Beiträge von Desdemona

    Ein Dorf am Ende der Welt. Stille, Schweigen, beredetes Schweigen.
    Kein einziger Laut eines nicht menschlichen Wesens dringt durch diese Stille. Keinen Vogel sieht man kreisen, keine Kuh wiederkäuen; man hört kein Pferd wiehern, keinen Hund bellen. Auf dem Feld sieht man keinen Ochsen vor dem Pflug, keine milchgebende Kuh im Stall; nicht einmal Ameisen oder anderes Ungeziefer kreucht und fleucht durch Ställe, Scheunen und Haushalte.
    In diesem Dorf lebt kein einziges Tier. Nur die Menschen, die sich ihrem Schicksal ergeben haben und darüber schweigen, wie es dazu kam. Sie erzählen nicht, und wenn sie es wollen, werden sie zum Schweigen gebracht. Dass diese Lebewesen existieren, wissen die Kinder nur die Lehrerin Emanuela, die ihnen Tierlaute beibringt oder aber vom (ehemaligen) Fischer Almon, der gut und gerne und mit viel Traurigkeit von seinem getreuen Hund Sito erzählt, der zusammen mit allen anderen Tieren in einer Novembernacht verschwand.
    Nur Mati und Maya, sie haben ein Geheimnis. Sie haben einen Fisch gesehen. Vielleicht nur ein Sonnenstrahl, der sich auf dem Fluss spiegelte? Was auch immer zutrifft, sie beide zieht es in den Wald, um das Schweigen der Dorfbewohner zu brechen, um herauszufinden, warum selbst Reisende diesen Ort meiden, warum die Tiere einfach so verschwanden.


    Dieses Buch ist eine Reise. Eine Reise, von Vergangenheit zur Gegenwart in die Zukunft, die von diesen beiden Kindern getragen wird. Erinnern und Vergessen sind ihre ständigen Begleiter. Die Bewohner des Dorfes verweigern sich beharrlich die Wahrheit zu sagen, ja, überhaupt darüber zu sprechen. Sie verweigern sich der Realität bzw. irgendeiner Form der Aufarbeitung von Traumata aus der Vergangenheit. Veränderungen sind ihnen zuwider, sie leben ihr Leben, sie sterben, wissend oder unwissend. Amos Oz hat diese Verdrängungsmechanismen in diesem Märchen gut herausgearbeitet in einer leichten, sehr direkten und verständlichen Sprache. Schnörkellos, ohne viel zu beschreiben agieren seine Figuren, die er leider nur unzureichend beschreibt. Maya und Mati werden auf den ca. hundert Seiten eher als emotionslose, denn als emotionale, liebende, hassende Figuren dargestellt.


    Das Geheimnis, und die damit verbundene Botschaft, die letztendlich hinter dieser Geschichte stehen, werden in mehreren Szenen beleuchtet, ohne wertend zu sein, ohne zu verurteilen. Und doch mit einem Unterton, der immer wieder fragt: „Warum ist es so gelaufen? Wäre es anders verlaufen, wenn…“ usw. Umso unverständlicher ist das letzte Kapitel dieses Werkes. Ist das Märchen bisher ohne den erhobenen Zeigefinger durch eindringliche Bilder zur Botschaft gekommen, wird sie dem Leser noch einmal recht schulmeisterlich auf dem Weg gegeben (Man solle keine anderen Menschen hänseln, weil er anders ist..), in dem man den Zeigefinger hebt und, ich übertreibe, sagt: „Lieber Kinder, macht das nicht…“, was im übrigen vollkommen unnötig ist bzw. war.


    Und doch, trotz dieser Schönheitsfehler, war dies ein interessantes, sehr nachdenklich machendes Büchlein, was mich noch sehr lange nach der Lektüre verfolgt hat.


    Was bleibt?
    Ein Märchen, eine Parabel, mit einer guten, verständlichen Botschaft, die in einer geradlinigen, direkten, schnörkellosen Sprache vermittelt wird. Einziger Fehler: Ein Leser braucht keinen Schulmeister, keinen Moralprediger, um die Nachricht dieses Werkes zu verstehen, will sagen: Das letzte Kapitel ist vollkommen deplatziert und somit unnötig.

    Über den Autor:


    Tomek Tryzna (* 15. März 1948 im niederschlesischen Ostroszowice) ist ein polnischer Schriftsteller und Filmregisseur. Schon zu seiner Schulzeit in Zwidnica fing er an, Amateurfilme zu drehen, und machte daraus später seinen Beruf. Außerdem verfasste er mehrere Drehbücher und Romane. Gegenwärtig lebt er in Warschau.


    Quellen:
    Tomek Tryzna - Eintrag bei Wikipedia
    Tomek Tryzna bei perlentaucher.de




    Klappentext:


    Kurz nur hat Romek Stratos seine Spielzeugarmee im Stich gelassen, um ein paar Runden mit Lalas Tretauto zu fahren. Aber dieser kurze Augenblick hat den Einbrechern genügt, um alles auszuräumen, was der Familie Stratos gehörte.
    Romek will seine Schuld am Ruin seiner Familie wieder gutmachen, und so beginnt eine abenteuerliche Reise voll Phantastik und Ernüchterung durch das kommunistische Polen: Noch oft wird Romek alles verlieren, aber ebenso oft wird er sein Glück machen und der profanen Wirklichkeit eins auswischen.


    "Selten wurde mitreißender und anrührender
    über den Mut, die Chuzpe und
    die Verzweiflung eines Kindes geschrieben
    als in diesem Buch."

    NRC Handelblad


    "Ein hervorragender Roman."
    Brigitte zu "Fräulein Niemand"



    Quelle:
    Bucheintrag bei Amazon.de




    Meine Meinung:


    "Ich hielt durch, weil ich einen Grund hatte, zu leben.
    Ich konnte meine Familie nicht ihrem Schicksal überlassen. Ich hatte einen hervorragenden Rettungsplan. Ich musste leben."
    *


    Romek Stratos, ein Kind noch, sollte auf die Wohnung seiner Eltern Acht geben, während diese arbeiteten - als Schneider in einem Atelier. Nur kurz hat er die ihm zugewiesene Aufgabe verlassen, um mit dem Tretauto von Lala zu fahren. Noch keinen Überblick über die Gefahren habend und somit schwer erschüttert über das Ergebnis der räuberischen Diebestour, erholt sich die Familie nicht von dem Schlag alles auf einmal zu verlieren. Nicht nur die Einrichtung und Bargeld, privat genähte Pelzmäntel oder ähnliche materiellen Gegenstände. Das "gute" Leben der Stratos hat ein Ende gefunden, nur mühsam halten sie sich mit ihren Schneiderarbeiten mehr über Wasser, immer im Begriff obdachlos zu werden oder so stark zu verarmen, dass man nicht mehr für die Grundversorgung aller aufkommen kann. Der Vater wird zum Trinker, verzweifelt an der Situation und die Mutter an ihm. Depressiv, verzweifelt, suizidgefährdet. So ist die Wahrnehmung Romeks von seiner Mutter; nur er kann sie beruhigen, nur weiß die richtigen Worte für sie zu finden, sie aufzubauen, ihr Hoffnung zu geben für ein besseres Leben.
    Und Romek? Er zieht sich immer mehr in seine Fantasiewelt zurück, nimmt das Leben nur noch teilweise und real wahr. Er kann schöne Geschichten erzählen, ist ein brillanter Redner, ein talentierter Schauspieler und Herr und Regisseur in seinem Stück der Lebensrealität.
    Stehen wir auf der Bühne von Romek Stratos oder erleben wir wirklich den Niedergang der Familie als reales Abbild? Ist dies eine Romeks erdachten Geschichten oder wandern wir wirklich durch das kommunistische Polen, durch Warschau?


