Beiträge von John Dowland

    Der dritte Teil des Romans befasst sich im Schwerpunkt mit Konstantin Lewins Leben als Gutsbesitzer – die entsprechenden Kapitel (1 – 12 sowie 24 – 32) machen fast zwei Drittel der Handlung aus. Am Anfang und am Ende steht jeweils ein Besuch – erst reist Lewins Bruder Sergej Iwanowitsch auf das Landgut, am Ende kommt der dem Tod nahestehende Bruder Nikolaj. In den wenigen verbleibenden Kapiteln erfährt man mehr über Annas Ehemann (13 – 14, 23), Anna (15 – 18) und schließlich auch Wronskij (19 – 22).


    Den meisten hier hat die breit angelegte Schilderung der russischen Landwirtschaft wenig zugesagt. Auch bei mir wurden gezielt schon verschüttet geglaubte Erinnerungen an ein ganz besonders finsteres Kapitel des gymnasialen Geschichtsunterrichts geweckt. Allein der Umfang dieser Passagen zeigt aber, dass es dabei um ein wichtiges Anliegen Tolstojs geht.


    Den wenigen Geschichtsbüchern, die ich zur Hand habe, entnehme ich, dass man die russische Geschichte im 19. Jahrhundert grob in eine „Reaktionsperiode“ (1815 – 1855) und eine sog. „Reform-Ära“ (1856 – 1874) einteilen kann. Markanter geschichtlicher Wendepunkt ist der Krimkrieg (1853 – 1856), bei dem es im Kern um die Frage der Vorherrschaft im Schwarzen Meer sowie die Kontrolle über den (am Bosporus gelegenen) Zugang zum Mittelmeer gegangen ist. Nachdem es den russischen Streitkräften nicht gelungen war, die französischen und englischen Invasoren von der Krim zu vertreiben, war Russland gezwungen, im Frieden von Paris demütigende Bedingungen zu akzeptieren (u.a. Verbot, Kriegsschiffe im Schwarzen Meer oder Stützpunkte an seinen Küsten zu unterhalten).


    Die Niederlage hat weitreichende politische und gesellschaftliche Auswirkungen. Die russische Führung (Zar Alexander II, 1855 – 1881) betrachtet den eigenen Staat (Verwaltung, Armee, Bildungswesen, Wirtschaft) als rückständig und bringt umfassende Reformen auf den Weg. Kern des "Maßnahmepakets" ist die Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahr 1861 (betroffen sind etwa 40 Millionen Bauern!). Aber auch die Förderung der Gymnasial- und Volksbildung und die Einführung der Selbstverwaltung („Semstwo“) für Gouvernements und Kreise zählen dazu. Trotz dieser Anstrengungen bleibt die erhoffte flächendeckende soziale Entspannung aber offenbar aus: der Bauernstand leidet nach wie vor unter unzureichender Landzuteilung und Verschuldung; die Bodenerträge gehen zurück ...


    Es ist dieses setting, das den Hintergrund für Tolstojs Roman bildet. Die Handlung liegt mitten in der Reformphase der zweiten Jahrhunderthälfte und unter den Akteuren macht sich bereits eine gewisse Ernüchterung breit. Insbesondere Lewin hängt Tag und Nacht der Frage nach, warum moderne ausländische Methoden und Instrumente in Russland wirkungslos verpuffen. Nach seiner Einschätzung liegt der Hauptfehler darin, dem russischen Volk Verfahren und Methoden überzustülpen zu wollen, die dessen Natur im Grunde fremd sind. Aber auch Lewins Ansatz, die Menschen so zu beschäftigen, wie es ihren "Gewohnheiten" am besten entspricht und sie mit dem System der Genossenschaft am Erfolg der Landwirtschaft zu interessieren, greift nicht durch: das Misstrauen, die Skepsis, die Beharrlichkeit und Schicksalsergebenheit der Bevölkerung führen dazu, dass im Grunde alles beim alten bleibt und keine noch so gut gemeinte Maßnahme Lewins zu einer wirklichen Verbesserung führt.


