"Take What You Need" ist der dritte Roman von Idra Novey. Ihr Erstlingswerk, "Ways of Disappear", war noch ein surrealistischer Roman in einem experimentell fabulierenden Stil, ähnlich dem von Italo Calvino (wie ich gerade festgestellt habe hier auf der Eule mein Jahreshighlight 2016). Dann wurde es in "Those Who Knew" sozialkritischer, aber sie hatte ihre Parabel über Machtmissbrauch und sexuelle Belästigung in einem fiktiven Inselstaat angesiedelt. In ihrem neuesten Roman wendet sie sich nun fast vollständig dem Realismus zu. Kann ich das überhaupt gutheißen, bin ich doch besonders ein Fan der literarischen Phantastik? Kurze Antwort: ja.
Noch ein wenig zur Autorin: 1978 geboren, schreibt sie nicht nur Romane, sondern auch Lyrik, die ich allerdings noch nicht kenne. Sie ist zudem literarische Übersetzerin aus dem Portugiesischen und hat unter anderem Werke von Clarice Lispector übersetzt, die offensichtlich auch für ihr eigenes Schaffen sehr wichtig ist. Die Autorin lebt in New York, hat in Princeton studiert und lehrt dort. Sie hat auch in Chile gelebt und unterrichtet, wo sie auch ihren Ehemann kennengelernt hat. Ihr Leben ist mehrsprachig, und auch das ist für ihr Werk und insbesondere für diesen Roman nicht unwichtig. Eine der beiden Hauptfiguren, Leah, hat einen ähnlichen Hintergrund: Sie arbeitet mit Texten (als Übersetzerin oder Lektorin) und ist mit einem Mann aus Peru verheiratet, mit dem sie einen gemeinsamen Sohn hat.
Um was geht es nun in dem Roman? Direkt im ersten Absatz erfahren wir, dass Leahs Stiefmutter Jean verstorben ist, und nun macht sich Leah mit ihrem Mann und ihrem Kind auf den Weg zu ihrer Kindheit in die Appalachen in West Pennsylvania – einer besonders strukturschwachen Gegend, in der die Häuser heruntergekommen sind und vor jedem zweiten Haus eine US-Flagge hängt. Die Handlung spielt während der Trump-Ära.
Typisch für Novey ist, dass Jean nicht einfach so verstorben ist, sondern – und das erfahren wir direkt im ersten Absatz – von einer Leiter gestürzt ist, während sie an einer riesigen Metallskulptur gearbeitet hat, die sie in ihrem Wohnzimmer errichtet hatte. Überhaupt erzählt der Roman sehr schön von Kunst am Rand der Wahrnehmung. Leah kommt mit ihrer Pension als Krankenschwester einigermaßen zurecht und steckt ihre ganze Energie in die Kunst, die sie durch YouTube-Videos erlernt hat und eigentlich nur für sich selbst macht.
Und nun erfahren wir als Leser, abwechselnd aus den Ich-Perspektiven von Leah und Jean (handwerklich gut in zwei sehr unterschiedlichen Tonlagen), zeitversetzt erzählt, über ihre besondere Beziehung. Leahs Mutter verstarb früh, und eigentlich lebte Jean nur zwei Jahre mit ihnen zusammen, aber Jean war Leahs einzige Mutterfigur in ihrem Leben. Wir erfahren über Jeans letzte Jahre als Künstlerin und ihre ungewöhnliche Beziehung zu einem Teenager aus dem Nachbarhaus. Sie lernt ihn zunächst kennen, weil dessen Mutter bei Jean klingelt und um ein paar Kanister Wasser bittet, da der Familie das Wasser abgestellt wurde. Der Teenager, Elliot, interessiert sich für Jeans Kunst und fährt sie eines Tages ins Krankenhaus, nach einem blutigen Unfall mit einer Schleifmaschine bei der Ausübung ihrer Kunst. Im Folgenden entwickelt sich eine Figurenkonstellation, die ich so noch nie gelesen habe: subtil und emphatisch wird Elliot gezeichnet. Er arbeitet für sie, darf bei ihr duschen, und es entsteht ein enges Verhältnis, das jedoch auch durch ein Machtgefälle geprägt ist.
Was die Figurenzeichnung angeht, habe ich dieses Jahr nichts Besseres gelesen. Wenn es überhaupt Leerstellen gibt, dann in der Zeichnung von Leah, denn ihre Passagen sind kürzer als die von Jean. Ich meine darin eine gewisse Zurückhaltung der Autorin zu erkennen, denn sie bewegt sich hier in ihre eigene Vergangenheit zurück, und anstatt hauptsächlich über sich selbst zuzureden, hört die Autorin zu. Noch nie habe ich eine so subtile und empathische Begegnung aus der intellektuell gebildeten Perspektive mit Trump-Amerika gelesen, ohne sich damit gemein zu machen. Es gibt eine Distanz, die vor allem durch Leah symbolisiert wird – die Missverständnisse und die Abwehrhaltung. Auch Jean kann mit Trump nichts anfangen, aber es entstehen Räume für Begegnungen.
Novey schreibt also aus eigener Erfahrung, und selbst das Schweißen hat sie für diesen Roman gelernt. Aber statt Autofiktion zu schreiben, hat sie mit „Take What You Need“ einen handwerklich exzellent gemachten und kunstfertigen Roman verfasst, der dann bei allem Realismus und Sozialkritik doch eine Fabel und ein Märchen ist. Ein grimmsches Stiefmutter-Märchen irgendwo im Unterbau der Konstruktion des Romans.