    Mit solchen Fragen konfrontiert sich der Leser, sieht sich gefangen in Romeks Lügennetz, aber folgt ihm weiterhin gespannt auf seinem Weg die Familie zu retten. Schauspieler will er werden, dem Theaterdirektor vorsprechen, auf das er genug Geld für sich und seine Familie einnehmen kann. Es misslingt, privat wie beruflich wird der Aufenthalt Romeks, mit seiner Mutter, zu einem Desaster. Und doch sieht er Hoffnung, sieht eine Verbesserung. Dieser Optimismus ist geradezu ansteckend.
    Man hofft, man fiebert mit. Und das trotz einer sehr unaufgeregten Sprache.


    Die Perspektive eines zehnjährigen Kindes hat der Autor gewählt, der Verfall einer Familie wird somit sehr stark emotional fokussiert und wirkt so etwas behäbig, ja, geradezu langsam, langatmig, langwierig. Die Sprache wirkt fast stoisch, das Ende der Geschichte dagegen hektisch, schnell, unpassend, abbrechend. Soll hier ein Bruch in den Gedanken Romeks gesteigert werden? Seine Unlösbarkeit, Schuldigkeit und Hilflosigkeit gegenüber der eigenen Familie?
    Wie es auch interpretiert werden kann, für mich als Leser war der Bruch zu schnell, zu stark, zu unlogisch. Und dennoch... die Figuren bleiben selbst in dieser starken, schnellen Entwicklung sehr liebevoll gezeichnet; Tryzna nimmt sich sehr viel Zeit seine Figuren als vollständige Charaktere zu zeichnen. Eine sanfte Melancholie umgibt seine Figuren, eine fast lethargische Ruhe, welche sich auch auf den Leser überträgt. Nur Romek ist das optimistische Bindeglied zwischen zwei Welten - der realen und der ihm eigenen Fantasiewelt.


    Als ein "gelungenes Lehrstück über das Erwachsenwerden" bezeichnet es Andreas Neuhaus in der FAZ, als "romantischen Ritterroman" charakterisiert es Samuel Moser in der NZZ. Welches Genre Tomek Tryzna auch immer mit diesem Roman erreichen wollte - Gesellschaftsroman über das kommunistische Polen, ein Roadmovie durch Warschau in den 50er Jahren, oder aber skurriler, jugendlicher Abenteuerroman - man hat seine Freude mit diesem Werk. Der Roman beginnt schnell, rasant, entfaltet aber nach und nach seine Ruhe und somit auch seinen Charme. Eine vollkommen unaufgeregte Sprache, liebevoll gezeichnete Figuren, eine starke Poesie innerhalb der Geschichte gegenüber einem für mich zu starken Bruch im Ende. Und trotzdem: Der Roman weiß zu unterhalten, zu erfreuen, zu hinterfragen.

    Über den Autor:


    Maria Barbal (* 1949 in Tremp) ist eine spanische Schriftstellerin. Sie gilt als eine der wichtigsten und erfolgreichsten zeitgenössischen Autorinnen katalanischer Sprache.


    Barbal verbrachte ihre Kindheit in der bergigen Region der spanischen Pyrenäen. 1964 kam sie nach Barcelona, um an der dortigen Universität spanische Philologie zu studieren, und arbeitete im Anschluss als Lehrerin.


    In den 1980er Jahren erschienen ihre ersten Bücher, die weitgehend im archaisch-ländlichen Kontext ihrer Heimat angesiedelt waren. Ihr Buch "Wie ein Stein im Geröll" (1985) ist in ihrer Heimat in fünfzig Auflagen erschienen und inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt.


    Mehr Informationen:
    Maria Barbal - Eintrag bei Wikipedia
    Maria Barbal - Eintrag bei perlentaucher.de
    Maria Barbal - Eintrag bei "Generalitat de Catalunya"




    Klappentext:


    "Ein Roman, der zeigt,
    was wirklich wichtig ist:
    lieben und geliebt werden."


    Conxa ist gerade dreizehn, als ihre Eltern, arme Bauern in den katalanischen Pyrenäen, sie zu einer kinderlosen Tante bringen. An Arbeit mangelt es auch hier nicht, und für Gefühle kennt die Tante keine Worte, aber das Mädchen ist zumindest versorgt. Als sie einige Jahre später ihre große Liebe Jaume heiratet, erlebt Conxa sogar ein bescheidenes Glück. Doch der hereinbrechende Bürgerkrieg macht auch vor dem abgelegensten Gebirgsdorf nicht Halt - und verändert Conxas Leben für immer...


    "So ein schmales, ruhiges Buch und - es enthält
    nicht nur ein ganzes Leben, es enthält eine ganze
    verschwindende Welt." (Elke Heidenreich)




    Eigene Meinung:


    "Ich fühle mich wie ein Stein im Geröll. Wenn irgend jemand oder irgend etwas mich anstößt, werde ich mit den anderen fallen und herunterrollen; wenn mir aber niemand einen Stoß versetzt, werde ich einfach hier bleiben, ohne mich zu rühren, einen Tag um den anderen..."


    Conxa ist ein junges Bauernmädchen, aufgewachsen in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen, ohne jede Form von Bildung oder der beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten. Die Umstände ihres Leben sind vom rauen, arbeitsreichen, bäuerlichen Alltag geprägt; Gefühle und Gedanken werden in diesem geschlossenen sozialen Gefüge nicht verbalisiert noch thematisiert. Conxa kennt keine Worte für ihre Gefühle gegenüber der Tante, gegenüber ihrem späteren Mann Jaume, ihren in der Ehe geborenen drei Kindern. Und doch besteht zwischen ihnen eine Bindung, ausgelebt über Zärtlichkeiten, kurze Körperkontakte. Und doch bleibt sie in dem ihrigen Erlebnishorizont stark verwurzelt, hat weder Interesse das Spanien außerhalb ihres eigenen Horizonts kennen zu lernen. Ihre Lebensumstände kann und will sie nicht ändern. Vom Leser werden sie als stark konservativ, festgefahren, ja, als geradezu prähistorisch empfunden. Jede Veränderung, sei sie politischer oder religiöser Natur wird von der jungen Frau als bedrohlich und beängstigend empfunden. Wenn Jaume mit Feuer und Leidenschaft von "der Republik" berichtet, schwärmt, kritisiert und diskutiert, bleibt sie eher hintergründig, hinterfragt kaum, mischt sich nicht ein. Alles, was ihre Vorstellungskraft übersteigt wird nicht weiter betrachtet - aus den Augen, aus dem Sinn. Ihre Gedanken sind nur um das wenige, was sie hat, fokussiert: Familie, Haushalt, Lebensunterhalt.


