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    The Pink Hotel - Liska Jacobs


    Dekadenz und Klassenkampf in einem Luxushotel in Los Angeles, politische Unruhen und Waldbrände im Hintergrund. Vor der HBO Serie The White Lotus geschrieben, aber thematisch und vom Setting ähnlich und ebenso bissig, steuert der Roman mit literarischer Tiefe der unausweichlichen Eskalation entgegen.


    ASIN/ISBN: 0374603154

    Babel von R.F. Kuang ist mit seinen 540 Seiten im Original (in der deutschen Übersetzung werden es 700 Seiten sein) schon optisch und haptisch ein Schwergewicht, genau das Richtige, um sich in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr in ein Buch zu verlieren. Babel spielt um 1830 herum in Oxford. Auf dem Universitätsgelände wurde ein Turm erbaut, in der unter anderem die Fakultät der Übersetzer untergebracht sind. Das magische System in dieser Fantasywelt basiert auf einer Art Kombination von Silberbaren und linguistischen „Zaubersprüchen“. Linguisten und Übersetzter, denn fremde Sprachen sind besonders mächtig, sind also quasi die Magier dieser Zeit und Oxford ist das Zentrum des Britischen Empires. Dieser silberne Wortzauber hält das ganze System am Laufen und sichert den Briten die Weltherrschaft.


    Der Roman folgt, auktorial erzählt, vier dieser Studenten, fokussiert sich aber vor allem auf Robin Swift. Ein Name, den er sich selber gegeben hat. Auf den ersten Seiten wird er in seinem Elternhaus in Canton, China, seine Familie gerade komplett an Cholera verstorben, er selbst auch krank, von einem britischen Professor gerettet und nach England geradezu verschleppt. Das erste Mysterium des Roman ist die seltsame Verbindung zwischen dem Professor und Robin. Robin kann bereits Englisch als sie sich treffen. Irgendjemand hatte ihm ständig Bücher geschickt und dann hatte die Familie, eigentlich ärmlich, eine britische Haushälterin. In England genießt Robin dann unter dem Professor eine weitere, sehr strenge, Ausbildung, die ihn schließlich nach Oxford in den Babel-Turm führen wird, dort, wo auch der Professor lehrt. Dort wird er Freunde mit einem sehr ähnlichen Hintergrund treffen, vor allem Remy aus Indien.


    Von der ersten Seite an hat mich der Roman gefangen genommen, weil er einfach nicht mit den richtigen Zutaten geizt: eine Waise, die die Literatur und die Wissenschaft für sich entdeckt, mit der sich ein klassischer Vielleser also gut identifizieren kann, das atmosphärische Setting, das akademische Umfeld, Freundschaften. Was kann man daran nicht lieben?


    Ich rate aber jedem von diesem Roman ab, der ein Problem mit Politik in Fantasy-Romanen hat. Das ganze magische System in diesem Fantasy-Roman basiert auf Kolonialismus und Rassismus. Das Empire ist von diesem Brain-Drain aus kolonialisierten Ländern für den eigenen Machterhalt abhängig, und die Übersetzer-Studenten, die alle irgendwie einen Immigranten-Hintergrund haben, erfahren in Oxford Rassismus. Das hat mich erst einmal nicht gestört. Im Gegenteil ich fand diese Thematik sehr geschickt in diese Geschichte verwoben. Das Thema ist nicht aufgepfropft, der Roman würde ohne diese Thematik quasi überhaupt nicht existieren.


    Auch der Stil und der Spannungsbogen sind möglicherweise nicht jedermanns Sache. Der Roman ist detailverliebt (manche könnten auch „infodumpy“ sagen), relativ langsam erzählt, ist auch akademisch in seiner Form (er hat Fußnoten) und es geht durchgehend um Sprache. Selbst in dramatischen Situation gibt es linguistische Abschweifungen. All das funktionierte für mich sehr gut, ich mochte diesen Stil, und ungefähr 350 Seiten ging das auch alles gut.


