Beiträge von John Dowland

    Vielleicht ist es sinnvoll, den Text in Abschnitte zu unterteilen. Ich würde dann die Ankunft (I.), die Geschehnisse im Haus (II.), die Aufbahrung der Lady Madeline (III.) und schließlich die Ereignisse danach (IV.) unterscheiden wollen. Die „äußere“ Handlung ist rasch erzählt: der Erzähler hat einen Brief seines erkrankten Jugendfreundes erhalten. Er entspricht dessen Bitte nach einem Besuch im Hause Ascher. Dort angekommen wird der Erzähler Zeuge merkwürdiger Vorgänge, insbesondere ist er dem Freund, der offenbar dem Tode näher als dem Leben steht, dabei behilflich, dessen gerade verstorbene Schwester in einer Gruft des Hauses aufzubahren. Einige Zeit später, in einer stürmischen Nacht, betritt die Verstorbene als geisterhafte Erscheinung das Zimmer der Freunde; Roderick Ascher, der soeben gestanden hatte, die Schwester lebendig in den Sarg gelegt zu haben, überlebt diese Begegnung nicht. Nachdem der Erzähler das Haus fluchtartig verlassen hat, wird dieses von den Naturgewalten zerstört.


    Ein wichtiges Thema scheint mir der Einfluss der Natur auf die Gemüts- und Seelenzustände des Menschen zu sein. Während Roderick Ascher den geheimnisvollen Kräften seiner Umgebung schon vollständig erlegen ist, beginnt der Erzähler diese in Ansätzen zu spüren, kann ihnen aber glücklicherweise entkommen.


    Der Kern des Ganzen besteht für mich in der Frage, warum Roderick Ascher es, wie er sagt, nicht gewagt hat, dem Freund mitzuteilen, dass die geliebte und angeblich verstorbene Schwester noch am Leben ist. Daneben stellen sich aber weitere Fragen: welche Bedeutung hat der geheimnisvolle Dunstkreis „gänzlich unverwandt der Himmelsluft“, der das Haus umgibt? Welche Beziehung hat hier eigentlich zwischen Bruder und Schwester bestanden? Und: sind es tatsächlich lebende Menschen gewesen, denen der Erzähler hier begegnet ist?


    Man kann den Text m.E. auch als Beschreibung des Übergangs vom Leben zum Tod lesen – denn es ist in der Tat ein Totenreich, an dessen äußersten Rand sich der Erzähler begibt - es wird verkörpert durch den dunklen Teich, die Gruft unter der Erde und auch das von Roderick Ascher angefertigte Bild dieser Gruft. Der Grund für die „unterlassene Hilfeleistung“ des Bruders könnte dann darin liegen, dass er die geliebte Schwester von ihrem irdischen Dasein „erlösen“ wollte, ihr (umgekehrt) dabei „hilft“, in den Tod zu gehen, wohl wissend, dass dies auch sein eigenes (ersehntes?) Ende bedeuten würde.

    Zitat

    Ich habe mir gerade Lesezeichen bei den 5 Geschichten/Gedicht gemacht. Dabei habe ich festgestellt, dass ich die ersten 3 nur im Original habe. Die sind in der deutschen Version gar nicht enthalten! Also werde ich die Runde mit 2 Büchern verfolgen!


    Ich werde auch versuchen, soviel wie möglich im Original zu lesen. Obwohl das bei Poe natürlich gar nicht so einfach ist...

    Noch eine Antwort auf Beatrix:


    Da ich mir parallel zur Lektüre Notizen gemacht habe, kann ich Dir wegen des gesuchten Zitats vielleicht weiterhelfen. Als sich Lewin von der Heuernte erholt und den Bauern bei der Vorbereitung des Nachtlagers zusieht, kommentiert Tolstoj:


    "Das alles war in dem Meer der fröhlichen, gemeinsamen Arbeit versunken. Gott hatte diesen Tag gegeben, Gott hatte ihnen Kraft gegeben. Der Tag und die Kraft waren der Arbeit geweiht, und der Lohn bestand in der Arbeit selbst. Für wen war diese Arbeit? Was für Früchte würde sie tragen? Das waren nebensächliche, bedeutungslose Fragen." (Dritter Teil, 12. Kapitel)


    Genau diese Stelle hatte ich mir jedenfalls seinerzeit markiert.

