Schade, daß dieses Buch, von dem es mittlerweile ja auch die Taschenbuchausgabe gibt, bislang hier so wenig Anklang fand, denn ich finde es großartig!
Streckenweise liest es sich tatsächlich etwas sperrig und es gab auch Sätze, die ich zwei Mal lesen musste, doch alles in allem passt die Sprache zu Helene, der Protagonistin, die auf der Flucht aus Stettin ihren kleinen Sohn Peter an einem Bahnhof in Vorpommern verlässt. Bis auf den Prolog und den Epilog, die aus der Sicht einmal des Kindes bzw. am Schluß des jungen Erwachsenen Peter geschrieben sind, wird der Roman als Rückblende und aus Helenes Sicht erzählt. Der Leser erfährt mehr und mehr, wie Helene zu dem Menschen geworden ist, der sein Kind allein am Bahnhof sitzen lässt, in den Händen einen Koffer mit der Adresse eines Onkels, den der kleine Peter noch nie gesehen hat.
Ich bin nicht der Meinung, daß nicht erklärt wird, warum Helen diesen Schritt tut.
Es steht sogar ziemlich genau auf der letzten Seite vor dem Epilog:
"Es sollte ihm (Peter) an nichts mangeln, deshalb musste er fort, fort von ihr."Helene ist eine zutiefst traumatisierte Frau, die, schon als sie noch Kind war, keinerlei Liebe von ihrer Mutter erhalten hat. Eine Mutter, die zunehmend in ihrer eigenen Welt lebte, welche auf ihr Schlafzimmer begrenzt war. Ganz im Gegenteil wird Helene von ihrer Mutter beschimpft und gedemütigt.Deshalb kann ich auch nicht nachvollziehen, warum im Klappentext steht "Eine idyllische Kindheit in der Lausitz", denn als idyllisch habe ich Helenes Kinderjahre nicht empfunden. Liebe empfängt sie nur von ihrer Schwester Martha.Später verlassen die beiden jungen Frauen ihren Heimatort, um in Berlin bei ihrer Tante Fanny zu leben und dort ein neues Leben zu beginnen. Helene fühlt sich zunehmend von Martha, Tante Fanny und Marthas Freundin Leontine ausgeschlossen und leidet darunter, daß Martha und sie sich in verschiedene Richtungen entwickeln.Helene erfährt nur in ihrer Arbeit, erst als Apothekenhelferin, später als Krankenschwester die Bestätigung, daß sie gebraucht wird.Das ändert sich erst, als sie ihre erste große Liebe mit Carl erlebt.Bei ihm erfährt sie, auch unabhängig von ihrer Leistung etwas wert zu sein, bei ihm lernt sie, was es heißt zu lieben und geliebt zu werden.Als diese junge Liebe tragisch endet, zerbricht Helene daran. In den nächsten Jahren erfüllt sie ihre Pflichten, doch sie lebt nicht mehr. Sie geht eine Vernunftehe mit Wilhelm ein und zieht mit ihm nach Stettin, wo sich ihre Ehe zunehmend als Hölle entpuppt. Sie hat Wilhelm zur Verfügung zu stehen, brutal wird sie von ihm vergewaltigt.Als sie schließlich schwanger wird und einen Sohn gebärt, hat sie schon längst keine Kraft mehr. Sie wird zunehmend stummer und wortloser, worunter der Junge leidet. Sie weiß, daß sie ihrem Jungen nicht das geben kann, was er braucht. Sie kann nicht mehr lieben, alles in ihr ist taub.Der Junge, der unaufhaltsam Liebe von seiner Mutter einfordert wird Helene zu viel.Als sie schließlich noch von mehreren russischen Soldaten vergewaltigt wird, ist dies der Tropfen, der das Fass in Helene zum Überlaufen bringt. Sie entschließt sich zur Flucht nach Berlin zu ihrer Schwester - ohne ihren Sohn.Es steht zwar im Roman nirgends geschrieben "ich verlasse Peter, weil...", doch zwischen den Zeilen erfährt der Leser sehr wohl, wie tief Helenes Traumatisierung und ihre Unfähigkeit zu lieben sind. Man erfährt im Epilog, daß Helene schlußendlich wieder mit Martha zusammenlebt und als Krankenschwester arbeitet. Das Buch endet mit der Symbiose Martha-Helene, mit der es begonnen hat. Nur in ihrer Schwester und ihrer Arbeit findet Helene den nötigen Halt im Leben, um Tag für Tag weiterzumachen. Sie lebt durch ihre tägliche Routine und Pflichterfüllung wie eine Maschine, doch wirklich leben tut sie nicht. Sie hat keine Gefühle mehr.Warum Helene am Schluß tatsächlich nach über 10 Jahren ihren fast erwachsenen Sohn besuchen will, bleibt offen. Vielleicht wollte sie ihm ihr Handeln erklären... vielleicht wollte sie sich entschuldigen... diesen Faden kann der Leser selbst in seiner Phantasie weiterführen.
Ich habe vielleicht mehr gespoilert als nötig, aber ich will nicht zu viel verraten...Mir hat "Die Mittagsfrau" sehr gut gefallen und ich fand, daß Julia Francksbesondere Sprache, wenn man sich auf die manchmal etwas sperrigen Sätze einlassen kann, sowohl die gefühlsreiche, als auch später die gefühlsarme Helene lebendig macht.Was mich allerdings wirklich sehr gestört hat, war, daß die Autorin im ganzen Buch auf die Anführungszeichen der wörtlichen Rede verzichtet, was mir das Lesen an manchen Stellen viel mehr erschwert hat als die Sprache an sich.FAZIT: ein großartiges Buch über das Schicksal einer Frau in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts!Wäre da nicht die Sache mit den Anführungszeichen gewesen, hätte ich 10 Punkte gegeben, so sind es 9.