    Tatsächlich genau dann als sich die Situation zuspitzt, etwa zu Beginn des letzten Drittels, die Handlung action-reicher wird, verliert der Roman zwischenzeitlich jede Finesse und auch die Detailverliebtheit, fast so als wären diese Seiten zu schnell geschrieben (und tatsächlich ist der Roman nur in einem Jahr geschrieben worden). Sprachliche Wiederholungen, hölzernere Dialoge. Das mag an der auktorialen Erzählweise liegen, Babel ist kein psychologischer Roman, aber es hat sich vor allem in diesen Passagen gezeigt, dass den Figurenzeichnungen doch ein wenig die psychologische Tiefe fehlt. Vor allem die Hauptfigur Robin verlor dort an Substanz, wirkt eher zweidimensional als dreidimensional in seinen Handlungen, Gedanken und Motivationen, aber auch die Nebenfiguren sind nur oberflächlich interessant und spannend.


    Was ich interessant, aber fast erfrischend bei so einem Setup fand (vier Studenten und Studentinnen auf engsten Raum), ist die komplette Abwesenheit eines romantischen Subplots. Das stärkte aber auch irgendwie (ich vermute von der Autorin unbeabsichtigt), dass der Roman ein wenig einen Young Adult Touch hatte.


    Die letzten hundert Seiten waren wieder stärker, das Setting und das World-Building dominieren wieder, und die Autorin treibt die Geschichte unglaublich spannend und schlüssig auf das ultimative Finale hin. Die politische Message inzwischen nicht mehr subtil im Hintergrund, sondern knallhart mit der Faust ins Gesicht.


    Babel ist trotzdem aber sein sehr starker Roman, sehr originell und kreativ konzipiert, mit einer atmosphärischen Dichte, und über weite Strecken sehr, sehr gut lesbar. Es wird wohl tagesabhängig sein, wie viele Punkte ich für die Schwachen abziehen würde.


    ASIN/ISBN: 0008501815

    ASIN/ISBN: 3847901435

    Ein Weihnachtsgeschenk, das mich mit seinen 560 Seiten wohl den Rest des Jahres beschäftigen wird. Beginnt schonmal sehr atmosphärisch und spannend.


    Traduttore, traditore: An act of translation is always an act of betrayal. Oxford, 1836. The city of dreaming spires. It is the centre of all knowledge and progress in the world. And at its centre is Babel, the Royal Institute of Translation. The tower from which all the power of the Empire flows. Orphaned in Canton and brought to England by a mysterious guardian, Babel seemed like paradise to Robin Swift. Until it became a prison… But can a student stand against an empire?


    ASIN/ISBN: 0008501815

    Wird ein abgebrochenes Spiel nicht mit 0:2 gewertet?


    Ja, hoffentlich war das eine kümmerliche Tor im Vergleich zum Worst Case bei einer tatsächlichen Aktion mit Haltung es wert nicht mehr Haltung zu zeigen. Das war wirkungsloser Gratismut für die privaten Insta-Spieler-Profile.

    Ich sehe es schon kommen.

    Katar steht im Finale und die Zuschauer verlassen gelangweilt das Stadion!

    Was sollen die Zuschauer auch sonst machen?


    Bei dem Endspiel Katar - Costa Rica werden dann insgesamt 25 Tore von Costa Rica vom VAR zurückgenommen bis dann in der 2456. Minute der Nachspielzeit Katar endlich das 1:0 Tor zur Weltmeisterschaft schießt.

    Ich weiß nicht, ob man mein Nichtgucken überhaupt noch als Boykott bezeichnen kann. Zu viele Dinge wie Nations League und FIFA-Gigantismus (WM 2026 dann also mit 48 Mannschaften!) haben einfach jede Lust geraubt, und eine Mannschaft gefühlt ohne Charaktere (die Spieler wirken doch oftmals fast schon geklont und durch Nachwuchsleistungszentren gesteuert - politische Statements kann man von denen ja kaum erwarten). Ich schaue auch außerhalb der WM inzwischen so selten Länderspiele, dass wenn ich es doch tue, bei der Hymne vielleicht maximal die Hälfte der Spieler identifizieren kann. Als Werder-Fan hätte ich gerne Füllkrug gesehen, aber ok, was soll's.


