Beiträge von Clio

    Das ist wirklich eine berechtigte Frage. Klassiker ist wirklich nicht gleich Klassiker. Es gibt wirklich sehr schlechte Ausgabe, als ungefähre Regel sind das oft die, die billig im modernen Antiquariat verramscht werden, wobei es da natürlich auch Ausnahmen gibt.
    Es gibt aber auch viele Verlage, die gute Ausgaben produzieren. Ich würde immer danach gehen, ob die Ausgabe noch Zusätze bietet, ob es ein Vor- oder Nachwort gibt und/oder Anmerkungen. Das ist zum einen für einen selbst sehr hilfreich, zum anderen sieht man daran, dass mit dem Text mit einer gewissen Sorgfalt umgegangen wird.

    In seinem Drama Penthesilea wählt Heinrich von Kleist eine Episode des Trojanischen Krieges zum Thema. Die Amazonen unter der Führung ihrer Königin Penthesilea greifen in den Krieg zwischen Griechen und Trojanern ein. Zum Erstaunen der Griechen kämpfen sie jedoch nur für sich und greifen beiden Kriegsparteien an, die der Kampeswut der Frauen kaum gewachsen sind. Die Kriegsführung der Amazonen verschließt sich vollkommen der Logik von Griechen und Trojanern.
    Als Penthesilea auf dem Schlachtfeld Achilles erblickt, verliebt sie sich Hals über Kopf in den Peliden. Auch Achilles fühlt sich von Penthesila angezogen, die ihm als kämpfende Frau so fremd ist. Die beiden kampfwütigen Krieger können sich ihre Liebe jedoch nicht in Zärtlichkeit zeigen, da für beide eine Unterwerfung unmöglich ist. Sie beweisen sich ihre Liebe immer wieder im Kampf.
    Klar, dass das nicht gut ausgehen kann und so endet das Thema mit Tod und Wahnsinn. Heinrich von Kleist formuliert mit Penthesilea eine radikale Ablehnung des heiteren Griechenlandbildes seiner Zeitgenossen. Er verweißt auf das brutale Gehalt der antiken Mythen. Kampf, Raserei und die permanente Überschreitung von Grenzen sind die dominanten Themen seines Dramas.
    Die Sprache des Dramas ist - wie immer bei Kleist - gewöhnungsbedürftig. Man muss schon ein wenig tüffteln um die verschlungenen Satzkonstruktionen zu verstehen. Belohnt wird man allerdings für diese Mühe mit einem faszinierenden Stoff, einem selbst für moderne Action-Filme rasantem Plot und wunderschönen Sprachbildern!

    Die Bienenhüterin von Sue Monk Kidd ist eine richtige schöne Schnulze, ein Buch für verregnete Sonntagnachmittage oder den Urlaub.
    Lily wächst mit dem Wissen auf, ihre Mutter mit vier Jahren bei einem Unfall erschoßen zu haben. Ihr Vater scheint sie zu hassen und verhält sich tyranisch und grausam. Als sie von ihm erfährt, dass ihre Mutter vor ihrem Tod nicht nur ihn, sondern auch sie verlassen wollte, läuft sie von zu Hause weg. Begleitet wird sie von Rosaleen, ihrem afro-amerikanischen Hausmädchen, dass Aufgrund rassitischer Vorfälle um ihr Leben bangen muss. Wie durch ein Wunder finden sie in South Carolina zu Augusta und ihren Schwestern, farbige Frauen, die eine Imkerei betreiben. Dort findet Lily auch Spuren ihrer Mutter, über die sie fast nichts weiß. Ohne nachzufragen, woher sie kommen nimmt Augusta die beiden Flüchtlinge auf. Lily erfährt zum ersten Mal die Geborgenheit und Liebe, die es mit sich bringt, Teil einer Gemeinschaft zu sein.
    Der Roman von Sue Monk Kidd zeichnet aber nicht einfach eine rosarota Watte-Welt. Der Roman spielt in den 60er Jahren. Es ist die Zeit, in der sich die afro-amerikanischen Bürger nach und nach ihre Bürgerrechte erkämpfen. Die Weißen in den Südstaaten sind darüber so aufgebracht, dass immer wieder Farbige ihr Leben lassen müssen. Auch Lily kann ihre Liebe zu einem farbigen Jungen nicht ausleben, weil dies für beide zu gefährlich wäre. Wunderbar gelingt es der Autorin die aufgeheißte Atmosphäre zu schildern, aber auch den Mut, mit der die afro-amerikanischen Protagonisten sich gegen diese Ungerechtigkeit stemmen.
    Gefallen hat mir auch die Sprache des Romans, was ja ziemlich oft das Manko dieser Art Romane ist. Sue Monk Kidd kann schreiben und benutzt oft schöne, poetische Bilder, um die Stimmungen ihre Charaktere wiederzugeben. Einziger Minuspunkt ist, dass am Ende des Romans etwas zu viel "Geschwafel" über Liebe, Verzeihen und Freundschaft gibt. Das war mir dann doch zu viel des Guten. Aber ansonsten ist es ein dichter, stimmungsvoller Roman fürs Herz!