    Tolstoj steht den vielfältigen ausländischen Reformansätzen seiner Zeit (Nationalökonomie, Sozialismus, Genossenschaftswesen etc.) insgesamt wohl eher skeptisch gegenüber. Ich glaube fast, man kann dem dritten Teil die Aussage entnehmen, dass das russische Volk der Antwort auf die Frage, worauf es im Leben wirklich ankommt, schon relativ nah ist (siehe die Schilderung der Heuernte im 4. Kapitel sowie Lewins Beobachtungen des Landlebens im 12. und 25. Kapitel) und dass es hier keines weiteren Systemwechsels bedarf.

    Hier geht es zunächst um Konstantin Lewins Verhältnis zu seinem Stiefbruder Sergej Iwanowitsch Kosnyschew. Wenn ich den Gegensatz zwischen den beiden Brüdern richtig verstehe, dann ist Lewin konkret - er denkt an die Lösung der unmittelbar anstehenden Aufgaben, wo eine Wiese gemäht oder landwirtschaftliches Gerät ausgebessert werden muss. Sergej denkt abstrakt, verallgemeinernd - er rät Lewin, sich mehr in den Dienst „des Allgemeinwohls“ und der grundsätzlichen Verbesserung der herrschenden Umstände zu stellen.


    Die Methode, unterschiedliche gesellschaftliche oder politische Geisteshaltungen in die Beziehung von Brüdern zu übertragen, scheint mir ein charakteristisches Merkmal russischer Literatur zu sein – mich erinnert das an Iwan, Aljoscha und Dimitri, die Hauptfiguren in Dostojewskijs „Die Brüder Karamasow“. Bei Lewin und Sergej geht es im Kern um die Frage, ob und auf welche Weise das „rückständige“ Leben auf dem Land wohl verbessert werden kann. Sergej tritt für Modernisierung, Fortschritt, den Bau von Schulen und den Ausbau des Gesundheitswesens ein. Lewin vertritt einen Standpunkt, den ich zunächst nicht nachvollziehen konnte: „Brauchen die Bauernkinder eine bessere Bildung?“ fragt er an einer Stelle. Erst später, bei der Schilderung der Grasmähaktion und vor allem der entscheidenden Szene im 12. Kapitel, wurde mir klar, worum es hier geht: für Lewin steht ja nichts weniger auf dem Spiel als die Frage, was wohl das „Glück“ auf Erden bedeutet. Und auch Tolstoj bezieht hier relativ eindeutig Stellung: Sätze wie „alles war in einem Meer der fröhlichen, gemeinsamen Arbeit versunken“ oder „Der ganze lange Arbeitstag hatte nichts als Fröhlichkeit bei ihnen hinterlassen“ (12. Kapitel) stehen eindeutig im Kontrast zu den Schilderungen des Lebens in der Stadt. Was geht wohl in Alexej Alexandrowitsch oder Stepan Arkadjitsch vor, wenn sie abends ihr Büro verlassen? Nichts als Fröhlichkeit? – Es sind wohl Überlegungen dieser Art, die Lewin am Wert von „Bildung“ (auch seiner eigenen übrigens) zweifeln lassen.


    Ich glaube übrigens nicht, dass Tolstoj die Landarbeit idealisieren will – er zeigt ja, dass es um harte Arbeit geht und von den „Schattenseiten“ dieses Daseins war auch schon des Öfteren die Rede.

    In den Kapiteln 13 und 14 geht es dann mit Alexej Alexandrowitsch weiter – und wer bisher noch nicht restlos verstanden hat, warum Anna ihren Ehemann so tief verabscheut bekommt spätestens jetzt ein wenig Nachhilfe. Das bemerkenswerte an dieser Szene ist m.E., dass Alexej im Konflikt mit seiner Frau nicht anders handelt, als würde es sich um eine Angelegenheit seines Ministeriums handeln. Der Umgang mit Anna, die Unstimmigkeiten im Gouvernement Sarajsk oder das Studium der Iguvinischen(?) Tafeln sind dem emotionslosen Technokraten Alexej einerlei. Man könnte tatsächlich Mitleid mit ihm haben (und glauben, dass es sich nur um eine Art von Selbstschutz handelt) – würde er jetzt nicht zu seinem kleinen Rachefeldzug gegen Anna aufbrechen.