    Diese WM treibt es aber dann so auf die Spitze, dass man ja fast schon doch hinsehen will (als würde man einen entgleisenden ICE betrachten), vielleicht sollte man sogar hinschauen. Und das was man durch Twitter etc. an Splittern so mitbekommt, wie die BBC Reporterin mit One Love Armbinde oder die iranische Mannschaft und das Publikum bei der Hymne, da merkt man eben, dass eine Fußball-WM halt so groß ist, dass sie Weltpolitik widerspiegelt.


    Die Aktion jetzt mit der Armbinde ist einfach nur absurd. Die One Love Binde als Kompromiss, um nicht einfach mit der Regenbogenfarben-Binde aufzulaufen, die jetzt dann am Spieltag quasi verboten wurde, sollte eigentlich Beweis sein, dass man in manchen Fragen einfach keine Kompromisse machen sollte. Ganz oder gar nicht.


    Was ich nicht ganz verstehe, aber vielleicht kommt das ja noch, ist sich kein Spieler, Schiedsrichter oder Funktionär eigentlich bewusst, dass aktiver Widerstand vielleicht kurzfristig Nachteil sein könnte, aber so mittel- und langfristig... Man stelle sich nur einen Neuer vor, der sagt, OK dann eben nicht One Love, ich gehe aufs Ganze und laufe mit Regenfarbenbinde auf. Gelbe Karte? Der Mann würde unsterblich. Die komplette Manschaft würde disqualifiziert oder es gäbe Punkteabzug? Sollten sie versuchen und selbst wenn, schadet es wirklich? Sportlich setzte ich auf diese Mannschaft kaum, mit den richtigen Zeichen könnte die Mannschaft aber überraschen. Wird sie natürlich nicht tun, da habe ich keinerlei Illusionen.

    ASIN/ISBN: 1951213602


    Eine Empfehlung aus einem Schreibkurs.


    Despite an embarrassing, alcoholic mother, Noomi Wadia is loathe to change her own hard-partying ways simply because it's what's expected in Kamalpur high society. As her peers begin to marry and her social obligations become more fraught, she finds herself under constant scrutiny at summer parties of the city’s upper crust.


    Das erste Kapitel verspricht schonmal einen ungewöhnlichen Blick auf das zeitgenössische Indien.

    Autofiktion, und darum handelt es sich bei Kim de l’Horizons Blutbuch, ist nicht unbedingt mein favorisiertes Genre, was ich aber bei der literarischen Beurteilung von Autofiktion spannend finde ist die Frage der Form: wird die Geschichte eines Lebens geradlinig erzählt (dann könnte ich ja auch ein Memoir lesen) oder wird das Leben gestaltet, in eine literarische Form gegossen. Blutbuch macht letzteres und das bis zum Anschlag. Die Hauptfigur wird komplett dekonstruiert und der Roman versucht sich an den unterschiedlichsten literarischen Formen: Metafiktion, Postmoderne, Postpostmoderne, Polyphonie. Da wird also so sehr aus intellektuellen Rauchkanonen geschossen, dass das Thema, die non-binäre Identitätsfindung, oft nur noch von Nebel umhüllt wird.


    Dabei fängt Blutbuch sehr stark an. Handwerklich geschickt und sprachlich originell wird in die Grundkonstellation eingeführt und werden die Hauptfiguren vorgestellt. Die an Demenz erkrankte Großmutter (Großmeer), die Mutter (Meer), das Kind und das erzählende Ich (das Kind in Erwachsen). Wie das Ich in Frauenkleidern die Großmutter mit einer Schachtel Pralinen besucht, über den Schreibtisch gebeugt schreibt und wie es anonymen Sex mit Männern und eine Spur Körperlichkeit spürt. Das ist alles psychologisch stimmig erzählt. In den Passagen über das Kind wird es märchenhafter, ein Ton, der mir gefiel. Wie selbstverständlich wird es als geschlechtslos, binär nicht lesbar geschrieben (bist du en Meitli oder en Bueb?), das sich aber doch so langsam mal für eine Geschlechtsidentität entscheiden soll. Um es herum die binären Narrative der weiblichen und männlichen Ahnenlinien.