    Die australische Provinz Victoria, Mitte des 19. Jahrhunderts. Es ist eine harte und ungerechte Welt, in die Peter Carey seinen Leser in Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang entführt. Gutes Land, dass Reichtum verspricht, ist in der jungen Provinz heiß umkämpft. Reiche Farmer, die sogenannten Squatter, machen mit der Polizei gemeinsame Sache, um die arme Bevölkerung, bei denen es sich in vielen Fällen um zwangsverschiffte Deliquenten handelt, in Schach zu halten. Vor allem die irischen Kleinbauern haben einen schlechten Ruf weg und sind von vorneherein als Viehdiebe und Trunkenbolde abgestempelt. Auch Ned Kelly hat unter diesem Schicksal zu leiden. Bereits als Jugendlicher landet er wegen eine Bagatelle im Gefängnis und wird wenige Tage nach seiner Freilassung erneut festgenommen und verurteilt - für ein Verbrechen, dass begangen wurde, als er noch gefangen war. Peter Carey zeigt wie ein Mensch durch Dünkel und Mißtrauen zum Verbrecher gemacht wird. Immer wieder bemüht Ned Kelly sich redlich zu bleiben und auch die vielen Mitglieder seiner Familie auf die rechte Bahn zu bringen. Erst als er keinen anderen Ausweg mehr sieht, wird er zum Bandenführer, der für einige Zeit die Polizei im Atem halt.
    Der Roman beschreibt eine klassische Robin-Hood-Geschichte. Ned Kelly begehrt im Namen der Armen gegen die Obrigkeit auf. Anders als Robin Hood ist er jedoch kein strahlender Held, denn es gelingt im nicht eine Spirale der Gewalt aufzuhalten, die auch Unschuldigen das Leben kosten wird. Die Geschichte ist aus seiner Sicht geschrieben. Es wird die Illusion von originalen Aufzeichnungen erzeugt, die Ned Kelly aufgezeichnet hat. Dieses interessante Stilelement birgt viele Gefahren. Wenig ist vermutlich schwieriger, als einen Roman in der Sprache eines ungebildeten Menschen aus einer anderen Zeit zu schreiben, der trotzdem spannend und unterhaltsam ist. Das ist Carey gut gelungen. Die Sprache ist glaubwürdig, Kellys Slang zumindest im Original jedoch recht schwer zu lesen. Dem Roman gelingt es gut sich in die Gedankengänge seines Helden hineinzubegeben, die obwohl er ein einfacher Mann ist, keineswegs banal oder simpel sind.
    Schöner, außergewöhnlicher historischer Roman!

    Manuel Puig
    Der Kuss der Spinnenfrau
    Original: El beso de la mujer araña
    ISBN: 3518373692
    Suhrkamp Verlag T
    aschenbuch 9,00 Euro