    Edit: Aufgrund des nachstehenden Hinweises von Paradise Lost musste ich einige Namen korrigieren. Vielen herzlichen Dank! Hoffentlich stimmt´s nun.

    So, mittlerweile bin ich ein paar Äste weiter oben...


    Im zweiten Teil wird hauptsächlich die weitere Entwicklung der Beziehung zwischen Anna und Wronskij geschildert, aber auch über Lewin, Annas Ehemann und natürlich Kitty erfährt man mehr. Im Kurort tritt mit Mademoiselle Warenka eine neue Person auf den Plan, von ihr war bislang nicht die Rede. „Höhepunkte“ sind m. E. ganz klar Annas Mitteilung über ihre Schwangerschaft im 22. Kapitel und natürlich das Pferderennen, das gleich zweimal, nämlich aus der Perspektive des Reiters und danach aus derjenigen der Zuschauer (vor allem des Ehepaars Karenin) erzählt wird.


    Beim Lesen hat sich meine Einstellung zu Wronskij sehr verändert. Fast habe ich den Eindruck, dass er es mit seiner Beziehung zu Anna sehr ernst meint und tatsächlich bereit ist, viel für diese Frau aufs Spiel zu setzen. Seine Entschlossenheit, seinen Mut und seine Geradlinigkeit: alles absolut beeindruckend und die Bemerkung, die er Anna zuruft, dass es nämlich „aus jeder Lage einen Ausweg“ gäbe, man müsse sich nur dazu aufraffen (Kap. 22), zeugt von starkem Lebensmut. (Gespannt bin ich allerdings darauf, wie dieser Mensch, der den Eindruck erweckt, es mit der ganzen Welt aufnehmen zu wollen, wohl die Niederlage beim Wettrennen verarbeiten wird. Die Aura der Unbesiegbarkeit, die Wronskij auszeichnet, hat hier jedenfalls stark Schaden genommen und dies ausgerechnet in einer Lage, wo es erforderlich wäre, dass Anna mehr Zuversicht gewinnt. Einen gewissen Symbolwert hat möglicherweise auch, dass Wronskij hier – ohne das natürlich anzustreben – nicht irgendein Rennpferd zugrunde richtet, sondern mit Frou-Frou ein Wesen tötet, das er liebt ..)


    Wronskijs Freundeskreis gibt aber auch mir allerdings zu denken. Neben Jaschwin war ja schon im ersten Kapitel von Petritzkij die Rede, seines Zeichens „immer verschuldet“ und wegen allerlei lächerlicher Geschichten „häufig im Arrest“. Wie Paradise Lost bin ich der Meinung, dass Tolstoj hier etwas über den Charakter Wronskijs mitteilt und das verheißt hier nichts Gutes...


    Bemerkenswert ist, dass unser Liebespaar nicht mehr die gleiche Sprache zu sprechen scheint. Wronskij steht fassungslos vor Anna, die sich offenbar entschlossen hat, die Dinge nur noch passiv zu ertragen und sich nicht dazu aufraffen kann, Nägel mit Köpfen zu machen. Sie scheint einfach auf halbem Weg stehen bleiben zu wollen und ist übrigens in ihrer Eigenschaft, die Realität ausblenden zu wollen, ihrem doch so verhassten Ehemann gar nicht unähnlich. Fraglich ist allerdings, wer von beiden – Wronskij oder Anna – der größere Realist ist. Im Gespräch wird deutlich, dass eine Scheidung nicht so leicht über die Bühne gebracht werden kann – offenbar muss Annas Ehemann seine Frau „freigeben“ (wozu er nach Annas Überzeugung nicht bereit ist). Konsequenterweise denkt Wronskij an Flucht... Die ohnehin schon schwierige Lage wird durch das gemeinsame Kind der Karenins vollends kompliziert.
    Die Eheleute Karenin haben ihre Beziehung völlig an die Wand gefahren (Wofür beide verantwortlich sind: keiner von beiden verschwendet den leisesten Gedanken daran, wie denn der andere wieder gewonnen werden könnte, sie machen einfach weiter wie bisher. Nach dem GAU mit der Schwangerschaft dürfte der Weg in eine „normale“ Beziehung allerdings endgültig versperrt sein.)