    Dem Leser wird eine vollkommen andere Lebensperspektive, eine vollkommen andere Lebenssicht als es der heutigen, modernen Lebenswelt entsprechen würde. Conxa hat ein eher passives Leben, sie führt es ohne viele Fragen zu stellen. Politik, Veränderungen im Staat - diese Themen sind für sie nicht von Belang. Sie bemerkt Veränderungen, nicht zuletzt durch ihren Mann, aber sie werden nicht als Chance zur Veränderung oder Verbesserung betrachtet, sondern nur misstrauisch als etwas Neues, Modernes, Anderes interpretiert. Erst, als Jaume von vorrückenden Francotruppen ermordet und in einem Massengrab verscharrt wird, kommt der Bruch in der bis dahin sehr stark von natürlichen Leitmotiven getragenen Handlung. Conxa erlebt Trauer, nicht nur aufgrund des Todes ihres Mannes, sondern auch weil man ihr jede Möglichkeit nahm von ihm Abschied zu nehmen, ihm die letzte Ehre zu erweisen, ihn zu begraben. Eine starke Melancholie umgibt jetzt diese alternde Frau, die hin und her gerissen zwischen der aufbrechenden Moderne und der alten, bekannten bäuerlichen Welt eine Entscheidung treffen muss, wie sie ihr Leben leben will.


    "Pedra de tartera" erschien erstmals 1985, zehn Jahre, nachdem der spanische General Francisco Franco verstorben war. Er gilt als katalanischer Klassiker, als Werk, welches den vielen Menschen Namen und Ehre wiedergab, die durch das totalitäre, diktatorische Regime Land, Familie, Stand, vielleicht sogar Ehre und Charakter genommen wurde. Melancholisch, traurig, ja geradezu dramatisch erscheinen die Entwicklung für ein ganzes - katalanisches - Volk, dem man nicht zuletzt die Möglichkeit der Sprache nahm. Ein ganz außergewöhnliches Schicksal wird beschrieben - und Conxa und Jaume stehen als Paar beispiellos dafür. Mit äußerster Genauigkeit beschreibt Maria Barbal einen für heutige Verhältnisse sehr unbekannten Lebensstil, im Wechsel der Jahreszeiten, im Wechsel von Licht und Finsternis. Sehr authentisch wirkt dieses Schicksal, sprachlich schön gestaltet, geradezu poetisch trotz des starken Realismus. Naturaufnahmen finden genauso Einfluss, wie die Gestaltung eines Arbeitstages, aber auch Conxas Gedanken über bevorstehende Ereignisse. Gebildet mag sie nicht sein, dumm ist sie deswegen noch lange nicht. Sie gewinnt an Sprache, an Worthülsen, um ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen; manchmal sehr abstrakte Begriffe und Vergleiche, die mit ihrer eigenen Welt zu tun haben. Und die bereiten dem Leser das größte Vergnügen, wirken sie doch wie eine frische Sommerbrise beim Lesen.


    Poetisch, geradezu wunderschön und melancholisch mutet dieser gerade einmal 150-Seiten lange Roman an. Man findet sich sehr schnell in die Handlung ein, die Zeit verfliegt nur so. Und doch ist es Zeit die sich lohnt. Dieses Buch ist ein kleiner Schatz - noch lange hat mich das Schicksal Conxas nach der Lektüre begleitet, noch lange war ich verzaubert von dieser doch eher rauen, eher reizlosen, harten Gebirgswelt. Ein wirklich feines, schmales Buch.

    Über den Autor:


    Xiaolu Guo wurde 1971 in einer kleinen Stadt am chinesischen Meer geboren. Mit achtzehn ging sie nach Beijing, studierte dort an der Filmhochschule. und schrieb fünf Romane. Im Jahr 2002 zog sie nach London. Sowohl in China als auch in ihrer britischen Wahlheimat machte sie sich als Filmemacherin und Schriftstellerin einen Namen. Mit "Kleines Wörterbuch für Liebende" gelang ihr der internationale Durchbruch. Im Knaus Verlag erschien 2005 von Xiaolu Guo bereits der Roman "Stadt der Steine".


    Weitere Informationen:
    Xiaolu Guo - Porträt bei Random House
    Xiaolu Guo bei perlentaucher.de
    Xiaolu Guo - Homepage (Englisch)




    Klappentext:


    Lost in Translation zwischen Peking und London


    Die junge Chinesin Zhuang reist zum ersten Mal in den Westen und taucht in eine fremde Welt ein. Sprache und Umgangsformen, Essen und Trinken, Liebe und Sex - alles ist befremdlich, überraschend und manchmal unbegreiflich. Ebenso amüsante wie erhellende Missverständnisse verbinden sich zu einem rasanten Verwirrspiel zwischen Ost und West und Mann und Frau. Ein außergewöhnliches Lesevergnügen!


    Als Zhuang in London ankommt, fühlt sie sich vollkommen verloren. Ihre Eltern haben sie in den Westen geschickt, damit sie Englisch lernt. Doch es ist nicht nur die fremde Sprache, die ihr Mühe macht. Sie sieht sich mit unfreundlichen Taxifahrern, ungenießbarem Essen und seltsamen Umgangsformen konfrontiert. Unbekannte Wörter, ungewöhnliche Begebenheiten und verblüffende Beobachtungen hält sie in einem kleinen Notizbuch fest, das zum Rettungsanker im Meer der Missverständnisse wird. Geborgen fühlt sich Zhuang nur im Kino - dort begegnet sie schließlich auch der Liebe. Doch im Westen erweist sich diese als ebenso kompliziert wie der Alltag. Xiaolu Guo inszeniert den Kulturschock erhellend und voller Witz. "Kleines Wörterbuch für Liebende" ist ein kluges, unterhaltsames Verwirrspiel um kulturelle Unterschiede und nicht miteinander zu vereinbarende Lebensformen. Zugleich ist es eine zärtliche, bittersüße Liebesgeschichte. Ein außergewöhnliches Lesevergnügen!


    "Dieser Roman ist so unterhaltsam
    wie die "Kurze Geschichte des
    Traktors auf Ukrainisch" -
    er ist nur viel besser!"
    (The Independent on Sunday)




    Eigene Meinung:


    "Ich bin auch keine Intellektuelle. In diese Land in Westen ich bin Barbarin, ungebildete Bauernmädchen, ein Gesicht aus Dritte Welt und unberechnungsfähige Fremde. Ein Alien von andere Planet."


    Zhuang, kurz Z, fühlt sich verloren. Von den chinesischen Eltern nach London geschickt, um Englisch zu lernen, ergo eine bessere Ausbildung zu machen, neue Chancen zu erschließen, als die eigenen Verwandten es jemals tun könnten, fühlt sie sich sehr bald verloren, allein, einsam in dieser großen Stadt, in diesem Land, welches so viel anders ist als zu Hause. Kohlensäurehaltiges Mineralwasser, Vegetarismus, Anarchismus, Individualismus, das eigene "Ich" - Inner Self - alles ist fremd, alles wirkt bedrohlich, misstrauen erweckend. Und dann trifft sie einen Mann; einen Mann, der in ihr Gefühle der Leidenschaft hervorruft, der erste Sex, die erste Verbalisierung von Sexualität, aber auch von Liebe, von Beziehung, von Alltagstätigkeiten, von Beziehung. Diese vollkommen neuen Eindrücke schildert Zhuang in einem "Wörterbuch", eher Tagebuch, in dem sie neue Gedanken, Ausdrücke, Worte und Wortgruppen notiert, so eindringlich und authentisch formuliert, dass einem die Protagonistin bald ans Herz wächst. Mit viel Naivität, Neugierde und Lebenswillen läuft sie durch das trübe London, an der Seite dieses Mannes, der so ganz anders ist in ihrer Beziehung als sie es kennt.
    Er plädiert für das "Ich", sie für das "Wir". Er plädiert für "Freiheit" und "Unabhängigkeit", sie für "Familie" und "Ordnung". Er will ein Leben führen, ohne gebunden, ohne gefesselt zu sein. Sie will eine häusliche Fessel, will die Heirat.