    Es geht um die Identitätssuche durch Sprachfindung und Körperlichkeit. Sprachlich geht es da keineswegs nur um das Gendern (das sich im Übrigen in vielen Passagen in Grenzen hält), sondern auch um das Bernerdeutsche (woraus sich das Meer/Peer ergibt), Schweizerdeutsche, Französische, Anglizismen, Englische und auch um „Intellektuellensprache“, die Frage wie man als gebildeter Aufsteiger mit den Eltern und Großeltern aus einfacheren Verhältnissen kommuniziert.


    So weit so spannend, doch dann verliert sich der Text doch sehr schnell in fragmentarischen Erinnerungsfetzen und Diskursen. Man sieht die Figuren kaum noch im Raum und handelnd, sondern es wird nur noch kommentiert und erklärt, wenig (szenisch) gezeigt. Das klassische Erzählprinzip „Show, don’t tell“ wird umgekehrt. Der Text hat nun ein riesiges Problem. Er kommt mit einem Beipackzettel. Auf jede Kritik und jede Interpretation, die ich als Leser hatte, gibt der Text eine Antwort. Und am Ende macht der Beipackzettel gefühlt zweidrittel des Roman aus. Ein paar Beispiele:


    Das angedeutete Mäandernde und Fragmentarische. Dazu heißt es: „Vielleicht ist das mit ein Grund für das Schreiben, für dieses zerstückelte, zebrösmelnde Schreiben. Dafür, dass aus meinen Händen nur Bruchstücke kommen, deren Kanten so zersplittert sind, dass sich daraus keine smoothe, packende, glatt polierte Geschichte bauen lässt..“ Und wenig später wird erklärt: „Es hat etwas Zwanghaftes, wie in der Familie von Peer das Erlebte zu Narrativen geformt wird.“ (Konventionelles Erzählen als ein Privileg des Patriarchats?). Das ist auf den Seiten 58/59 und ungefähr ab da fing der Roman an, das inhaltliche Potential zu verpulvern, und mir ein wenig auf die Nerven zu gehen.


    Wenn wir dann später wieder beim erzählenden Ich sind, sprachlich funkelnd, explosiv, komisch: „Ich hüpfte in beballerter easyJet-orangener Aufgejazzheit zwischen Berlin und Zürich hin und her, machte Aderlass und gab mir das Mainstream-Gaydom beider Städte intravenös.“ Und ähnlicher funkelnder Sätze, Satz an Satz und dann heißt es: „… es ist eine zynische, aufgekratzte Erzählstimme, die da ganz plötzlich und angestrengt popliterarisch über diesen Teil schwubuliert, und dafür entschuldige ich mich auch... diese Zeit… ist mir zu nah, zu mäh und wäh… Ich schäme mich für all das.“


    Dieses Versteckspiel dieser Identität hinter strukturellen Spielereien wird zunehmend schlimmer. Es hagelt Fußnoten, es wird postpostmodern, und in einer Fußnote wird dann Infinite Jest von David Foster Wallace zitiert (was sonst, wenn es um Fußnoten geht?) Und es wird Derrida ausgepackt und natürlich Annie Ernaux (wer sonst, wenn es um Autofiktion geht?). Das ist etwas platt und prätentiös. Bezeichnend wie die Autorin Ursula K. LeGuin zitiert wird. Einmal wird ihr Roman Left Hand of Darkness erwähnt, in dem es um eine Welt geht, in der Menschen, nach belieben ihr Geschlecht ändern können (den Kim de l’Horizon aber nicht gelesen hat, weil bäh, Science Fiction) und an anderer Stelle ihr Essay „The Carrier Bag Theory of Fiction“, den Kim de l’Horizon tatsächlich gelesen hat und dann nochmal als zusätzliche theoretische Strukturierungshilfe über diesen ohnehin schon übererklärten Text stülpt. Der Essay ist Kim de l‘Horizon also wichtiger als der Roman, oder überspitzt auf diesem Text übertragen: der Diskurs ist wichtiger als der Inhalt, der Kommentar wichtiger als das Kommentierte, die Fußnote wichtiger als der Fließtext.


    Das englischsprachige Abschlusskapitel (das auf den letzten Seiten, auf den Kopf stehend, ins Deutsche übersetzt abgedruckt ist) macht für mich inhaltlich überhaupt keinen Sinn. Vermeintlich, damit es Großmutter und Mutter nicht lesen können. Aber wieso wird das alles erzählt, und Großmutter und Mutter könnten dann ja trotzdem die Übersetzung lesen?