    Und dann Kitty: per se ist nichts gegen eine Lebensweise einzuwenden, die sich an christlichen Idealen orientiert. Die Schilderung der wundersamen Wandlung in eine Art Warenka II. habe ich dennoch mit immer größerer Besorgnis gelesen. Zum Glück kriegt sie hier noch mal die Kurve ... (Sie scheint immerhin eine ausgezeichnete Beobachterin zu sein. Am Schluss ist sie jedenfalls eine reifere Persönlichkeit geworden. Es wurde aber auch deutlich, warum Wronskij sie gewogen und für „zu leicht“ befunden hat.)


    Meine Sympathien gelten Lewin. Ich finde es großartig, wie er das Chaos auf seinem Landgut in den Griff zu bekommen versucht. Seine Art, eher über sein Unglück zu grübeln, als zu handeln, verstehe ich gut. Er sollte sich nur ein einziges Mal eine Scheibe von Kamerad Wronskij abschneiden, den nächstbesten Gaul satteln und endlich zu seiner Kitty reiten...

    Wenn ich sehe, dass einige Eulen schon bei Teil sechs angelangt sind, wird mir ganz schwindelig… leider packe ich es beim besten Willen nicht, schneller weiterzufliegen.


    Zu den „Ästen“ des zweiten Teils, in denen ich gerade noch sitze: wir sind ja, was Anna betrifft, im 11. Kapitel tatsächlich an einem schönen "point of no return" angelangt. Bis hierher wäre es Anna noch möglich gewesen, kurz innezuhalten, nachzudenken, und Wronskij mitsamt seinem Reiterregiment in die sibirische Tundra zu schicken (wo er vermutlich am besten aufgehoben wäre). Warum eine kluge und auch lebenserfahrene Frau wie sie das nicht tut, gibt einige Rätsel auf. Es mag damit zusammenhängen, dass Anna, die nach den Maßstäben der damaligen Gesellschaft so ziemlich alles erreicht hat, was von einer Frau in ihren Kreisen erwartet wird – sie ist schön, ist mit einem erfolgreichen und wohlhabenden Mann verheiratet, hat einen Sohn, ist in der Gesellschaft anerkannt – mit nicht wenigem Entsetzen auf das blickt, was jetzt noch in ihrem Leben kommen mag… Die Welt der Bälle und Empfänge hält jedenfalls für sie keine Überraschungen mehr bereit. Anna spürt wohl deutlich, dass sie mehr und mehr in die Rolle einer Zuschauerin gleiten und dass das wirkliche Leben unweigerlich an ihr vorbeiziehen wird. Die Mazurken werden sehr bald anderen blühenden Schönheiten vorbehalten sein – Fürstinnen wie Kitty Schtscherbatzkij beispelsweise. Daher stellt das Auftauchen eines Wronskij für Anna wohl so etwas wie die letzte Gelegenheit dar, auf den Zug eines „wirklichen“ Lebens aufzuspringen, die Hauptrolle in ihrem eigenen Roman zu übernehmen, wie das an einer Stelle ausgedrückt wird. Und dennoch: Tolstoj zufolge ist hier eine zerstörerische Macht am Werk. Anna springt in Wahrheit viel zu kurz und vermutlich mitten in die Hoffnungslosigkeit hinein. Nach dem 11. Kapitel steht nicht nur fest, dass ihr Lebenstraum ausgeträumt ist; Anna hat auch - nach den Maßstäben ihrer Zeit - erhebliche Schuld (sowohl ihrem Mann als auch „höheren Instanzen“ gegenüber) auf sich geladen, von der sie sich nicht so leicht befreien wird. Der Vergleich mit einem „Mord“ passt gut. Schlimmer noch: die träumende, glühend-lebenslustige, unschuldige und vergnügte Anna wird es nach dem 11. Kapitel vermutlich nicht mehr geben. Ich bin sehr gespannt, was nun kommen wird…

