Beiträge von Googol

    Was ist daran gelungen?


    Wie angedeutet, mag ich das Spiel zwischen Autofiktion, also der Geschichte des tatsächlichen Ehepaars, und der literarischen Verfremdung des Stoffes. Es könnte alles so gewesen sein oder eben nicht. Dass sie dafür neue Figuren mit neuen Namen schafft, ist für mich ein cleveres Mittel, den Text in dieser Schwebe zu halten.

    Ich bin auch Team „Hey, guten Morgen“ und finde die Wahl dieses Buches für den Deutschen Buchpreis nachvollziehbar und gut. Ich finde das Konzept des Romans originell und konsequent umgesetzt. Es gibt einerseits den Strang zwischen der Hauptfigur und dem Love Scammer und andererseits den zwischen der Hauptfigur und ihrem Mann, beides bietet viel Spielraum für Reflexion über Privates und Gesellschaftskritisches. Das Spiel mit der Autofiktion, also die Fiktionalisierung, z. B. durch die Verwendung der Namen Juno und Jupiter statt Martina und Jan, ist gelungen. Selbst eine Buchpreisvergabe kommt im Roman vor. Diese ganzen spielerischen Komponenten haben mich sehr überzeugt.

    Ich habe dieses Jahr sehr viel von der Booker-Prize-Nominierungsliste gelesen: 8 von 13 Büchern der Longlist, bevor die Shortlist bekanntgegeben wurde. Zwei der ungelesenen Bücher schafften es auf die Shortlist, und die habe ich dann auch gelesen. Ich hätte mich aber auf mein Bauchgefühl verlassen sollen. Hatte wohl ein Grund wieso ich in der ersten Runde dieses Buch gemieden habe.


    Creation Lake - Rachel Kushner


    Im April erscheint es in deutscher Übersetzung. Ich habe sonst kein Problem mit unsympathischen Hauptfiguren, aber typischerweise wird das erzählerisch gerechtfertigt. Hier war es einfach nur nervig. Ein Spionageroman, der in Südfrankreich angesiedelt ist und Themen und Settings zusammenwürfelt, die für mich einfach nicht passen (eine komplett eskalierte Potluck-Party von einem Buch): ein bisschen Klima, durch den Roman durchziehende Betrachtungen über Neandertaler, nerviger Humor, zweidimensionale Figuren, wilder Plot.Thematisch soll das vermutlich ineinandergreifen, die Neandertaler, die Schöpfung, aber das Buch hat mich zu sehr genervt, als dass ich die Geduld gehabt hätte, das zu entschlüsseln.


    Das war das erste Buch von Kushner für mich, und ich glaube nicht, dass die Autorin etwas für mich ist. Wahrscheinlich reine Geschmacksache.


    ASIN/ISBN: 3498002414

    Misrecognition - Madison Newbound


    Begründung:

    Ich mag, wie ein anscheinend typisches Bild von Gérard Schlosser, das sehr ansprechend ist, durch eine ungewöhnliche Perspektive auffällt und zur Stimmung des Buches passt, in das Cover-Design integriert ist, und wie die Farben des Bildes für Titel und Autorenname verwendet werden.


    ASIN/ISBN: B0D589DQVR

    Brother & Sister Enter the Forest - Richard Mirabella


    Begründung:

    Ich mag, wie dieser Titel die Geschwisterdynamik in diesen märchenhaften Kontext setzt (der Wald als Motiv aus den Märchen, Hänsel und Gretel), obwohl es sich eigentlich um einen zeitgenössischen Roman ohne fantastische Elemente handelt. Der Titel erzeugt jedoch diesen Subtext und ist insofern ein wesentlicher Bestandteil des Romans, weshalb ich ihn sehr schätze.


    ASIN/ISBN: B0B4V4Q2T8

    Station Eleven - Emily St. John Mandel


    Begründung:

    Ich war spät dran mit der Lektüre dieses modernen SF-Klassikers von 2015, Arthur-C.-Clarke-Award-Gewinner, aber auch auf der Shortlist für den National Book Award, und diese ungewöhnliche Kombination sagt schon etwas aus: gleichzeitig Unterhaltungsliteratur und anspruchsvolle Erzähltechniken.


    ASIN/ISBN: 9781447268970

    The Heart in Winter - Kevin Barry


    Begründung:

    In Butte, 1891, in Montana angesiedelt, irgendwas zwischen Historienroman, irischem Western (sind das alles irische Einwanderer) und dem literarischen Niveau eher zeitgenössischer Literatur. Zwei Liebende fliehen aus einer Stadt, und es beginnt eine Verfolgungsjagd, mit sehr lyrischem und whiskeygetränktem irischem Sound.