    Den Roman Anna Karenina habe mit einer Mischung aus Achtung und Skepsis gelesen – Achtung, weil es ein Buch ist, mit dem sich schon Tausende vor mir beschäftigt haben, ein Roman, den man gedanklich ins gleiche Regal stellt wie etwa den „Zauberberg“ von Thomas Mann (wo er dann zumeist auch stehen bleibt...) Skepsis, weil ich nicht sicher war, ob sich Tolstoj nicht vielleicht in ausufernden Schilderungen der russischen Gesellschaft und Politik des vorletzten Jahrhunderts verliert, die mit meiner Gegenwart nichts mehr zu tun haben (man betrachte nur die eindrucksvollen Portraits des älteren Tolstoj auf Wikipedia: solche Bärte tragen heutzutage ja nur noch Leute, die auf der Flucht sind...)


    Wenn ich jetzt auf das Buch zurückschaue, fallen mir - wie vielen hier - als erstes immer „Bilder“ ein: das Pferderennen der russischen Offiziere, das Liebespaar beim Tanz einer Mazurka, Annas nächtliche Zugfahrt und, natürlich, ihr Gang zum Nishnij-Nowgoroder Bahnhof. Das Buch enthält ein ganzes Dutzend solcher einprägsamer „Sprachgemälde“.


    Tolstoj gerät inhaltlich nicht in den Verdacht, ein großer Anhänger der „Modernisierung“ Russlands gewesen zu sein. Der Leser bekommt stattdessen eine deutliche Skepsis gegenüber den Neuerungen im Bildungswesen, der Medizin und vor allem der „Nationalökonomie“ zu spüren und wann immer ein Gelehrter, ein Arzt oder ein Beamter seinen Auftritt hat, ist eine Portion Ironie unübersehbar. Da werden dann falsche Diagnosen erstellt und in Streitgesprächen munter aneinander vorbeigeredet. Der Autor selbst scheint Anhänger einer möglichst naturverbundenen, „unverbildeten“ und ursprünglichen Lebensweise gewesen zu sein. Den Popanz der russisch-orthodoxen Kirche lehnt er ebenso ab wie den Hurrapatriotismus seiner Zeitgenossen, wenn zum Krieg gegen die Türken geblasen wird. Populäre Auffassungen „zerfallen“ bei Tolstoj häufig, wenn er sich an die Schilderung des Charakters ihrer Vertreter macht. Das wird beispielsweise deutlich, wenn er im achten Teil die wahren Motive der russischen Kriegsfreiwilligen enthüllt.


    Alle Hauptfiguren des Romans, Anna, Wronskij, Lewin, Kitty und auch die bedeutenden Nebenfiguren, Stiwa und Dolly, sind (worauf schon der programmatische Eingangssatz hinweist) auf der Suche nach dem Glück. Und so unterschiedlich die Wege sind, die jeder für sich hier einschlägt: keiner der Charaktere ist holzschnittartig „gut“ oder „böse“ – sie werden jeder für sich weder idealisiert, noch als hoffnungslose Fälle hingestellt. Von Alexej Alexandrowitschs Pflichtbewusstsein kann sich mancher eine Scheibe abschneiden. Andererseits setzt seine emotionslose Haltung gegenüber Anna eine wesentliche Ursache für den verhängnisvollen Verlauf der Geschichte. Wronskijs Mut, sein Draufgängertum, seine Entschlossenheit sind zu bewundern – seine materialistische Weltsicht und das Pathos, das er bis zuletzt in seine Rollen hineinlegt, sind es nicht. Und von Anna kann man lernen, wie sich der unbedingte Wille zum Glück ins vollendete Gegenteil verkehren kann, wenn man nur entschlossen genug ist, an einem irrealen „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ festzuhalten, den Motiven seiner Mitmenschen grundsätzlich zu misstrauen und – vor allem – die eigenen Gedanken beständig um die eigene, vermeintlich verzweifelte Lage kreisen zu lassen.


    Alles in allem schade, dass die Zeit, die ich mit diesem Roman verbracht habe, nun vorbei ist. Bzw. großartig, dass es da ja immer noch „Krieg und Frieden“ gibt.

