Autofiktion, und darum handelt es sich bei Kim de l’Horizons Blutbuch, ist nicht unbedingt mein favorisiertes Genre, was ich aber bei der literarischen Beurteilung von Autofiktion spannend finde ist die Frage der Form: wird die Geschichte eines Lebens geradlinig erzählt (dann könnte ich ja auch ein Memoir lesen) oder wird das Leben gestaltet, in eine literarische Form gegossen. Blutbuch macht letzteres und das bis zum Anschlag. Die Hauptfigur wird komplett dekonstruiert und der Roman versucht sich an den unterschiedlichsten literarischen Formen: Metafiktion, Postmoderne, Postpostmoderne, Polyphonie. Da wird also so sehr aus intellektuellen Rauchkanonen geschossen, dass das Thema, die non-binäre Identitätsfindung, oft nur noch von Nebel umhüllt wird.
Dabei fängt Blutbuch sehr stark an. Handwerklich geschickt und sprachlich originell wird in die Grundkonstellation eingeführt und werden die Hauptfiguren vorgestellt. Die an Demenz erkrankte Großmutter (Großmeer), die Mutter (Meer), das Kind und das erzählende Ich (das Kind in Erwachsen). Wie das Ich in Frauenkleidern die Großmutter mit einer Schachtel Pralinen besucht, über den Schreibtisch gebeugt schreibt und wie es anonymen Sex mit Männern und eine Spur Körperlichkeit spürt. Das ist alles psychologisch stimmig erzählt. In den Passagen über das Kind wird es märchenhafter, ein Ton, der mir gefiel. Wie selbstverständlich wird es als geschlechtslos, binär nicht lesbar geschrieben (bist du en Meitli oder en Bueb?), das sich aber doch so langsam mal für eine Geschlechtsidentität entscheiden soll. Um es herum die binären Narrative der weiblichen und männlichen Ahnenlinien.
Es geht um die Identitätssuche durch Sprachfindung und Körperlichkeit. Sprachlich geht es da keineswegs nur um das Gendern (das sich im Übrigen in vielen Passagen in Grenzen hält), sondern auch um das Bernerdeutsche (woraus sich das Meer/Peer ergibt), Schweizerdeutsche, Französische, Anglizismen, Englische und auch um „Intellektuellensprache“, die Frage wie man als gebildeter Aufsteiger mit den Eltern und Großeltern aus einfacheren Verhältnissen kommuniziert.
So weit so spannend, doch dann verliert sich der Text doch sehr schnell in fragmentarischen Erinnerungsfetzen und Diskursen. Man sieht die Figuren kaum noch im Raum und handelnd, sondern es wird nur noch kommentiert und erklärt, wenig (szenisch) gezeigt. Das klassische Erzählprinzip „Show, don’t tell“ wird umgekehrt. Der Text hat nun ein riesiges Problem. Er kommt mit einem Beipackzettel. Auf jede Kritik und jede Interpretation, die ich als Leser hatte, gibt der Text eine Antwort. Und am Ende macht der Beipackzettel gefühlt zweidrittel des Roman aus. Ein paar Beispiele:
Das angedeutete Mäandernde und Fragmentarische. Dazu heißt es: „Vielleicht ist das mit ein Grund für das Schreiben, für dieses zerstückelte, zebrösmelnde Schreiben. Dafür, dass aus meinen Händen nur Bruchstücke kommen, deren Kanten so zersplittert sind, dass sich daraus keine smoothe, packende, glatt polierte Geschichte bauen lässt..“ Und wenig später wird erklärt: „Es hat etwas Zwanghaftes, wie in der Familie von Peer das Erlebte zu Narrativen geformt wird.“ (Konventionelles Erzählen als ein Privileg des Patriarchats?). Das ist auf den Seiten 58/59 und ungefähr ab da fing der Roman an, das inhaltliche Potential zu verpulvern, und mir ein wenig auf die Nerven zu gehen.