    Wie gesagt: Versteckspiel. Man kann das psychologisch vielleicht erklären, dass da jemand versucht, an dem eigenen Ich vorbeizuschreiben. Den Leser nicht an sich heranlassen möchte und diese zusätzlichen Schichten und Häute braucht. Es liest sich leider nur so schrecklich verkrampft. Eine Geschichte gibt es kaum. Es gibt ein Familiengeheimnis, das aber nicht weltbewegend ist, und auch die Identitätssuche tritt irgendwann nur noch auf der Stelle. Man kann den Roman eigentlich nicht spoilern. Die einzige Vorwärtsbewegung im Text ist das Aufeinanderstapeln von Metaebenen. Trotzdem spoilere ich mal die finale Metaebene. Man erfährt, wieso dieser Roman überhaupt geschrieben wurde.


    Hat funktioniert. Spätestens hier fühlte ich mich veräppelt. Der Roman ist wie mit einer Clownsmaske im Gesicht geschrieben. Für diese Chuzpe dem Literaturbetrieb gegenüber, und der sprachlichen und inhaltlichen Originalität wegen, vergebe ich immerhin noch drei von fünf Punkten.

    Weil es als zeitgeistig-chic gilt, sich vor derlei nicht mehr zu ekeln?

    Du verwechselst in diesem Fall Zeitgeist mit gesellschaftlichen Fortschritt. Man muss den Fortschritt nicht mitgehen, aber Fortschritt heißt auch immer mehr "leben und leben lassen" (wie ja auch von Batcat zitiert). Egal wie groß oder klein die Bezugsgruppe ist. D.h. du magst dich ekeln, und das darfst du ja auch, aber dein Ekel ist eines ganz bestimmt nicht: Relevant für die literarische Bewertung eines Buches. Du stellst deine ganz persönlichen und subjektiven Neigungen oder Abneigungen über alles andere. In diesem Thread geht's eigentlich nur noch um deine persönlichen Befindlichkeiten. Darauf hinzuweisen hat nichts mit politischen Gesinnungsterror zu tun (echt, geht's noch?).


    Eine literarische Anmerkung noch im übrigen. Du sprichst wie selbstverständlich von Trennung von Autor und Werk. Wir haben es hier mit Autofiktion zu tun. Aus der Buchpreis-Shortlist: Mit Daniela Dröscher redet man also über die fettleibige Mutter und ihre Kindheit, mit Jan Faktor über den Selbstmord des Sohnes, und mit Kim l'Horizon über Geschlechtsidentitäten (woraus sich dann fast wie von alleine auch sexuelle Szenen ergeben). Annie Ernaux Nobelpreis dieses Jahr, Grande Dame der Autofiktion. Wenn man den Preis als zeitgeistig einstuft, sollte man das literarische Genre nicht vergessen. Man mag das Genre nicht gut finden oder als Mode empfinden, aber dass da jemand über das eigene Leben schreibt und es schonungslos ausbreitet ist Genre-bedingtes literarisches Programm.

    Dieter, dies ist ein Bücher-Rezensionsthread. Nicht ein beliebige-Einzelszene-aus-einem-Buch-das-ich-nicht-gelesen-habe-Rezensions-Thread. Ist das so schwer zu begreifen?


    Wir (oder zumindest ich) haben deinen Punkt, glaube ich, begriffen, und Dir hat niemand verboten, ihn mit uns mehrfach und wiederholt zu teilen.

    Bist du tatsächlich empört? Ich nicht.

    Abgesehen davon, ist dies keine Szene. Das Merkmal einer Szene ist Handlung. Eine solche gibt es hier nicht. Hier enthüllt jemand schonungslos sein Sexualleben - für mich kein Grund zur Empörung. Es interessiert mich bloß nicht. Das könnte es allenfalls, wäre es sprachlich gekonnt gemacht.

    Ist es aber nicht.