    Zwei Männer sitzen in einem argentinischen Gefängnis. Der eine, Molina, ist wegen seiner Homexesualität verurteilt, der andere, Valentin, ist Sozialist und sitzt wegen politischer Aktivitäten. Da er sich weigert seine Kameraden zu verraten, wird er regelmäßig gefoltert. Um die langen Stunden in der Zelle zu vetreiben, erzählt Molina ihm die Handlungen von Filmen nach. Obwohl es sich zum großen Teil um gruselig schlechte B-Movies handelt (unter anderem nazionalsozialistische Propaganda-Filme, die in Argentinien auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch populär waren), fühlt Valentin sich von diesen Geschichten getröst. Nachdem sein Essen von den Wärtern vergiftet wird, um ihn zu brechen, pflegt Molina ihn auch körperlich. Seine sehr zarte und anrührende Liebesgeschichte entspinnt sich zwischen den beiden.
    Die Haupthandlung des Romans besteht fast ausschließlich aus den Dialogen der beiden. Nach und nach erfährt man nicht nur die Handlungen der nacherzählten Filme (was manchmal etwas ermüdend lang wurde), sondern auch Details aus ihrem Leben: Molinas Liebe zu seiner Mutter, Valentins Liebe zu einem Mädchen, das er für den politischen Kampf aufgegeben hat.
    Daneben ist das Buch mit fast wissenschaftlichen Fußnoten über die Homosexualität gespickt, die mit der eigentlichen Handlung wenig zu tun haben.haben. Der Effekt ist ein wenig merkwürdig, aber nicht uninteressant. Dieser Roman ist vor allem ein Plädoyer, homosexuelle Lebensformen zu respektieren und als gleichwertig zu akzeptieren.
    Ein sehr ungewöhnliches, spannendes Buch!

    Leo Rosten
    Jiddisch: Eine kleine Enzyklopädie
    übersetzt von R.O. Blechmann
    DTV


    Dieses wunderbare Wörterbuch habe ich der Reihe nach von vorne bis hinter durchgelesen, was für ein Nachschlagewerk ziemlich ungewöhnlich sein dürfte. Aber Jiddisch von Leo Rosten ist zugleich weniger und viel mehr als ein Nachschlagewerk. Braucht man ein richtiges Wörterbuch für die jiddische Sprache, so ist dieses Buch weniger zu empfehlen, da es keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit verspricht. Hat man jedoch Interesse an der Kultur der Ashkenazi (der osteuropäischen Juden), dann ist dieses Buch ein absolutes Muss. Rosten hat hier vor allem jiddische Begriffe ausgewählt, die besonders typisch für das ost-jüdische Denken sind oder die Besonderheiten des jüdischen Alltagslebens oder der jüdischen Geschichte verdeutlichen. Die einzelnen Artikel sind mit ausführlichen Artikeln versehen und werden oft durch wirklich köstliche Annekdoten, Witze und Sprichworte illustriert. So ist dieses Buch ein Kompendium jüdischen Alltags, Theologie, Kultur und Geschichte. Leo Rosten war Amerikaner, aus diesem Grund liegt der Schwerpunkt auf jiddischen Ausdrücken, die auch heute noch im amerikanischen Jiddisch benutzt werden und in vielen Fällen in die Allgemeinsprache übergegangen sind. Der deutschen Übersetzung sind jedoch typische jiddische Begriffe in der deutschen Sprache beigefügt. Ich war erstaunt, wie viele Worte, die wir benutzen aus dem jiddischen kommen!
    Wie gesagt, eine sehr vergnügliche Lektüre und viele alle, die sich für die jüdische Kultur Ost- und Mitteleuropas interessieren, ein Muss!

    Island nach dem Zweiten Weltkrieg: Da Aggas Eltern früh gestorben sind, wird sie von ihren Großeltern aufgezogen. Ihr Großvater ist meistens auf See, und si sind es vor allem die weiblichen Verwandten, die im Haus ihrer Großeltern leben, die ihre Erziehung übernehmen. Als jedoch die entferne Verwandte Freyja aus Amerika zurückkommt, ist die Ruhe im Haushalt ihrer Großmutter dahin. Die Frauen sind von dem Luxus, den Freyja mitbringt, und von ihrem weltmänischen Auftreten, begeistert - Die Männer von ihrer zarten Figur und ihren langen, roten Haaren gerade zu überwältigt. Nur Agga empfindet Freyja von Anfang als "kalt wie eine Leiche". Reichlich merkwürdig kommt ihr das exzentrische Verhalten Freyjas vor und hegt bald einen schrecklichen Verdacht. Sie spioniert Freyja nach.