    ASIN/ISBN: 1805302116

    Weltflucht - César Aira


    Begründung:

    Kurze Essays über Literatur, Kunst und das Schreiben, im typischen César-Aira-Erzählsound, die auf kleinstem Raum faszinierend komplexe Erkenntnisse beschreiben, mit denen ich mich sehr identifizieren kann (ein Plädoyer für klassisch erzählende Fiktion und die Weltfluchten vs. der Vorherrschaft der reinen Abbildung von Realität in der modernen Literatur).


    ASIN/ISBN: 375180949X

    Ghostroots - Pemi Aguda


    Begründung:

    Für eine Kurzgeschichtensammlung ein ungewöhnlich konstant hohes Niveau. Sehr klug komponierte Geschichten vor der Kulisse von Lagos in Nigeria, die auf für mich sehr ungewöhnliche Weise den typischen spirituellen magischen Realismus afrikanischer Erzählungen mit der harten Realität des Schauplatzes und den sozialen Dynamiken verbinden.


    ASIN/ISBN: 0349018227

    Noreen Masud - A Flat Place


    Begründung:

    Ein eindringliches Memoir einer britisch-pakistanischen Autorin, die die weiten, flachen Landschaften Großbritanniens erkundet. Ihre Beschreibungen werden zur Reflexion über ihr Leben und ihre Traumata. Geschrieben in einer bemerkenswert literarischen Sprache, die für ein Sachbuch außergewöhnlich ist.


    ASIN/ISBN: 024154405X

    Science Fiction Re-Reads: Die letzten Tage habe ich nochmal Amnesia Moon von Jonathan Lethem gelesen, und ich wollte andere Romane wiederlesen, die mir in den 90ern oder 00ern gefallen haben. Mit 20–25 Jahren Abstand lohnt sich das wieder. Speziell auf der Liste: Richard Kadreys Metrophage und Jeff Noons Vurt.


    Thomas Mann: mindestens drei Bücher von oder über ihn, nachdem letztes Jahr das Kafka-Jubiläumsjahr schon gut für mich gelaufen ist (vielleicht mit dem Buch von Breloer über seine jungen Jahre und etwas aus seinem Frühwerk zum Start).


    Deutschsprachige Literatur: Versuchen, dass ich mindestens 50 % der Bücher auf Deutsch lese (Original oder Übersetzung).


    Kurzgeschichten: mindestens 50 Kurzgeschichten in diesem Jahr (grob mindestens eine Story die Woche, besser zwei). Aus Online-Magazinen, dem New Yorker oder Kurzgeschichtensammlungen (mindestens 2–3 davon dieses Jahr).

    Herzlichen Glückwunsch an die Gewinner, besonders Percival Everett, der wenn alles nach Plan läuft für diesen Roman dann auch noch den Pulitzer einsacken wird, und der sehr eine schöne Dankesrede abgeliefert hat. Überhaupt eine lohnenswerte Veranstaltung (https://www.youtube.com/watch?v=h_xLHve4KZA). Wenn eine Award-Zeremonie sich ansatzweise eine Oscar-Verleihung anfühlt, dann der National Book Award. Witzige Moderation von Kate McKinnon. Schade, dass Salman Rushdie nicht gewonnen hat, aber niemand hat seine Dankesrede gerockt wie Jason De Leon. Köstlich.

    Heute Nacht ist es so weit (2 Uhr nachts bei YouTube). Ich habe noch nie eine Shortlist für einen Award komplett gelesen, dieses Jahr direkt zwei: Booker und National Book Award (for Fiction).

    Eher zufällig in diesem Fall, denn als diese Shortlist verkündet wurde, hatte ich von den 5 Büchern schon dreieinhalb gelesen. Da dachte ich, ich lese den Rest dann auch noch (Miranda July zu Ende und Pemi Aguda). Und was soll ich sagen: Das sind ausschließlich exzellente 5-von-5-Sterne-Bücher. Zum Vergleich beim Booker: 2 Bücher der Shortlist sehr gut, vier eher nicht so. Also ist der National Book Award dieses Jahr der bessere Booker Award für mich.


    Meine Favoriten:

    1. Kaveh Akbar - Martyr!
      Mein Lieblingsbuch bisher dieses Jahr, allerdings auch ungestüm und experimentell, wie man es bei einem Debüt erwartet.
    2. Hisham Matar - My Friends
      Dagegen dann Hisham Matar, der extrem gekonnt seine Geschichte über Immigration und Einsamkeit in der Immigration und über London erzählt. Ich bin unentschieden und wechsele ständig meine Meinung, ob ich Matars routiniertes Können oder Akbars frisches Experimentieren höher bewerte.