    Guo lässt hier nicht nur zwei unterschiedliche Kulturen, sondern auch zwei vollkommen unterschiedliche Lebenskonzepte sich konfrontieren, diskutieren, kontrastieren. Die chinesische Leitkultur des Kollektivismus versus die vollkommen individualisierte, geradezu a-soziale Leitkultur des Westens. Die Autorin scheut nicht Klischees zu benennen, die auf beiden Seiten zu bestehen scheinen, sie aufzubrechen, sie zu parodieren, zu karikieren, aber sie auch zu untermauern, wenn nicht sogar zu übertreiben. Es ist ein Spiel mit Ansichten, nicht nur welche politischer Natur, selbst ein Pornoheft wird als Anlass dazu genommen, inwiefern die "Freizügigkeit" der westlichen Kultur bestimmend ist für ein gemeinsames Liebesleben.


    Erotik, aber nicht zuletzt die Liebe ist bei beiden Protagonisten, keine Diskussionsfrage. Sie streiten sich nicht darüber, ob sie sich lieben, sondern ob dieses Ausleben der Liebe richtig ist, in den richtigen Bahnen verläuft und ob nicht eine Fehlentscheidung dahinter stand, dass sich ein 20-Jahre-älterer Herr mit einer jungen, eher "wortlosen" Chinesin einlässt.
    Diese "wortlose" Chinesin blüht immer mehr auf, je mehr sie die englische Sprache erlernt, je mehr Begriffe sie erkennt, nachschlägt und wiederkennen kann. Die anfänglichen Grammatikschwierigkeiten finden genauso Einfluss in den Stil, wie verschiedene Wortbedeutungen, kulturelle und religiöse Unterschiede. Guo benutzt in diesem Werk eine sehr authentische Sprache, die niemals überbordernd, niemals übertrieben schön oder verschnörkelt ist. Das Vokabular Zhuangs ist eingeschränkt, so auch das Vokabular des Stils. Und doch wirkt der Stil realitätsnah, sehr flüssig, teilweise sehr abstrakt durch unterschiedliche Bilder und Gleichnisse, die Zhuang benutzt um ihre Lebenswelt verständlich zu machen.


    Ob die Geschichte an sich authentisch ist oder nicht, möchte ich nicht bewerten. Allerdings - in der Lesart eines Textes, welcher sich mit den Problemen der Integration bei Problemen mit der Fremdsprache und kulturellen Unterschieden - wirkt die Textdarstellung sehr gelungen. In der Lesart einer Liebesgeschichte habe ich Probleme eine Paarbeziehung beider Protagonisten zu akzeptieren, fühle mich teilweise sogar vom männlichen Part sehr abgestoßen.


    Und dennoch... nach meiner Ansicht ein schöner, flüssig lesbarer, trotz sprachlicher Eingeschränktheit wunderschöner literarischer Text.

    Mir ging es mit Daniel Glattauers "Gut gegen Nordwind" ähnlich.


    Vollkommen überschätztes Machtwerk. Die Charaktere sind unpersönliche Konstrukte, die blutleer und charakterleer sind. Eine Internet-Liebe entwickelt sich aus einer fehlgeleiteten E-Mail. Sie ist verheiratet, er kommt gerade aus einer gescheiterten Beziehung. Beide mögen, lieben sich, wie sie es nennen und schaffen es nicht innerhalb von 220 Seiten sich zu treffen. Hinzu kommt ein Ehemann, der dem "Geliebten" anbietet eine Nacht mit seiner Frau zu verbringen, um sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Entschuldigung, aber selten habe ich einen so konstruiert wirkenden, unrealitischen, durchaus flüssig und interessant geschriebenen Roman erlebt. Der Schreibstil kann allerdings auch nicht wettmachen, was der Geschichte an Inhalt fehlt.

    Ich stehe gerade am Grabe meines Opas Slavko und versuche ihn mit Hilfe des Zauberhutes und Zauberstabes zum Leben zu erwecken, was nicht funktionieren will, da all meine Kraft Carl Lewis dazu verholfen hat bei Olympia in 9,36 Sekunden zu sprinten.


    Zitat

    Original von Seestern


    Ja klar, alle Raucher sind natürlich unmündig.
    Darauf zünd ich mir erst mal eine an :lache


    Ich zitiere:


    volljährig, im rechtlichen Sinne uneingeschränkt geschäfts- und deliktfähig. Mündigkeit tritt derzeit mit Vollendung des 18. Lebensjahres ein. Der mündige Mensch spricht »durch eigenen Mund« d.h. selbst- und nicht fremdbestimmt. Er ist in der Lage, Verantwortung zu übernehmen und sein Eigenwohl dem Gemeinwohl unterzuordnen.


    Quelle: Lexikon sociologus

    Es geht bzw. ging beim Rauchverbot nicht um die Einschränkung des "mündigen Bürgers", des Rauchers, sondern in erster Linie um den Schutz des Nichtrauchers. Wenn ich im Winter, unbekleidet, durch den Schnee laufe und in Eiseskälte auf der Zugspitze sitze, dann ist das mein Privatvergnügen. Wenn allerdings jemand in einem Lokal raucht und die Chance an Lungenkrebs zu erkranken durch Passivrauchen eines anderen Menschen steigert, dann bezeichne ich das nicht als Privatvergnügen sondern schlichtweg als Körperverletzung.
    Mit dem Argument der "Freiheitsbeschneidung eines mündigen Bürgers" ist jedes Gesetz, jede Richtlinie, die eine Ordnung vorgibt, anzweifelbar. Warum muss ich bei Rot an der Ampel stehen bleiben? Warum nimmt man mir die Freiheit eine Waffe zu tragen? Warum gibt man mir nicht die Freiheit Leuten einen Tritt in den Hintern zu geben, wenn ich schlechte Laune habe?
    Diese s.g. Freiheit gehört dorthin, wo die Gesundheit und somit das Leben eines Menschen gefährdet ist. Wenn jemand in seinen Privaträumen raucht, dann soll er das tun. Allerdings in Räumlichkeiten zu rauchen, wo auch Kinder und Jugendliche vor allem, aber auch andere Menschen anwesend sind, empfinde ich es einfach als unhöflich und egoistisch nicht nur ungefragt, sondern überhaupt zu rauchen.


    Es ist dennoch wie eh und je: Kapitalismus, Lobbyismus und Angst um den Profit sowie purer Egoismus stehen über dem Recht des Einzelnen auf freie Luft zum Atmen bzw. auf "körperliche Unversehrtheit".


    [Ohne persönlich werden zu wollen, aber inwiefern ist man ein "mündiger" Bürger, wenn man raucht, und somit seiner eigenen Gesundheit und der anderer Menschen schadet?]


