieben (es handelt sich natürlich um eine Übersetzung), und wünschte, ich hätte es bereits vollständig durchgelesen. Bei diesem Zitat angekommen, interessierte mich die Resonanz im Internet; ich erinnerte mich, schlechte Rezensionen gefunden zu haben und hatte deshalb bis heute um dieses Buch einen großen Bogen gemacht. Ich bin froh, daß ich es doch noch erworben habe und bin sicher, daß ich neben weiteren Einzelheiten über Picasso selbst eine Menge über Picassos Sohn und dessen Probleme erfahren werde.


    Zwar mache ich mir keine Hoffnung, wesentliche Erkenntnisse hinsichtlich Picassos Kunst zu finden, aber das ist auch unwesentlich, das würde ich von diesem Buch gar nicht erwarten. Es ist natürlich eine Tragödie, daß Picassos Ehe scheiterte (was sicherlich auch an der Person Olga lag), daß sein Sohn Paul sich so schlecht entwickelte - Marina schiebt das dessen Vater in die Schuhe, aber die Frage ist natürlich, ob die Entwicklung unausweichlich war. So wie die Dinge lagen, hatte Marina in dieser Familie ganz schlechte Karten, aber nicht jedes Kind eines Alkoholikers wird durch dessen Sucht und charakterliche Mängel gebrochen. Es gehören halt immer zwei dazu: in diesem Falle der Großvater, der seinen Sohn schlecht behandelte, und der Sohn, der sich und seine Familie schlecht behandeln ließ. Ob er bei diesem Vater und dieser Mutter eine Chance gehabt hätte, ist schwer zu beurteilen, genauso schwer wie die Frage, ob Marina bei ihren Eltern eine Chance gehabt hätte.


    Zwar hat sich auch Marie Thérèse letztlich umgebracht, aber deren Tochter Maya, die Mutter von Olivier, scheint doch, nach diversen Filminterviews zu urteilen, ganz gesund und robust zu sein. So hat halt jeder sein Schicksal, und die meisten, die mit berühmten Leuten zu tun haben, halten den Mund. Der Jugendfreund Jaime Sabartès hat seine Aufzeichnungen deponiert; 30 Jahre nach seinem Tode können sie veröffentlicht werden. So wir das noch erleben, dürfen wir gespannt sein. Den Andeutungen zufolge, die er Françoise Gilot gegenüber gemacht hat, werden sie das Bild, das Marina zeichnet, nochmals aus der Sicht eines Freundes ergänzen.


    Im übrigen ist es eine ausgesprochene Schwäche einer Rezension, den Titel dem Autor anzulasten. Bekanntlich wird der Titel in der Regel vom Verlag gesetzt. Bei Übersetzungen empfiehlt es sich zumindest, den Originaltitel zu konsultieren, was nicht schwer ist, weil er in der Regel im Impressum genannt wird. Dieser heißt ganz einfach: "Grand-Père", also Großvater. Das war dem deutschen Verlag wohl nicht griffig genug. Wenn hier jemand zu schelten ist, dann also der Verantwortliche des Verlags.


    Ich hoffe, daß diese Bemerkungen anderen Leuten, die sich überlegen, ob sie dieses Buch lesen sollen, helfen, und ich möchte sie ausdrücklich ermutigen, diese Lebenserinnerungen zu lesen. Wenn auch in Bezug auf Picassos Kunst wenig zu erwarten ist, so wird man diese doch mit anderen Augen sehen. Freilich muß man diejenigen, die Picasso idolisieren wollen, vor diesem Buch warnen. Aber das ist ja kein Problem, denn die überwiegende Mehrzahl aller Bücher über Picasso sind ja reine Hagiographien. Da kann man sich irgendein Buch herausgreifen und sich daran berauschen. Norman Mailer beispielsweise greift zu einem Trick; er hört vor dem ersten Weltkrieg schon auf. Und im übrigen sagt er: „Der Mann kann mir gestohlen bleiben, ich halte mich an seine Kunst.“ Und seine Kunst? Naja, das ist ein anderes Thema.