    Baldursdottir erzählt die Geschichte konsequent aus der Sicht der zwöfjährigen Agga. Die Gefahren einer kindlichen Perspektive - eine zu unkindliche Sprache und Gedankengänge, die einem Kind fremd wären - umschifft sie sorgfältig, mit der Konsequenz, dass die Sprache des Romans gelegentlich ein bißchen an ein Jugendbuch erinnern. Der Inhalt des Romans jedoch ist hochkomplex. Obwohl die Erzählerin Agga, Freyja hasst und mißtraut, kann man sich als Leser zwischen Abscheu und Verständnis kaum entscheiden. Erzählt wird hier die Geschichte einer jungen Frau, die offensichtlich schwere psychische Probleme hat, eine Frau, die jedoch nicht bereit ist, die rigiden Geschlechterrollen und die starre gesellschaftliche Hierarchie in den isländischen Provinz in den 50er Jahren einfach so hinzunehmen. Freyja stemmt sich gegen ihre Umwelt, ihre Mittel werden jedoch zunehmend exessiv und rücksichtlos gegenüber dieser Umwelt.


    Gepaart ist diese Erzählung mit einem kargen isländischen Setting, das einen guten Eindruck von einem Leben vermittelt, dass man sich mühsam von der Natur abbringt und ständig gegen sie behaupten muss.
    Schönes Buch!

    Ich bin gestern zufällig auf diesen spannenden Thread gestossen. Nachdem mich gestern den ganzen Abend das Problem der Authezität nicht losgelassen hat, nun meine Gedanken dazu.


    Als Geschichtsstudentin, die von der frühen Neuzeit und dem Mittelalter wenig Ahnung habe, habe ich größte Hochachtung mit Leuten, die sich ernsthaft mit dieser Epoche beschäftigen, Hochachtung deshalb, weil man sich um diese Epochen auch nur ansatzsweise zu verstehen, in ein vollkommen anderes Gedankengebäude, in eine unglaublich fremde Weltsicht einfinden muss. Obwohl die Quellen aus der Zeit zum Teil die gleichen Begriffe und eine ähnliche Sprache benutzen wie wir heute, bedeuten ihnen diese Begriffe in vielen Fällen, was vollkommen anderes. Das betrifft nicht nur abstrakte Vorstellungen wie Kirche, Staat, etc, sondern auch ganz alltägliche Worte wie Angst oder Mutter.


    Aus diesem Grund passen eigentlich die Anforderungen von Unterhaltungsliteratur und zumindest die Epochen vor der Aufklärung grundsätzlich nicht zusammen. Unterhaltungsliteratur baut ja grundsätzlich auf den Faktor der Identifikation auf, was hunderte von Rezensionen bei den Buchereulen, in denen das Kriterium "Kann ich mich in die Figuren eindenken? Sind sie mir sympathisch und verständlich?" eine entscheidende Rolle spielt, bestätigen. Ein authentischer, historischer Roman ist eigentlich nur im Bereich der absoluten Höhenkammliteratur denkbar, weil der Effekt ungeheuerlich befremdend wäre. Spontan fällt mir nur ein solcher Roman ein (was nicht heißen soll, dass es keine anderen gibt...), und zwar " Rub Al-Khali Leeres Viertel" von Michael Roes, ein Buch, was von der Wissenschaft mit Begeisterung aufgenommen wurde, aber selbst in diesem doch anspruchsvollen Forum keinerlei Spuren hinterlassen hat.


    Authentische historische Unterhaltungsliteratur ist deshalb fast eine Unmöglichkeit, weil sie von der völlig ahistorischen Annahme ausgehen, dass Menschen universell annähernd gleich fühlen, wahrnehmen und denken.

    Barry Unsworth
    Das Sklavenschiff
    Originaltitel Sacred Hunger
    deutsche Ausgabe vergriffen