    Mein eigentlicher Habitus wäre es eine Rezension über dieses Buch zu schreiben. Seit Tagen schon schiebe ich diese "Pflicht" vor mir her, weiß ich weder, was ich Positives noch Negatives dazu sagen kann und soll. Egal, wie ich es formuliere, mit Zitaten ausschmücke und zu beschreiben versuche, es wird dem Buch nicht gerecht und auch nicht dem Leseerlebnis, welches ich dabei empfand.
    Es hat mich über eine nur sehr kurze Zeit beim Akt des Lesens begleitet, aber noch lange nach dem Beenden dieses Aktes verfolgte mich dieses Werk Markus Zusaks' und ließ mich mit vielen offenen Fragen, Gedanken und Gefühlen zurück, die nur schwer einzuordnen sind. Es ist eine Balance zwischen dem Wunsch das Buch sogleich wieder in die Hand zu nehmen und es dennoch nicht zu können.
    Vieles in diesem Buch sind Gedanken und Gefühle, die sehr schmerzhaft sind, auch in der Erfahrung eines Lesers. Man beschreitet gemeinsam den Weg mit Liesel, wie sie ihren Bruder verliert durch den Tod, ihre Mutter durch die Vergessenheit, in eine Pflegefamilie kommt, in die sie sich zunächst nur schwer einleben kann. Die Liebe zum Pflegevater als einziger Halt, ihre Freundschaft zu Rudi als treibende Kraft, ihre Liebe zu Büchern als Lebenserhalt.
    Und doch trauert und weint man nicht nur, sondern man lacht auch, schmunzelt und fiebert immer wieder mit. Historische Daten, die eher ironisch gefärbten Auffassungen des Todes über die Menschen sind dabei nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern auch bewusst eingesetztes Stilmittel. Manche finden es pietätlos ein "Etwas" darüber sprechen zu lassen, wie es seine "Arbeit" verrichtet. Vielleicht ist es pietätlos, aber gleichzeitig reflektiert dieses Wesen in seiner Funktion als Erzähler die gesamte Umgebung mit all ihren Metaphoriken, mit all den Schönheiten in dieser Welt.


    Ich möchte mich Caia anschließen; dieses Buch ist mitreißend, spannend und unterhaltsam. Man lacht, man weint, man fiebert mit den Hauptcharakteren mit, fühlt sich nie allein, sondern immer mitten im Geschehen. Der Schreibstil Zusaks ist sehr "einfach", ohne viel Schnörkelei.


    Ein wirklich guter Roman, der zu gefallen weiß.

    Die Banalität des Bösen


    “Nicht, dass Junie MICH kennt. Nicht, dass irgendwer im Universum MICH kennt.“


    Quentin P. ist ein Sadist. Ein Serienmörder. Ein moralisch verwerfliches, nicht tragbares Mitglied einer Gesellschaft. Er ist einfach nur ein böser Mensch, lebt isoliert, zurück gezogen, hemmungslos seinen homosexuellen Neigungen fröhnend als Hausmeister in einem Mietshaus. In den Augen seiner Großmutter ist er der liebe, nette Junge, der ihr einmal pro Woche den Rasen mäht. In den Augen seiner Mutter ist er immer noch der kleine Junge, der an ihrer Brust trinkt. In den Augen seines Vaters ist er ein Versager.
    Quentin kann jede Rolle einnehmen, jede. Er bezieht selbst keine. Er agiert nie moralisch, nie emotional. Dargestellt ist er fast nur als Triebwesen, rastlos, immer auf der Suche nach einem jungen Mann, den er zu seinem Zombie machen kann, abhängig von ihm, von seinen Gelüsten und Wünschen, ohne eigene Meinung, eigenes Leben, eigene Träume und Gedanken. Nur für ihn lebend, atmend, denkend. Quentin sucht sich diese Menschen, er betäubt sie, missbraucht sie, tötet sie, unterzieht sie grausamen Operationen, Lobotomien, um ihnen die Fähigkeit zu nehmen eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Die ‚Versuchspersonen‘ sterben immer; er beschäftigt sich nur mit ihrer Entsorgung, um sich kurz darauf ein neues Opfer zu suchen.


    “Sieh zu, dass das Licht in dir nicht Finsternis sei“ (Lukas 11, 35)


    Das Erschreckende an diesem Szenario ist nicht der Mord, ist nicht die Beschreibung der ablaufenden „Operationen“, die Joyce Carol Oates dem Leser durch ihre präzise und sehr direkte Sprache nahe bringt, ohne ein Detail auszusparen, sondern die Banalität der Idee hinter Quentins Plan: Die Suche nach einer Person, die nur für ihn lebt und liebt. Eine Person, die ihm zuhört, ihn Wünsche erfüllt, ihn als das nimmt was er ist. Nicht als Geschichte eines Versagens, wie sein Vater. Nicht als bloßes Kind, noch finanziell abhängig vom Elternhaus wie seine Mutter. Als kleines Brüderchen ohne viel Zukunft wie seine Schwester. Es soll eine Persönlichkeit sein, die ihn als menschliches, emotionales Wesen wahrnimmt, ohne ihn aufgrund seiner Sexualität und seines Charakters abzuwerten. Dass dafür eine Lobotomie notwendig ist, fest verankert in den Gedanken Quentins, um ihn als liebenswertes und gutes Mitglied einer Gesellschaft anzuerkennen, könnte man als die eigentliche Tragik dieser Figur beschreiben. Und doch… Mitleid kann man nicht empfinden.
    Er handelt als Täter geplant, überlegt, scharfsinnig und unmoralisch. Seine Figur ist ohne emotionale Tiefe, was die Autorin beachtlicher weise durch die Form des Monologes darzustellen weiß. Quentins Notizen sind lapidar, auf das Wesentliche konzentriert, ohne viel Schnörkelei direkt und ehrlich. Er reflektiert weder sein Handeln noch wird er durch eine dritte Instanz von Außen in Form einer anderen Sichtweise zu ihm verurteilt. Er ist eine auf Handlung ausgelegte Figur, keine denkende oder fühlende.


    Und das macht dieses Buch spannend. Der Leser wird zum Voyeur der Taten; er verurteilt Quentin. Man wirft in Unmoralität vor, Grausamkeit und Sadismus gegenüber seinen unschuldigen Opfern. Man wirft ihn vor das Leben anderer zu zerstören, ihnen das Allerheiligste zu nehmen: Ihr Recht auf Leben. Und hierin liegt die ganze Stärke dieses Buches. Der Stil von Joyce Carol Oates ist nicht emotional, nicht leidenschaftlich, geradezu abgehackt und trocken. Sie moralisiert nicht, das überlässt sie dem Leser. Sie verurteilt nicht, das überlässt sie dem Leser. Sie stellt dar, sie referiert förmlich über das gescheiterte Lebend des Quentin P., aber bei aller Beschreibung bleibt sie doch als moralische Instanz immer im Hintergrund und ermöglicht dem Leser so einen Einblick in die Gedankenwelt eines Sozipathen. Dieser Einblick lässt einen das Blut in den Adern gefrieren, wenn man sich drauf einlässt. Bei mir haben die Beschreibungen nicht nur Ekel ausgelöst, wenn Quentin P. seine Opfer einen Eispickel unter das Augenlid stieß, um den Bereich des Gehirns zu verletzen, der für die Gefühle zuständig ist; ich habe mich auch als strenger Beobachter empfunden, als Zuschauer, als Voyeur ohne Stimme, der am liebsten schreien, helfen, abhalten würde, aber es nicht kann. Mit dieser Hilflosigkeit ist man konfrontiert. Eine der Stärken dieses Buches, aber auch etwas, was mich abstößt, was mich ehrlich gesagt etwas zitternd zurück lässt.


    Joyce Carol Oates weiß Charaktere darzustellen, mit denen man fühlen kann, obwohl sie nicht fühlen. Mit denen man reuen kann, obwohl sie nicht reuig sind. Dieses Buch entwickelt geradezu einen Sog aus Spannung, Unterhaltung, aber auch Angst und einen Gefühlsaufschwung. Und das bei einer sehr lapidaren, prägnanten, emotionslosen Sprache.

    ... Es ist so warm, dass jede Bewegung Schweißausbrüche auslöst...