    Und dann meine Runners-up (ich möchte da kein weiteres Ranking vornehmen):

    • Pemi Aguda - Ghost Roots
      Kurzgeschichten, und wie die meisten Kurzgeschichtenbände sind manche Stories besser als andere, aber die Trefferquote ist in diesem Band schon verdammt hoch. Eine gelungene Mischung aus afrikanischem magischen Realismus und hartem Realismus von Lebensentwürfen in Lagos, Nigeria. Drei oder vier Stories aus diesem Band sind höchste Short-Story-Kunst.
    • Miranda July - All Fours
      Ich bin ein Fan von Miranda Julys Kunst, vor allem ihren Filmen. Dieses Buch ist einerseits genau das, was man von ihr erwartet, aber auch eine gewisse Zumutung: Wer will wirklich etwas über die Prämenopause und die weibliche Midlife-Crisis lesen? Aber wieso auch nicht. Dieses Buch ist mutig und radikal. Die erste Hälfte exzellent, was den Plot betrifft, die zweite dann etwas weniger strukturiert. Das Übersexualisierte kann etwas stören, ändert aber nichts an der Qualität dieses Buches.
    • Percival Everett - James
      Darüber wurde schon viel geschrieben. So gut, wie es alle sagen.

    So, morgen ist es soweit: Der Booker Prize wird vergeben (12.11. um 22:45 auf YouTube). Ich habe zum ersten Mal alle Bücher der Shortlist gelesen – vier davon bereits vor der Verkündung, zwei danach. Mein Bauchgefühl bei der Auswahl der Bücher scheint gut zu sein, denn die beiden Bücher, die ich speziell wegen der Nominierung gelesen habe, waren genau die, die mir am wenigsten gefallen haben.


    Mein Ranking ist wie folgt:


    1. Charlotte Wood - Stone Yard Devotional

    2. Percival Everett - James

    3. Yael van der Wouten - The Safekeep

    4. Samantha Harvey - Orbital

    5. Anne Michaels - Held

    6. Rachel Kushner - Creation Lake


    Ich habe in diesem Thread ja bereits zum Teil verraten, wie mir die Bücher gefallen haben. Ich fand nur zwei Bücher wirklich gut (glücklicherweise beide dafür sehr gut).


    James ist so gut, wie alle sagen. Wohl der Favorit und ein würdiger Gewinner, aber ich persönlich würde mit Stone Yard Devotional auf das Dark Horse setzen – der Außenseiter, den ich mir als Sieger wünsche.

    Heute auch hier von Herr Palomar rezensiert.


    The Safekeep hat stark begonnen, dann aber stark nachgelassen und war für meinen Geschmack viel zu melodramatisch und komplett fehlkonstruiert. Wenigstens hat der Roman etwas versucht. Dass er bei mir auf Platz 3 kommt, ist aber schon mal ein schlechtes Zeichen. Ein Publikumsliebling.


    Orbital ist gut geschrieben, enthält ein paar hübsche philosophische Gedanken, war mir aber viel zu prätentiös und überwiegend schnarchlangweilig. Ein sehr kurzes Buch, das sich aber sehr zieht.


    Ja, und dann zweimal Schulterzucken.


    Bei Held liegt es vielleicht auch an mir. Lyrisch, experimentell, mit sehr viel Pathos, das mir unangenehm auffiel. Die Hauptschwierigkeit war, dass ich keine Ahnung habe, was in diesem Roman passiert ist und warum mir die Autorin das erzählt hat. Hätte ich den Roman als Hörbuch gehört, würde ich denken, ich hätte ihn versehentlich im Shuffle-Modus gehört, so wenig passten die einzelnen Teile für mich zusammen, obwohl der eine oder andere Abschnitt für sich genommen durchaus ansprechend und literarisch geschrieben war.


    Creation Lake war weniger verrätselt, trotzdem eine komische Mischung aus Spionageroman, Umweltthriller und einer extrem unsympathischen Erzählerin, bei der sich das "unsympathisch" erzählerisch für mich nicht erklärt, sondern einfach nur nervt. Dazu kamen lange Abschnitte sowie Überlegungen über Neandertaler(!?). Ich finde es eigentlich gut, wenn ein Roman auf kreative Weise verschiedene Themen, Genres und Sujets mixt. Diese Mischung war jedoch überhaupt nicht meine und eine Qual zu lesen. Vermutlich einfach nicht mein Geschmack.