    Liverpool 1752: Der Kaufmann William Kemp gedenkt am lukrativen Dreieckshandel (billiger Nippes nach Afrika, von dort aus Sklaven in die Karibik und karibischer Zucker zurück nach England) teilzuhaben und stattet ein Schiff für die Reise nach Afrika aus. Sein Neffe Paris soll dieses Schiff als Schiffsarzt begleiten, um einen Verlust durch den Tod von Sklaven zu vermeiden. Bereits beim Bau des Schiffes sterben zwei Handwerker und ziemlich schnell wird klar, dass dem Schiff ein schweres Schicksal bevorsteht.
    Das Sklavenschiff ist ein wunderbarer, langer historischer Schmöcker. Die lebendigen und komplexen Charaktere und die abenteuerliche Seereise des Schiffes machen das Buch zu einem spannenden Roman. Der freigeistige Held des Romans Paris bietet dem Leser Identifikationspotential, so dass man mit seinen Erlebnissen mitfiebert und ihm ein gutes Geschick wünscht.
    Aber der Roman ist mehr als das. Der englische Titel Sacred Hunger (Mal wieder habe ich mich über den unglaublich phantasielosen deutschen Titel geärgert) deutet das Grundmotiv dieser Geschichte. "Sacred Hunger", dass bedeutet die Überhöhung der Gewinnmaximierung als oberstes, geheiligtes Ziel. Der Gewinn rechtfertigt alle Mittel und so teilt sich das Personal des Romans in einige wenige Nutznießer, die die übrigen mit unglaublicher Rücksichtsloigkeit und Härte ausbeuten. Der weißen Besatzung des Sklavenschiffes geht es kaum besser als den gefangenen Afrikaners, gelegentlich schlechter, weil sie nicht verkäuflich sind und man einem toten Mann keinen Lohn auszahlen muss. In diesem Sinn ist dieser Roman sehr modern und sicherlich auch als Kommentar auf die aktuelle kapitalistische Gesellschaft zu verstehen, dessen blutige Anfänge der Autor hier beleuchtet.

    Ich habe meine Liste mal auf Stand gebracht. Mittlerweile sind bei mir nur acht dazugekommen, die mir alle gut gefallen haben. Besonders herausragend war The Blind Assasin von Margret Atwood. Sacred Hunger von Barry Unsworth habe ich gerade beendet und The Old Devils von Kingsley Amis habe ich gerade angefangen...

    Mr Stevens ist Butler in einem der großen englischen Herrenhäuser. Mittlerweile ist sein alter Arbeitgeber Lord Darlington jedoch verstorben und das Anwesen Darlington Hall an einen neureichen Amerikaner verkauft, der zwar freundlich ist, die Feinheiten des britischen Butler-Wesens jedoch wenig zu würdigen weiß. Für Stevens ist es an der Zeit Bilanz zu ziehen. Das tut er auf eine eigentümlich umständliche Art und Weise. Der erste Satz des Romans zeigt den eigentümlichen Stil des Romanes: It seems increasingly likely that I really will undertake the expedition that has been preocupying my imagination now for some days. So meandert die Erzählung vor sich hin. Stevens berichtet von der Reise, die er gerade unternimmt, von der Berufswürde der Butler, und von seiner Vergangenheit als Butler von Lord Darlington. Eine Figur taucht dabei in seinen Erzählungen immer wieder auf, Miss Kenton, die ehemalige Haushälterin, die er überreden will nach Darlington Hall zurückzukehren.
    Was vom Tage übrigblieb ist eine wunderbare, auf eigentümliche Art und Weise zärtliche Parodie auf die britische Standesgesellschaft. Der Butler als wahre Macht in den Häusern des Adels nimmt eine entscheidende Stellung in dieser Gesellschaft ein, auch wenn Mr. Stevens in seinem Standesdünkel dazu neigt, seine Bedeutung in den politischen Geschäften seines Arbeitsgebers ein bißchen überzubewerten. Mr Stevens formalistisch- umständlicher Stil liest sich sehr vergnüglich und man kann sich den steifen, älteren Herrn, der immer darauf bedacht ist, Haltung zu wahren, großartig vorstellen. Aber die Parodie wird im Laufe des Romans zunehmend trauriger, wenn Mr. Stevens beispielsweise ohne erkennbares Bedauern davon berichtet, dass er seinen sterbenden Vater aufgrund seiner beruflichen Plichten nicht mehr hatte an seinem Totenbett besuchen können. Für ihn ist klar: Die Pflichterfüllung gegenüber dem Herrn ist oberstes Gebot. Und so sehen wir einen Mann, dessen Gefühlsleben vollkommen unterdrückt, ja verkrüppelt ist. Ein wunderbar traurig-komisches Buch!

    Da hast du natürlich recht, Der Name der Rose ist ein außergewöhnlich gutes Buch. Ich ärgere mich nur immer wieder, dass die blöde Stapelware alle historischen Romane so in Veruch bringt. Es gibt ganz tolle, aber es ist - zugegebenermaßen - nicht leicht die Spreu vom Weizen zu trennen.