    Im übrigen zu der "Braun oder nicht braun. Das ist hier die Frage!"-Diskussion bzw. eine literarische Auseinandersetzung mit dem fahrenden Volk der Sinti und Roma habe ich einen Buchtipp:


    ~*~

    Ich habe gestern schon per Post einen 7-Euro-Gutschein vom Media Markt zugeschickt bekommen, nachdem ich an einer Umfrage teilgenommen habe. Irgendwann, wenn ich unterwegs bin, kann ich mir dann in Ruhe einen Film aussuchen :-]

    Für mich gibt es eine wesentliche Frage, die ich als Quintessenz aus einigen Beiträgen herauslesen kann: Die Frage, was Literatur überhaupt ist. "Feuchtgebiete" wird von einigen Diskussionsteilnehmern der Rang abgesprochen überhaupt in dem Bereich der Literatur zu gehören. Mich würde interessieren, was für euch Literatur ist? Betrifft sie nur den schöngeistigen Teilbereich oder auch den "trivialen" Bereich? Was macht für euch Literatur überhaupt aus?


    Ein weitere Aspekt war die Position und auch die Rechte / Pflichten eines Lesers und dazu zitiere ich nur allzu gerne ein Gedicht:


    Zitat

    Original von Potti
    Danke, Seestern. Ich hätte das Buch wahrscheinlich eh nicht gelesen, aber jetzt erst recht nicht. Wie kann man dieses schöne Medium nur so verschandeln, indem man es dazu benutzt (ich will fast sagen "ausnutzt"), um zu schildern, wie zwei Mädchen gebrauchte Tampons austauschen oder Erbrochenes trinken?! :pille Das ist doch nicht mehr lustig.


    Diesen Beitrag möchte ich einen für mich sehr interessanten und diskutablen Meinungsansatz voranstellen. Der User bzw. die Userin stört sich an einem literarischen Werk wie "Feuchtgebiete" und unterstellt der Autorin das Medium Buch bzw. Literatur "auszunutzen", um 'Schweinekram' publizieren zu können. Sie "verschandele" die Literatur oder auch deren Ruf als Medium. Wie man es auch interpretiert, für mich stellt sich hier eine interessante Frage: Was darf Literatur und was darf sie nicht? Gibt es Grenzen beim Schreiben eines Stücks Literatur? Gibt es so genannte Parameter, die man in Betracht ziehen muss oder aber ist die Literatur frei, in der Art des Stils wie bei der Auswahl der Themen?


    Was sagt ihr dazu?

    "Mein Gott, dieses furchtbare Buch..."


    oder: der Unwille eines normalen Rezipierens



    Was ist in den letzten Wochen nicht über Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ gesagt worden. Jenni Zylka bezeichnet es in der taz als „Schleimporno gegen den Hygienezwang“[1]. Im Forum der Büchereulen argumentiert die Userin Katja gegen das Buch mit den Worten: „Bah ist das ekelig. Sowas würd ich nie lesen!“
    Die Autorin überschreite Grenzen, so die Userin Batcat: „Bloß weil man weiß, daß man sowas machen kann (wie auch Ko...eschlürfen), muß man nicht über alles schreiben.“ Toleranz gegenüber einen provozierten Tabubruch – Ja, aber bitte in Maßen. Zudem sei in diesem Werk keine Intention weder politischer noch „feministischer Natur“, wie es einige Rezensenten großer deutscher Tageszeitungen, predigen.


    Eigentlich kann ich über bestimmte Haltungen nur lächeln. Nicht, weil ich eine Verfechterin des Buches bin, ich kann nicht einmal behaupten das Buch gelesen zu haben. Aber dieser Versuch einer negativen Presse, um das Buch als „flach, pornographisch, daneben, provokant und einfach widerwärtig“ zu titulieren hat natürlich zum Gegenteil geführt. Jeder will es lesen, jeder will sich über Charlottes bzw. Helens Ausscheidungen, Körperflüssigkeiten und sexuelle Wünsche mokieren können. Jeder will etwas dazu vortragen und sei es auch nur eine ein-Satz-Kritik: „So’n Scheiß‘!“
    Noch nie ist ein Buch, welches so schlecht rezipiert wurde in Zeitungen und Zeitschriften, so gut verkauft worden, so meine Beobachtung. Das Buch befindet sich seit vielen Wochen nicht nur bei Amazon auf Platz Eins des Belletristik-Rankings sondern auch auf der SPIEGEL-Bestseller-Liste [URL=http://www.spiegel.de/kultur/charts/0,1518,458991,00.html]ungeschlagen auf dem vordersten Platz[/URL]. Nicht einmal so beliebte Autoren wie Ken Follett oder Siegfried Lenz können der ehemaligen VIVA-Moderatorin den Rang ablaufen.


    Bestsellerlisten werden nach dem Verkaufsstand eines Werkes berechnet. Und so scheint „Feuchtgebiete“ das gleiche Schicksal zu haben wie die BILD – Niemand liest sie, niemand kauft sie und sie bleibt dennoch eine der auflagenstärksten Zeitungen in deutschen Landen.


    Man könnte sich jetzt folgendes fragen: Wenn das Buch so pietätlos, respektlos gegenüber dem weiblichen Körper, ekelhaft, widerwärtig und tabulos ist, warum kauft und liest man es dann? Und weiter, warum beurteilt man es nicht nach den eigentlich sehr gängigen Kriterien eines „Laien-Lesers“? Ist es unterhaltsam, spannend, flüssig und abwechslungsreich geschrieben? Warum wird das Buch nach einer Intention, einer Moral abgesucht? Warum wird hinter allem, was sich gegen ein gesellschaftliches Phänomen richtet eine politische Idee vermutet und, da die Autorin weiblich ist, eine neue Form von Feminismus?


    Eigentlich ist diese ganze Diskussion ja sehr löblich, schließlich bietet das Buch sehr viel Diskussionsstoff und mir gefällt es, dass über ein literarisches Werk öffentlich diskutiert wird. Nur, die Art und Weise einer Diskussion ist entscheidend. Die Art und Weise, wie sonst mit Literatur umgegangen wird, ist entscheidend. Bestes Beispiel, so Wolfgang Tischer in seinem Beitrag „Feuchtgebiete für alle! Literaturkritik für alle!“, sei die öffentliche Diskussion über „Feuchtgebiete“, während Werke wie „Mieses Karma“, in der das Bild einer Karrierefrau als „falsch und mitleidsvoll“ dargestellt wird geradezu ignoriert werden.



    Dieses Werk sei die Romanisierung der Eva Herman’schen Haltung einer Frau, die nur hinter dem Herd glücklich sein kann. Für Tischer sei das die eigentliche Perversion und nicht die „paar Feuchtgebiete“ in Charlotte Roches ‚Pamphlet‘.


    Gehen wir also nach den von mir genannten Kriterien vor, während ich eine Leseprobe genieße: Der Stil ist für mich sehr simpel; wenig abwechslungsreiche Satzstrukturen, geringer Wortschatz. Beispiel hierfür: „Weil ich mich innerlich sehr gegen das Rasieren wehre, mache ich das immer viel zu schnell und zu dolle. Genau dabei hab ich mir diese Analfissur zugefügt, wegen der ich jetzt im Krankenhaus liege. Alles das Ladyshaven schuld. Feel like Venus. Be a goddess!”[2] Mir ist das Verb “Ladyshaven” nicht bekannt, ergo gehe ich von einem Neologismus aus.
    Ebenso werden onomatopoetische Elemente („Mit Abstand. Direkt danach auf Platz zwei kommt der Schmerz, den ich hatte, als mir mein Vater die Kofferraumklappe unseres Autos die ganze Wirbelsäule entlanggeschrabbt hat - ratatatatat - beim volle Pulle Zuschlagen.“[3]) eingesetzt, die fast Comic-artig wirken; genauso wie Hyperbeln („Und rammt mir dann was ins Arschloch. Der Schmerz bohrt sich die Wirbelsäule hoch bis zur Stirn. Ich verliere fast das Bewusstsein.“[4]) und fast ein konservativer Umgang mit Bezeichnungen für den weiblichen Genitalbereich – Poloch, Brustwarze, Sack usw.


