>>Menschliches, allzu Menschliches...<<
Philosophie und Fiktion ergibt: Irvin D. Yaloms "Und Nietzsche weinte"
Friedrich Wilhelm Nietzsche, Philosoph, Misanthrop, Verächter des weiblichen Geschlechtes.
Aphorismen wie „Der Mann macht sich das Bild des Weibes, und das Weib bildet sich nach diesem Bilde“ [1] sowie „Hoffnung ist das Übel allen Übels“[2] werden referiert, wiedergekäut, um nur noch ein Abziehbild darzustellen. Abziehbild von einer Philosophie, die durch das dritte Reich und nicht zuletzt durch seine Schwester oftmals einer Fehlinterpretation aufgesessen ist. Nur wenige beschäftigen sich mit dem Hintergrund seiner Werke, bezeichnen ihn ohne jemals in die Komplexität seiner Werke eingetaucht zu sein, als Anti-Feministen, der dem weiblichen Geschlecht sprichwörtlich die Pest an den Hals wünscht. Als Anti-Christen, der in christlicher Nächstenliebe und Toleranz das eigentliche Böse erkannte. Als Anti-Utilitaristen, der Altruismus und Sozialismus als „pöbelhafte Instinkte und Nativitäten“[3].
“Mein wahres Selbst muss ich verbergen, denn hat viele verabscheuungswürdige Seiten.“*
Doch, wer war Nietzsche? Die Negativität des Bildes bzw. die starke Idealisierung seiner Persönlichkeit kann für mich kein ausreichendes Charakteristikum seiner Figur sein. Kein Mensch ist „nur“ gut und „nur“ schlecht. Dieser Meinung schließt sich der amerikanische emeritierte Professor für Psychiatrie der Univertät Stanford in seinem 1992 erschienen Roman „Und Nietzsche weinte“ an.
“Man muss noch Chaos um sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären.“*
Im Milieu des Wiener Fin de siècle im Jahr 1882 trifft der an Migräne erkrankte Nietzsche auf Dr. Josef Breuer, späterer Mitbegründer der Psychoanalyse (außerdem Internist und Physiologe), allerdings nicht aus eigenen Stücken. Eine Intrige, eingeleitet durch die spätere Schriftstellerin, Essayistin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé, bringt den im mittleren Alter sich befindenden Philologen und Philosophen Nietzsche mit dem Arzt Breuer zusammen. Zunächst haben sie ein sehr distanziertes Verhältnis; später entwickeln sie ein spielerisches, fast auf Konkurrenz basierendes Verhältnis. Wie in einem Schachspiel schlagen sie Bauern (Argumente), weichen aus, gehen in die Offen- oder Defensive. Nietzsche gewinnt, sein ganzes Genie auslebend. Bis Breuer ihn ein Angebot macht – Nietzsche soll ihm aus seiner Verzweiflung erretten, ihn von seiner Obsession gegenüber Anna O. alias Bertha Pappenheimer befreien. Und Nietzsche? Breuer will ihm von seiner Migräne kurieren, an ihm neue Behandlungsmöglichkeiten ausprobieren.
Ihr Verhältnis wandelt sich wiederum, vom Patienten zum Patienten; anfangs ist es nur ein Spiel, gedacht um Nietzsche aus seinem Versteck zu locken, um ihn das ‚Geständnis‘ seiner Melancholie zu entlocken. Und doch bleibt die Frage des Verhältnisses. Die Frage auch danach, wer an Melancholie, an Depressionen, an Problemen in seinem Leben leidet. . .
“Er möchte meinen Weg entdecken und ihn selber gehen. Noch versteht er nicht, dass es meinen und deinen Weg gibt, aber nicht DEN Weg.“*
Yalom lässt zwei Menschen aufeinander treffen, die von ihren Emotionen und Glaubensansätzen und Haltungen gegenüber dem Leben unterschiedlicher nicht sein können. Breuer, zwar jüdischer aber nicht orthodoxer Idealist, versus Nietzsche, aufgewachsen als Sohn eines lutherischen Pastoren und Religionspessimisten.
Breuer will als Arzt dem Patienten Hoffnung schenken, ihn vor der Wahrheit des Todes bewahren. Nietzsche verneint die Hoffnung als „Das Übel aller Übel“ und spricht vom Recht des Patienten auf „seinen Tod“.
Breuer sieht in seiner „Rede-Kur“ eine gute Methodenbasis, um den Philosophen über Privates und Emotionales zur Lösung seiner Migräne zu veranlassen. Nietzsche empfindet diesen Eingriff in seine Privatsphäre als Versuch Breuers mit „ihm gemeinsamen bei den Schweinen im Schlamm zu wühlen“.
In diesem gänzlich fiktiven, dialogisch angelegten Roman werden nicht nur Personen, auch Lebensperspektiven, Philosophien, Denkansätze gegenüber gestellt in einer anspruchsvollen, mit vielen redundant erläuterten Details ausgestatten sprachlichen Stil. Porträtiert werden nicht nur Nietzsche und Breuer, auch andere Größen dieser Zeit wie den Protegé und Schüler Breuers Sigmund Freud und Richard Wagner. Fast wie in einem Drama tauchen diese Figuren kurz auf und haben nur eine Funktion, nämlich das Spiel und die Intrige in ihrer Gesamtheit darzustellen, den Verrat fast allmählich als Folge mehrerer Akte gegen Nietzsche zu führen, den Verrat Breuers als unumgänglich zu zeigen aufgrund von Nietzsches Gefühlsleiden.
Das Ende ist auch nicht als so positiv zu sehen, wie viele es empfinden. Für Breuer mag ein Neuanfang möglich sein, doch ist er das auch für Nietzsche? Und wenn ja, mit welchem Preis?
Yalom gelingt das, was vielen anderen Romanen fehlt: Ein gelungener Spagat zwischen Fakten und Fiktion. Man lauscht gespannt den Ideen Nietzsches, man lauscht aber genauso, wenn Breuer seine Träume schildert oder aber ein Gespräch konsequent wieder gegeben wird. Filigran und unaufdringlich werden Aphorismen eingebaut. Kleine humoristische Einlagen lassen sich ebenso finden, wie ein schönes Gemälde des Wiens um 1882, fast am Übergang zur Jahrhundertwende.
„Stehen nicht auch sie hilflos da und betrauern das Leben, das Sie nie gelebt haben?“*
Und noch etwas kann man diesem Roman positiv anrechnen: Man lernt etwas über sich selbst. Meiner einer hat sehr lange über den dargebrachten Altruismus und Sozialismus nachdenken müssen, genauso wie über die Idee nicht vom Leben gelebt zu werden, sondern sich selbst Befehle zu geben, um sein Leben selbst zu leben. Ein schönes, nachdenklicher machender Gedanke.
Ein schönes, nachdenklich machendes Buch ebenso. Man sollte dieses Buch zuklappen und sich folgenden Satz zu Herzen nehmen, den er bildet die Quintessenz von allem: „Werde, der du bist, und liebe das Leben“
[1] Aphorismen-Sammlung
[2] Ebenda
[3] Informationen über die Philosophie Nietzsches in Kurzform
[*]Irvin D.Yalom: Und Nietzsche weinte. Roman, Verlagsgruppe Random House, 1.Wiederauflage, 2008