Wenn wir dann später wieder beim erzählenden Ich sind, sprachlich funkelnd, explosiv, komisch: „Ich hüpfte in beballerter easyJet-orangener Aufgejazzheit zwischen Berlin und Zürich hin und her, machte Aderlass und gab mir das Mainstream-Gaydom beider Städte intravenös.“ Und ähnlicher funkelnder Sätze, Satz an Satz und dann heißt es: „… es ist eine zynische, aufgekratzte Erzählstimme, die da ganz plötzlich und angestrengt popliterarisch über diesen Teil schwubuliert, und dafür entschuldige ich mich auch... diese Zeit… ist mir zu nah, zu mäh und wäh… Ich schäme mich für all das.“
Dieses Versteckspiel dieser Identität hinter strukturellen Spielereien wird zunehmend schlimmer. Es hagelt Fußnoten, es wird postpostmodern, und in einer Fußnote wird dann Infinite Jest von David Foster Wallace zitiert (was sonst, wenn es um Fußnoten geht?) Und es wird Derrida ausgepackt und natürlich Annie Ernaux (wer sonst, wenn es um Autofiktion geht?). Das ist etwas platt und prätentiös. Bezeichnend wie die Autorin Ursula K. LeGuin zitiert wird. Einmal wird ihr Roman Left Hand of Darkness erwähnt, in dem es um eine Welt geht, in der Menschen, nach belieben ihr Geschlecht ändern können (den Kim de l’Horizon aber nicht gelesen hat, weil bäh, Science Fiction) und an anderer Stelle ihr Essay „The Carrier Bag Theory of Fiction“, den Kim de l’Horizon tatsächlich gelesen hat und dann nochmal als zusätzliche theoretische Strukturierungshilfe über diesen ohnehin schon übererklärten Text stülpt. Der Essay ist Kim de l‘Horizon also wichtiger als der Roman, oder überspitzt auf diesem Text übertragen: der Diskurs ist wichtiger als der Inhalt, der Kommentar wichtiger als das Kommentierte, die Fußnote wichtiger als der Fließtext.
Das englischsprachige Abschlusskapitel (das auf den letzten Seiten, auf den Kopf stehend, ins Deutsche übersetzt abgedruckt ist) macht für mich inhaltlich überhaupt keinen Sinn. Vermeintlich, damit es Großmutter und Mutter nicht lesen können. Aber wieso wird das alles erzählt, und Großmutter und Mutter könnten dann ja trotzdem die Übersetzung lesen?
Wie gesagt: Versteckspiel. Man kann das psychologisch vielleicht erklären, dass da jemand versucht, an dem eigenen Ich vorbeizuschreiben. Den Leser nicht an sich heranlassen möchte und diese zusätzlichen Schichten und Häute braucht. Es liest sich leider nur so schrecklich verkrampft. Eine Geschichte gibt es kaum. Es gibt ein Familiengeheimnis, das aber nicht weltbewegend ist, und auch die Identitätssuche tritt irgendwann nur noch auf der Stelle. Man kann den Roman eigentlich nicht spoilern. Die einzige Vorwärtsbewegung im Text ist das Aufeinanderstapeln von Metaebenen. Trotzdem spoilere ich mal die finale Metaebene. Man erfährt, wieso dieser Roman überhaupt geschrieben wurde.
"I don't write about you because I can't help it; I write about you because I'm quite certain that it results in the best texts I can write at the moment. It's the most efficient way for me to climb up the ladder. Literature is - apart from being a bourgeois branch of art --- one of the few capitalist games where my hypersensitivity and fear are useful..."
Hat funktioniert. Spätestens hier fühlte ich mich veräppelt. Der Roman ist wie mit einer Clownsmaske im Gesicht geschrieben. Für diese Chuzpe dem Literaturbetrieb gegenüber, und der sprachlichen und inhaltlichen Originalität wegen, vergebe ich immerhin noch drei von fünf Punkten.