    Ist es spannend? Beim Betrachten einer Inhaltsangabe der Geschichte, fällt mir ein Jugendbuch ein, welches ich mit 12 oder 13 gelesen habe. Es heißt „Fingerspitzengefühle“ von Aiden Chambers.



    Meine Erinnerungen sind stark getrübt, aber eines weiß ich noch: Ditto ist ein junger Mann, ausgerissen von seinen beiden Eltern, die sich scheiden lassen wollen. Er sucht eine Partnerin, möchte endlich Erfahrungen mit Liebe und Sexualität machen und findet diese in einem Zelt mit der jungen Helen. Ich weiß nicht mehr, wie es ausgeht, aber ich musste an diese Geschichte denken, während ich die Geschichte Helen Mehmels überflog. Ihre Eltern haben sich scheiden lassen und auch beide neue Partner; sie versucht diese wieder zusammenzubringen, denkt sich dafür alle möglichen Krankheiten aus und findet im Krankenhaus ihre große Liebe. Klingt das spannend? Na ja, wenn man Groschenromane mag, vielleicht. Für mich klingt das nicht sonderlich spannend. Und genauso wenig unterhaltend.


    Dieses Werk, ich wollte es noch einmal betonen, ist nicht durch mein Raster gefallen, weil es so tabulos und pietätlos ist, sondern weil ich es einfach schlecht geschrieben und langweilig finde. Und Bücher, die mir so auffallen, werden von mir ignoriert und als das bezeichnet, was sie sind: Massenware.






    [1] Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 28.02.2008
    [2] "Feuchtgebiete" - Die Leseprobe
    [3] ebenda
    [4] ebenda

    Unbedingte Mutterliebe, ein Satansbraten und väterlicher Opportunismus


    28 Briefe schreibt Eva Katchadourian. 28 Briefe, in denen sie erklärt, rechtfertigt, argumentiert, warum ihr Sohn Kevin mehrere Menschen in einem Schulmassaker tötete.


    "Alles hängt davon ab, wie sehr Menschen es mögen, hier zu sein, einfach am Leben zu sein. Ich glaube, Kevin haßte es."*


    Gedanken werden wach, an Luke Woodham, Michael Carneal, Kip Kinkel, Dylan Klebold und Eric Harris. Und doch ist Kevin anders. Sie sieht in ihm die Inkarnation des Bösen; sie sieht in ihm ein Produkt der eigenen Verweigerung von Mutterliebe, ein Produkt der eigenen Hoffnungslosigkeit und Konfilktlosigkeit durch und vom Vater, immer darum bemüht das heile, amerikanische Familienbild zu wahren. Zeichen, Warnungen, selbst Hinweise von anderen Eltern und Lehrern werden als ‚üble Nachrede‘ abgewertet. Porträtiert wird hier nicht eine im Proletariat lebende Familie, ohne finanzielle Mittel, ohne berufliche Perspektiven. Illustriert wird kein Teenager, der Mobbing, Misshandlung oder Missbrauch ausgesetzt. Auch kein Schüler, der unbeliebt und von allen gemieden wird. Kevin gehört auch keinem Satanskult an, spielt gefährliche Computerspiele, schaut Horror-Videos oder hört Marylin Manson.
    Kevin fühlt sich nicht einsam und unverstanden. In Evas Augen ist Kevin nicht einfach nur anders, für sie ist er das reine Böse.


    „Seit der Sekunde seiner Geburt assoziierte ich Kevin mit meinen eigenen Grenzen, nicht nur mit Schmerz, sondern mit Niederlage.“*


    Eva selbst stellt sich nicht in das beste Licht. Ihr Egoismus, ihre Selbstherrlichkeit, ihre Eitelkeit, ihre unterbewusste Ablehnung Kevin gegenüber wird authentisch an einzelnen Episoden erzählt. Es wird deutlich, dass sie sich nicht emotional für die Schwangerschaft entschieden hat; mehr noch erscheint ihr Sohn als Störfaktor in der Beziehung zu ihrem Partner. Sie bemerkt mehrmals, dass sie weder in die Rolle der Hausfrau und Mutter passt noch in den späteren Jahren zu der, des Globetrotters. Sie fühlt sich beengt, nicht frei von Abhängigkeiten und Lasten. Wie Kevin.


    Die Briefe Evas sind eine quälende Selbstbefragung, man bekommt den Eindruck einer Frau, die sich unbedingt rechtfertigen möchte. Sie dementiert zunächst jede Schuld, fragt sich aber doch, ob es sich nicht hätte anders entwickeln können: Warum haben sie sich nicht therapeutische Hilfe gesucht? Warum nicht dann die professionelle Hilfe, als ihnen als Familie bewusst wurde, dass Kevin ihn in die Leidenschaftslosigkeit und Perspektivlosigkeit entgleitet?


    Es sind 28 Versuche. 28 Versuche für Donnerstag eine Erklärung, eine Rechtfertigung zu bekommen. 28 Versuche zu ergründen, warum er so und nicht anders sich entwickelte, warum er so und nicht anders handelte, warum er so und nicht anders dachte. 28 Versuche auch zu ergründen, warum die Beziehung nicht funktionierte, warum es eine Aufteilung der Liebe, einen Beschützerinstinkt für das ‚missratene Kind‘ gab, ohne Chance Hinweisen und Warnungen der eigenen Frau, Nachbarn, Freunden und Schulkameraden zu glauben.


    „Ich merkte, dass das Porträt, was ich hier zeichnete, nicht attraktiv ist“*


    Das Buch ist vor allem eines: Ehrlich.
    Eva stellt sich selbst in sehr negatives Licht, sie weiß, dass sie keinen Raum zur Identifikation bietet, keinen Raum dazu bietet Sympathie hervorzurufen. Und doch redet sie. Man hört zu, will das Geschehen begreifen. Ich verspürte nicht nur Ekel und Ablehnung, sondern auch Mitleid und Betroffenheit, nicht nur für Kevin sondern auch für Eva.


    Das Buch ist sehr differenziert; durch den Briefstil hat man nur die Perspektive der 55-jährigen alte Eva, nicht die des Mannes oder außenstehender Personen, aber dennoch wechselt sie die Seiten, bietet Einblick in die Gedankenwelt Umstehender, in die Wut Mary Woolfords, die ihre Tochter verlor. In die Gedankenwelt ihres Mannes, der der glücklichen Persönlichkeit seines Sohnes glaubte ohne das Theater zu hinterfragen.


    Nicht nur differenziert ist dieses Werk und ehrlich, sondern auch wortgewaltig, stilsicher und unterhaltsam geschrieben. Es wird nichts kaschiert, Metaphern werden zur Verbildlichung nur spärlich eingesetzt. Im Vordergrund des Shriver’schen Stils steht die reine und realitätsgetreue Darstellung. Nicht ein Wort ist zu viel. Die Autorin beschreibt hier in einfachen, sehr direkten und klaren Worten eine Geschichte von Beziehungen, vom Scheitern, von falschen Perspektiven, von falschen Einschätzungen.
    Es ist kein „Betroffenheitsbuch“, es ist kein Buch, was Mitleid hervorruft. Die Geschichte ist real, sie ist wahr. Geradezu schnörkellos. Geradezu hart.


