'Ein Sturm zieht auf' - der 1. Band der 'Brücke der Gezeiten' ist der Einstand zu einem neuen Fantasy-Epos, das zwar hier und da Schwächen aufweist, aber auf eine Epik und Größe skaliert ist, wie ich sie zuletzt vor vielen Jahren beim Lesen der ersten Game of Thrones - Bände erlebt habe.
Die Story ist in einer fiktiven Welt angesiedelt, deren Kulturen sehr eng nach dem Vorbild unserer Welt modelliert sind. Zwei Kontinente sind von einem schier unpassierbaren Ozean getrennt. Yuros, beherrscht von dem mächtigen rondelmarischen Kaiserreich, ist dem christlichen Abendland nachempfunden, nur dass der Heilsbringer der dortigen Religion Corineus heißt. Auf ihn geht die Erschaffung einer Elite mächtiger Magier zurück, auf die sich praktisch die gesamte kaiserliche Macht stützt, vor allem ihr militärischer Arm.
Der andere Kontinent, Antiopia, ist morgenländisch gefärbt und erinnert an die Schilderungen orientalischer Städte zu Kreuzfahrerzeiten. Hier leben an islamische und indische Kultur angelehnte Völker, dazwischen finden sich ein paar rondelmarische Händler und Soldaten. Die Passage zwischen den Kontinenten kann nur durch Windschiffe überbrückt werden, eine Reise, die mehrere Wochen dauert. Doch alle 12 Jahre taucht für kurze Zeit eine magische Brücke aus dem Wasser, die die Landmassen miteinander verbindet. Und jedesmal bedeutet dieses Ereignis Krieg, denn die rondelmarischen Armeen nutzen die Gelegenheit, um auf die andere Seite zu marschieren und die Grenzen des Kaiserreichs mit Blut und Feuer auszuweiten. Um sicherzustellen, dass dieser Feldzug nach den zwei vorhergehenden Fehlschlägen ein Erfolg wird, brüten die Berater der Kaiserinmutter eine Intrige aus, die damit beginnen soll, dass ein einflussreicher gemäßigter König auf Antiopia samt seiner Familie ermordet wird.
In diese Welt setzt der Autor eine Reihe großer Konflikte zwischen Herrscherhäusern, Volksgruppen und ganzen Reichen, die das Leben der Protagonisten beeinflussen.
Da haben wir zuerst Alaron, Student an einer Magierschule in einer ehemals aufständigen Provinz von Yuros, der nicht nur von seinen arroganten Mitstudenten getriezt wird, sondern sich mit der These seiner Abschlussarbeit um Kopf und Kragen zu bringen droht. Dann Elena, eine erfahrene Assassinin und Magierin, die von ihrem rondelmarischen Meister und Ex-Liebhaber als Leibwächterin in der Familie des besagten antiopischen Königs platziert wurde. Als sie den Befehl erhält, ihre Schutzbefohlenen zu töten, wird sie stattdessen abtrünnig und entscheidet, sie zu beschützen, um einen hohen Preis. Und schließlich gibt es noch Ramita, ein Mädchen vom anderen Ende des antiopischen Kontinents, die gegen ihren Willen an einen uralten Magier verheiratet wird - den Mann, der die Gezeitenbrücke über den Ozean einst erschaffen hat und der dringend Nachkommen braucht, um ein schreckliches Unheil zu verhindern. In diesem ersten Band wird um jede dieser Personen her eine eigene Story erzählt; sie haben noch nichts oder nur wenig miteinander zu tun. Und hier kommen wir zu einem kleinen Problem dieses Buches: Es ist so überbordend voll gestopft mit Informationen, Orten, Namen und Legenden, dass man tatsächlich sehr konzentriert lesen muss, um nicht alles durcheinanderzubringen - und letztlich wohl am besten damit fährt, sich einfach treiben zu lassen und zu hoffen, dass die entscheidenden Details bei Gelegenheit noch mal aufgefrischt werden. Da Ramita, Alaron und Elena jeweils im Herzen einer der drei unterschiedlichen Kulturen beginnen, kommt jeder mit seinem ganz eigenen Satz an Namen, Städten, Herrscherhäusern, Göttern, Historie und kulturellen Feinheiten. Zudem wird die Handlung oft nicht