    Meines Erachtens kommt Lewin in den bisherigen Beiträgen schlechter weg, als er es verdient hat. Die Kapitel 26 und 27, die seine Ankunft auf dem Land schildern, stehen ja in starkem Kontrast zu Lewins kurzem Aufenthalt in Moskau. Einer Welt, die sich in weiten Teilen um so existenzielle Fragen wie „Austern oder Steinbutt?“ dreht und wo alle Beteiligten sicher sein dürfen, dass selbst im privatesten Bereich kein offenes Wort gesprochen, sondern viel lieber eine kleine Tragödie aufgeführt wird. Wenn Lewin nun an seine Kühe denkt, zeigt das nur, welchen Stellenwert ein solches Tier für einen Gutsverwalter selbstredend hat. Auch das Beheizen seines Hauses kann ich gut verstehen – Lewin zeigt damit, dass in seinem Haus genug Platz für die (Groß)Familie ist, nach der er sich sehnt. Er setzt einfach ein optimistisches Zeichen für eine bessere Zukunft.

    Die Darstellung verschiedener „Erzählebenen“ scheint mir tatsächlich ein sehr charakteristisches Merkmal der Szenen unseres Romans zu sein. Beispiel: Kapitel 9, worin die Begegnung von Kitty und Lewin auf der Eisbahn geschildert wird. Lewin scheint ja ein herausragender Schlittschuhläufer zu sein, wird er doch von Nikolaj als „erster“ Schlittschuhläufer Russlands bezeichnet. Und tatsächlich gleitet er später „mühelos“ auf dem Eis dahin und führt zum Schluss sogar noch ein halsbrecherisches Kunststück auf. Im Gegensatz dazu Kitty: sie fährt „nicht sehr sicher“, die Hände hält sie „in Bereitschaft“. – Ganz anders sieht es jedoch aus, wenn man die (vordergründige) psychische Verfassung dieser beiden Charaktere betrachtet. Hier ist Kitty eindeutig die überlegene Persönlichkeit. Und Lewin? Scheitert hoffnungslos beim Versuch, Kitty seine Liebe zu gestehen. Auf der „Eisbahn“ des gesellschaftlichen Takts findet er keinen Halt, kommt schließlich auch zu Fall. Und dann gibt es da vermutlich noch eine dritte Ebene – auf dieser ist möglicherweise Lewin der charakterfestere der beiden, derjenige, der besser Bescheid weiß, worauf es im Leben ankommt bzw. die Heuchelei und Falschheit der städtischen Konventionen sehr genau durchschaut…

    Mit großem Vergnügen habe ich jetzt die ersten sechzehn Kapitel gelesen – da geht es mir so, wie den meisten hier. Ein tausendseitiges Buch, das den Leser in eine Welt von Fürstenpaaren, Gouvernanten, Kammerdienern, Bittstellern, Pferdekutschen und Privatempfängen zurückversetzt… Tolstoj bringt seine Figuren in den ersten Kapiteln wie bei einem Schachspiel in Position – erst Stiwa und dessen Frau, dann Lewin, Kitty, Wronskj, schließlich tritt Anna auf den Plan. Ganz am Anfang erfährt man, dass es Tolstoj nicht um Politik oder ein bestimmtes historisches Ereignis geht, auch nicht um die Darstellung eines Einzelschicksals. Sein Thema ist wohl kein geringeres als der Menschheitstraum vom Glück - darauf bin ich mal sehr gespannt: Der Gesellschaft, die hier den Rahmen bildet, scheint es ja zumindest in materieller Hinsicht an nichts zu fehlen. Trotzdem wird man schon auf den ersten Seiten Zeuge, wie sich der Lebenstraum einzelner Charaktere (Lewins etwa oder der von Stiwas Ehefrau Dolly) zu pulverisieren scheint . (Die Vermutung liegt nahe, dass das auch für Prinzessin Kitty gelten wird – jedenfalls geht sie mit ihrer Fixierung auf Wronskj, an dessen Integrität Zweifel angebracht sind, ein nicht geringes Risiko ein - „Petersburger Geck“, lautet ja das Urteil des besorgten Vaters). Man fragt sich also ernsthaft, auf welches Familienmitglied dieses St. Petersburger Personenreigens denn das Attribut „glücklich“ zutreffen könnte… Stiwa etwa, der gerade seine Ehe vor die Wand fährt, oder Anna, von der man noch nicht viel erfahren hat?