    Vielleicht nicht empört, aber irgendwie fixiert? Sehr viele Kommentare zu einem Buch, das dich nicht interessiert (mich interessieren zig tausende Bücher nicht, viele vermutlich mit ebenso schonungslosen Sexszenen, was wäre das für ein Aufwand mich zu all denen zu äußern). Ein einzig kraftvolles ICH WERDE DIESES BUCH NIEMALS NIE LESEN hätte auch gereicht.

    Kim l'Horizon tut Dir doch nichts. Das Buch auch nicht. Lass es doch irgendwann mal gut sein. Wir sollten uns jetzt mehr darauf konzentrieren, das Buch sachlich zu besprechen und auf die nächsten Rezis warten, und nicht uns an nur einer Szene festzubeissen.

    Ich fühle mich jetzt inspiriert, dieses (verlängerte) Wochenende auf meine Flasche Rotwein zu verzichten und statt dessen diesen Roman zu lesen. Außer (gerüchteweise) Voltaire beziehen sich in diesem Thread alle auf die Leseprobe oder einen Ausschnitt. Gott, da gibt es eine Analsex-Szene, wirklich schlimm. Wie sehr sind wir alle empört. Der typische, um das moralische und qualitative Heil der deutschen Literatur besorgte Leser, wird fast in jedem Jahr lieber zur Flasche als zum preisgekrönten Buch greifen. Antje Ravik Strubel? Anne Weber? Kann ich mir bei den Kritikern in diesem Thread schwer auf dem Nachttisch liegend vorstellen. Der Deutsche Buchpreis ist kein Publikumspreis, genauso können wir uns jedes Jahr über die Qualität beim Bachmannpreis echauffieren. Das ist langweilig.


    Ich fand die Leseprobe tendenziell positiv, zumindest relativ zu den anderen nominierten Büchern. Welcher Roman hätte es denn literarisch/dramaturgisch qualitativ eher verdient? Ich bin nicht der größte Fan des Genderns, ist hier thematisch aber ja Programm. Sprachfindung eines nicht-binären Individuum. Ich fand das Gendern vielleicht übertrieben (mensch/man, jemensch/mensch), und ich bin auch skeptisch, aber ich werde es dann halt sehen, was L'Horizon aus dem Stoff macht.

    Selbst wenn das stimmte, wäre es kein Kriterium für buchpreiswürdige Literatur.

    Das stimmt. Ich bezog mich auf Toms Kommentar.

    Es wird, wie ich mir zu prognostizieren erlaube, den kürzesten Aufenthalt eines Buchpreisgewinners in den Bestsellerlisten seit 2005 nach sich ziehen, weil der Text dann doch sehr eigenwillig zu sein scheint und sicher kein Roman ist, wie auf dem Cover steht, und weniger Menschen interessiert,

    Die Jury hätte das auch ruhig so sagen können, statt sich auf stilistische und dramaturgische Aspekte zu kaprizieren, die bei den Konkurrenztiteln vermutlich stärker ausgeprägt sind.

    Ich bin mir da nicht so sicher. Ich habe Blutbuch noch nicht gelesen, war bei der Nominierung auch des Zeitgeistes wegen skeptisch und der Autor als Kunstfigur interessiert mich auch nicht (Witze über der/die/das Anreden wie hier im Thread finde ich allerdings albern und gestrig), aber wenn ich mir die Shortlist so anschaue, frage mich dann doch, ob Blutbuch nicht am Ende doch das literarisch spannendste Buch war. Ich weiß nicht, ob es literarisch Sinn macht, aber eben mal ein komplettes Kapitel auf englisch? Gab es das schon einmal? L'horizon scheint zumindest mit der Form zu experimentieren.


    Bin ich skeptisch was den allgemeinen Hang zur ich-ich-ich Befindlichkeitsliteratur angeht, und wünschte mir mehr Geschichten erzählen/erfinden? Ja, ganz sicher.


    Daniela Dröschers Roman mag thematisch klug sein, sprachlich aber fast schon primitiv. Eckhart Nickel mit seiner Pennäler Geschichte, die man fast wortgleich so auch schon vor siebzig Jahren hätte schreiben können. Dschinns war auch nur Thema, in der Form eher ein klassischer Familienschinken. Ich bitte euch. Und bis auf Dschinns hat auch nicht ein einziger Titel das Zeug zum Beststeller über die kurze Preisverleihungseuphorie hinaus.