    Und spannend. Ich konnte es lange nicht aus der Hand legen. Ob dieses Werk ein Beitrag zu einer aktuellen Diskussion darstellt, weiß ich nicht. Vielleicht dahingehend, dass nicht Computerspiele und Horror-Filme für einen ‚schlechten Charakter‘ verantwortlich sind, sondern Erziehung und Sozialisation, Schule und Elternhaus. Ob es ein Thriller ist? Keine Ahnung.
    Letzt endlich finde ich die Kategorisierung des Werkes ziemlich nebensächlich: ich finde das Buch wie folgt: Spannend, unterhaltsam und zum Nachdenken anregend.





    [*] Lionel Shriver: Wir müssen über Kevin reden (3.Auflage 2007, List Taschenbuch)

    Hanna Krall als Autorin:


    Hanna Krall, 1937 in Warszawa (Warschau) geboren, studiert Journalistik an der Universität Warschau und beginnt 1955 in der Redaktion des „Zycie Warszawy“. 1966 wechselt sie zur Wochenzeitschrift „Polityka“, für die sie drei Jahre als Korrespondenten in der Sowjetunion tätig ist. Mit der Verhängung des Kriegsrechtes kündigt sie ihre Stelle bei der „Polityka“, publiziert fortan für die Solidarnosc-Zeitung „Gazeta Wyoborcza“ und lebt als freie Schriftstellerin in Warschau.


    Quelle: Homepage über Deutsch-Polnische Geschichte




    "Da ist kein Fluss mehr"


    oder "Schließlich 'überrascht uns die Tragödie nicht, welches Ausmaß sie auch hat', den Leser aber gilt es immer von neuem zu überraschen."[*]


    Hanna Krall ist Sammlerin.


    Sie sammelt keine Münzen, sie sammelt keine Bücher, Auszeichnungen, Blumen oder Schmetterlinge. Sie sammelt Geschichten, Einzelschicksale, Familiengeschichten. Geschichten von Menschen, die den 2.Weltkrieg überlebt haben; von Menschen, die ihn nicht überstanden haben; von Menschen, die umgekommen sind. Von Menschen, die aufgaben, von Menschen, die es nicht taten.


    “Erzählen Sie mir was“, bat ich. Jede Lesung beende ich so: „Erzählen mir eine Geschichte. Eine wahre… wichtige… eine fremde oder was über sich selbst.“[*]


    Und die Menschen erzählen ihr Geschichten. Von der Großmutter, die den Zug ins ‚sichere‘ Russland verlässt, um drei Silberlöffel von zu Hause zu holen, die ihr die Mutter zur Aussteuer gab. Sie kam um.
    Von einer Polin, die von 25 Juden in ihrem Keller versteckte, bis die Deutschen kamen, sie aufspürten und den Offizier, der sie liebte, zwangen sie zu erschießen.
    Von der Großmutter Waleria, die noch dreißig Jahre nach dem Krieg auf ihre kleine Tochter wartet, fortgelaufen zu ihrem Liebsten ins Getto, umgekommen beim Warschauer Gettoaufstand.


    Hanna Krall dokumentiert sachlich und nüchtern menschliches Grauen; sie kommentiert es nicht, sie reflektiert es nicht. Sie stellt ihre Figuren in den Vordergrund, hinterfragt nicht deren Handeln, nicht deren Verhaltensweisen. Sie lässt sie aufleben in kurzen, eher lapidar gehaltenen Sätzen. Ihr Stil ist steril, fernab davon emotionsgeladen oder auch nur gefühlsbetonend zu wirken.
    Eine emotionale Leere findet man vor, eine nüchterne, direkte, unprätentiöse Sprache, die nichts verheimlicht, nichts verklärt, keinem Pathos aufkommen lässt.


    Und doch setzt sie Lücken. Das eigentliche Geschehen, nämlich der Tod zahlreicher unschuldiger Menschen ist bei ihr präsent, findet aber niemals Eingang in die Geschichten. Der Tod wird nicht dargestellt in all seiner Traurigkeit, in all seiner Blutigkeit; er ist zwar immer wieder Leitmotiv, dennoch steht für die Autorin die Geschichte in ihrer Dramaturgie im Vordergrund. Der Tod wird nicht beschrieben, geht es doch vor allem darum, das Lebendige zu beschreiben. Und zwar in Form von Einzelpersonen, wie Dan Diner in einer Laudatio über ihr weiteres Werk „Dem Herrgott zuvorkommen“ positiv hervorhebt: In ihren “ Introspektionen in die Erinnerungen Zeugenschaft über das Vergangene ablegender Personen, weigert sich Hanna Krall, Kollektivepen zu spinnen“[1]
    Ihr geht es nicht um DAS Leid vieler, sondern das Leid einzelner Menschen.


    Und doch bleiben es nur Erfahrungssplitter. Es sind kurze Begebenheiten mit sehr blass anmutenden Figuren. Man verbringt mit den Geschichten nur sehr kurze Zeit; sie hastet geradezu in ihrer Erzählweise, will sie doch viele, und nicht nur eine Geschichte erzählen. In ihrem Denken wirkt, meines Erachtens, dabei ein Fehler mit: Sie möchte nicht über Kollektiverfahrungen sprechen, aber angesichts der Vielzahl an Geschichten, der Vielzahl an Familienverhältnissen, Familiennamen verliert man bald den Überblick und gestaltet in Gedanken genau das, was sie vermeiden wollte: Eine Geschichtensammlung über Menschen, denen es nicht vergönnt war, lange auf Erden zu leben; aifgrund von idelogischen oder 'rassischen' Gründen.




    [*] Da ist kein Fluß mehr, von Hanna Krall, Zweite Auflage 1999, Verlag neue Kritik
    [1] Laudatio von Dan Diner


    ~*~

    Ich denke, HBK spricht nicht von "Legenden" im eigentlichen Sinne, sondern von s.g. "düsteren Legenden", Großstadtmythen, moderne Sagen; vielleicht als englisches Äquivalent eher bekannt: Urban Legends.



    Zitat

    Original von tcneptun.ch
    "...sind Geschichten, deren Herkunft nicht bekannt ist, die auftauchen und sich spontan verbreiten, weil sie sich gut erzählen lassen und weil sie Interesse wecken. Die meisten dieser Geschichten sind nicht wahr. Viele haben eine wahre Grundlage, sie wurde aber im Interesse einer guten Geschichte pointierter gestaltet. Am bekanntesten ist wohl die Geschichte von den Alligatoren in New Yorks Kanalisation oder die Geschichte vom Taucher, der von einem Löschflugzeug beim Wasserladen aufgesogen und über brennendem Wald abgeworfen wurde."



    Hier ein paar Buchempfehlungen:


    Urban Legends von Heike Jüngst (Reclam, Sammlung der bekanntesten Urban Legends)


    Be Afraid, Be Very Afraid: The Book of Scary Urban Legends von Jan Harold Brunvand (WW Norton)


    The Lady of the Barge and Other Stories von William Wymark Jacobs (Indypublish.Com; beinhaltet die vielleicht bekannteste Urban Legend: "Die Affenpfote")


    Auf dem Prinzip der "Affenpfote" basiert auch der Stephen King-Roman Friedhof der Kuscheltiere