    Sehr bemerkenswert finde ich die Erzählweise. Es finden ja zahlreiche Dialoge statt: aber nie ist dabei nur das vordergründig gesprochene Wort von Bedeutung. Immer kommt eine Ebene nonverbaler Verständigung hinzu, die viel mehr über die wahren Absichten der Charaktere und deren Beziehung aussagt, als der wörtliche Dialog (Lewin beispielsweise isst die Austern, die Stiwa ordert, „obwohl ihm Weißbrot mit Käse lieber gewesen wäre“ u.a.m.)

    Danke, Seestern, dann wären wir ja schon zu zweit... :-) Ich überlege jetzt mal, ob ich den Vorschlag einstelle. Zwar bin ich noch nicht allzu lange dabei und wollte mich erstmal an anderweitig organisierten Runden beteiligen - aber die Meinung der Eulen zu den Seeungeheuern des Herrn Pinol würde mich jetzt schon sehr interessieren...

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    Original von Hanako


    Die Prophezeiungen werden für mich in dem Moment schlüssig wenn ich Gott als die treibende Kraft in der Welt ansehe. Dann sind die "Strafen" auch keine willkürlichen Strafen mehr, sondern "natürliche" Konsequenzen falschen Handelns so wie "Belohnungen" "natürliche" Folgen richtigen Handelns sind.


    So könnte es in der Tat gemeint sein.


    Aber: Was meinst Du hier mit "Ockhams Messerchen"? Da habe ich eine Bildungslücke... Mach´ doch mal bitte den Besteckkasten dieses mittelalterlichen Professors auf.

    Zitat


    Original von Magna Mater


    John, ich hab eher das gefühl, dass Amos genau diesen primitiven feindvernichtern auf seiner eigenen seite nach dem mund redet, und behauptet, sein gott würde die restlose vernichtung seiner feinde für gut heissen.


    Der Spaß hört für mich an der Stelle auf, wo einer – unmittelbarer Draht zum Chef hin oder her – zu Besen greift, die besser im Schrank bleiben sollten, und ans Großreinemachen geht. Der sich nicht nur als Sprachrohr, sondern auch als Werkzeug begreift und denen, die nicht mitziehen wollen, ans Leder will. Beispiele hierfür gibt´s ja leider genug. Im „Kristus“ von Robert Schneider wird ein später Kollege von Amos beschrieben, der irgendwann auch die Angemessenheit von Zweck und Mittel aus den Augen verloren und im 16. Jahrhundert in Münster so ziemlich das genaue Gegenteil von dem „himmlischen Jerusalem“ errichtet hat, an das er und seine Mitstreiter wohl irgendwann einmal geglaubt hatten. Bei Amos kann ich keine dahingehenden Anhaltspunkte erkennen. Amos ruft seine Landsleute zu einer inneren Umkehr auf, das ist für mich sonnenklar, sonst hätte er den Mund halten können. Aber damit hat sich´s auch. Einen Aufruf, vermeintlichen Übeltätern den Garaus zu machen, kann ich dem Text nicht entnehmen (Ausnahme: 9, 11 – 12, aber diese Verse gehören, laut meiner Kommentierung, nicht zum ursprünglichen Text).