Mathilda hat ihre große Schwester Helene verloren, weil ein unbekannter Mann sie vor den Zug gestoßen hat. Seitdem ist im Hause Savitch alles anders: Mathildas Mutter ertränkt ihren Kummer im Alkohol, ihr Vater verkriecht sich in Büchern und Arbeit und überhaupt bleibt das Zwischenmenschliche auf der Strecke - stattdessen wird geschwiegen. Nur in Mathildas Kopf sind die Gedanken laut und sie möchte herausfinden, wer ihre Schwester gestoßen hat und vor allen Dingen: Warum? Die Suche nach Hinweisen beginnt…
Ich muss gestehen, dass ich vor dem Beginn des Buches etwas ganz anderes erwartet habe. Das Cover versprach große Geheimnisse und der Klappentext ließ eine Detektivgeschichte vermuten, in der ein kleines, cleveres Mädchen die Hauptrolle spielt. Irgendwie musste ich dabei an ein Märchen denken. Während des Lesens verschob sich dieses Bild jedoch. Zwar spielt in dem Buch wirklich ein kleines, cleveres Mädchen die Hauptrolle und der Leser erfährt die Geschichte aus ihrer Perspektive, jedoch hat ihre Ausdrucksweise wenig mit einem Detektiv-Märchen zu tun. Ich musste also erstmal etwas umdenken, um mich in den Stil einzufinden.
Das Geschriebene ist sehr umgangssprachlich, manchmal voll kindlicher Phantasie, manchmal jedoch auch sehr nüchtern und direkt. Mathilda erzählt von ihren Schulkameraden und Nachbarn, ohne dabei ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Sie erklärt ihre Sicht der Dinge und wirft dabei einen schonungslosen Blick auf ihre Umwelt, nicht zuletzt auch auf ihre Eltern, mit denen seit Helenes Tod nichts mehr stimmt.
Genau an dem Punkt merkt man recht schnell, dass hier nicht die Aufklärung des Verbrechens im Vordergrund steht, sondern das, was unter der Oberfläche liegt. Mathilda kämpft gegen das Schweigen ihrer Eltern und denkt sich dabei allerlei „Gemeinheiten“ aus, die doch alle nur einen Zweck verfolgen: das Erregen von Aufmerksamkeit und somit Wachrütteln ihrer Eltern. Es berührt, Mathildas Gefühle hinter der harten Schale zu erahnen und zugleich entlocken einem ihre Gedankengänge hin und wieder ein schiefes Lächeln.
Es ist, als schaue man mit einer großen Portion Mitgefühl auf das Mädchen, weil man genau weiß, was hinter ihren Gemeinheiten steckt und man sie in ihrer Verwirrung und Trauer am liebsten in den Arm nehmen würde.
Das Verbrechen bleibt dabei jedoch nicht außen vor. Der Mord an Helene ist zugleich Aufhänger und Leitfaden der Geschichte, wobei eine Wendung eintritt, die der Schlüssel zu Mathildas Verhalten ist. Ganz nebenbei erfährt der Leser dieses Aha-Erlebnis und doch wird der Blick auf die Geschehnisse vollkommen umgelenkt…
Zusammenfassend handelt es sich bei „Mathilda Savitch“ also weniger um einen Detektivroman. Es geht um eine Familiengeschichte und was der Tod eines Familienmitgliedes und somit geliebten Menschen anrichten kann. Der Zusammenhalt bekommt einen Riss und wenn sich niemand darum kümmert, ihn zu kitten, fällt alles auseinander. Doch Mathilda kümmert sich – auf ihre ganz eigene, manchmal gemeine, aber doch liebenswerte Art. Eine Geschichte, die ich trotz einiger unbeantworteter Fragen am Ende des Romans weiterempfehlen kann.