nur aus Sicht der Protagonisten erzählt, sondern noch aus einem Dutzend weiterer Perspektiven. So schlüpfen wir beispielsweise bei Ramita für ein paar Kapitel zusätzlich noch in die Sichtweisen ihres Vater, ihres Bräutigams und ihrer besten Freundin. Jeder einzelne der Hauptfigurenstränge bringt genug Details und Personen mit, dass er für ein eigenes Buch ausgereicht hätte. Dennoch schreitet die eigentliche Handlung eher schleppend heran, da der Autor wirklich viel Erzählzeit auf die Ausschmückung seiner Welten verwendet. Das führt dazu, dass man mitunter fünf oder zehn Seiten einfach schräg überblättert, wenn zum Beispiel in minutiösen Details die Hochzeitsvorbereitungen Ramitas beschrieben werden. Dagegen fällt achtzigseitiger Tolkiens Anfang aus dem Herr der Ringe mit epischen Beschreibungen der Knöpfe auf Hobbitgewändern fast schon rasant aus
Nichtsdesdotrotz ist die Story aber spannend, und nachdem sie ab der Hälfte des Buches an Fahrt aufnimmt, weiß sie wirklich zu fesseln. Der Autor (bzw. sein Übersetzer) hat außerdem eine schöne Sprache, die sich angenehm lesen lässt und die Längen wieder verzeihlich macht. Man ahnt auch, dass die Geschichte episch angelegt ist und wirklich gut durchdacht - und wenn sich das, was sich hier andeutet, in den Folgebänden erfüllt, könnte es eine große und kraftvolle Saga werden, in der die Geschicke einzelner Menschen mit denen ganzer Welten geschickt und emotional verwoben werden. Hier haben wir wieder einmal Protagonisten, bei denen über die Story hinweg eine wirkliche Entwicklung stattfindet und mit denen man fiebern kann (oder ihnen manchmal eine reinhauen möchte - aber das gehört ja auch irgendwie dazu). Vor allem die Magierin Elena ist eine aufregende und charismatische Gestalt, die zu faszinieren weiß. Alaron ist der Prototyp des anfangs lieben und naiven Burschen, der Ungerechtigkeit von der Welt erfährt und sich irgendwann erhebt, weil es genug ist. Und Ramita ... tja, ein liebes, duldsames Mädchen, aber ich hoffe auf Überraschungen.
Hat man sich einmal darauf eingelassen, macht die Lektüre wirklich viel Spaß. Die Tiefe und Vielschichtigkeit der Hintergrundstory entfaltet nach und nach ihren Zauber und macht viel Lust auf den zweiten Band (bei dem es sich offenbar um die zweite Hälfte des englischen Originals handelt - das Buch wurde bei der Übersetzung geteilt).
Diskutieren kann man über die Art und Weise, wie das Fantasy-Universum realweltlichen Vorlagen nachempfunden ist. Die Namensschöpfungen liegen oft nahe beim Klang tatsächlicher Orte, Götter usw., das wirkt mitunter irritierend. Vor allem bei den Vorlagen für die Kulturen auf dem Kontinent Antiopia wird schnell klar, dass es sich dabei um Indien mit seinen hinduistischen Tradditionen und um islamisch geprägte Gesellschaften wie im mediterranen Raum handelt. Details wie dieses, dass ein verschmähter Bräutigam sich daraufhin von den örtlichen Fudamentalisten als heiliger Krieger anwerben lässt, um in die Intifada, ähm ich meinte, Blutfehde einzutreten und zur Not als Märtyrer zu sterben, auf den im Jenseits singende Jungfrauen warten, erscheinen zu offensichtlich klischeehaft.
Im Gesamteindruck wirkt das Buch aber sehr positiv auf mich. Es hat Potential, ist spannend und sorgfältig durchdacht, es ist intelligent und trotzdem unterhaltsam geschrieben. Angesichts der traurigen Wüste, die man in den Fantasyregalen der letzten 2 oder 3 Jahre oft vorfindet, ist es ein echter Sonnenstrahl. Es schürt in jedem Fall Vorfreude auf die Fortsetzungen und ich würde es jedem Fantasy-Fan empfehlen, jedoch unter dem Vorbehalt, dass er er für die ersten dreihundert Seiten Geduld mitbringen sollte. Aber es lohnt sich.