    Der achte Teil ist viel kürzer als die vorhergehenden und scheint irgendwie nicht recht zum Rest zu passen. Er wurde vielleicht mit zeitlichem Abstand erstellt. Themen sind der Krieg in Serbien, Lewins Suche nach der Wahrheit und sein schließliches „Glaubensbekenntnis“. Daneben erfährt man, welche Wirkung Annas Tod - vor allem auf Wronskij - ausgeübt hat. Die habe ich so nicht erwartet – wenn man in Rechnung stellt, welchen Tiefpunkt die Beziehung der beiden inzwischen erreicht hatte, dann hätte man von Wronskijs ewigem „tant pis“ auch auf eine gewisse Gleichgültigkeit, vielleicht sogar Erleichterung schließen können. Dass es anders kommt beweist wiederum, wie gut Anna ihren Liebhaber inzwischen gekannt hat: mir wäre der Preis zu hoch gewesen, aber eins muss man Anna lassen – ihr Ziel hat sie treffsicher erreicht. Wronskij ist drauf und dran, seine Zahnschmerzen im serbischen Krisengebiet behandeln zu lassen, was weder für die Qualität der russischen Zahnmedizin spricht, noch zur Nachahmung empfohlen sein dürfte.


    Mit seiner Kritik an der nationalen Mobilmachung, am „Volksgeist“ und der kriegerischen Begeisterung von weiten Teilen der Bevölkerung, dürfte Tolstoj schon zu seiner Zeit ziemlich allein dagestanden sein –die Schilderung der Freiwilligen, das allgemeine Gerede von nationalen und damit höheren Verpflichtungen: bemerkenswert ist, dass russische Soldaten just in diesen Tagen erneut in „zu befreiende“ Landstriche einmarschieren...


    Die Beschreibung von Lewins „Glaubensbekenntnis“ scheint Tolstojs wichtigstes Anliegen zu sein. Er setzt dem Christentum, wie es von der römisch-katholischen oder auch der orthodoxen Kirche praktiziert wird, eine (etwas diffuse) „Idee des Guten“ entgegen, die dem Menschen durch Erziehung vermittelt wird und alle Schichten der Bevölkerung als universelles Band verbindet. Das „Gute“ wird nicht durch den Verstand erkannt, sondern als intuitive Einsicht erfahren. Entsprechend zu handeln, stellt nach Tolstoj den Sinn des Lebens dar. Vor kurzem habe ich erfahren, dass Tolstojs spätere Anhänger unter Stalin verfolgt wurden. Und das alles wegen einer abweichenden Auffassung davon, was „gut“ ist...


    Edit: Tippfehler korrigiert

    Im siebten Teil werden die – aus Sicht des Vaters dramatische - Geburt von Lewins Sohn Dimitrij und Annas furchtbares Ende wie zwei Seiten eines aufgeklappten Buches gegenübergestellt – der eine geht (ohne sein Zutun) einer vermutlich glücklichen und hellen Welt entgegen, die andere stößt sich aus eigenem Entschluss in eine alptraumhafte Finsternis hinein.


    Die Schilderung der letzten Tage der Anna Karenina kann man jedenfalls nur wie eine traurige Anleitung zum Unglücklichsein lesen. Tolstoj greift ohne Rücksicht auf Verluste ein Thema auf, um das auch heute noch ein großer Bogen gemacht wird: Was treibt einen Menschen dazu, sich am helllichten Tag und vor den Augen der ganzen Welt in einen derart finsteren Abgrund zu stürzen? Wie kommt es, dass jemand die Schmerzen, die Kälte, den Schmutz und die Angst auf sich nimmt, die ein langsam herein rollender Güterzug verursachen muss? Noch dazu eine Frau, die man eben noch „in anmutiger Haltung“ zu Pferde, als geheimnisvolle Schönheit oder elegante und kluge Gastgeberin erlebt hat? Die von den anderen beneidet und wegen ihrer außergewöhnlichen Willenskraft fast ein wenig gefürchtet wird? Die äußeren Ereignisse, das mit der Trennung von Alexej und Serjoscha verbundene objektive Geschehen können diesen Schritt nicht erklären. Niemand hat für Anna die Diagnose einer todbringenden Krankheit erstellt und keine noch so feindselige Gesellschaft hätte ein solches Opfer von ihr verlangt. Stattdessen spielt sich das eigentliche Drama, das Annas ausweglose Lage dann doch so nachvollziehbar macht, einzig in ihrer eigenen Vorstellungswelt ab. Annas Verzweiflung, ihre Einsamkeit, die Zwänge, denen sie sich ausgesetzt sieht, sie wurzeln allesamt in ihrem Kopf und sind zugleich so mächtig, dass Anna hier schließlich keinen Widerstand mehr leistet. Neben den verstörenden Details ist es wahrscheinlich die Zwangsläufigkeit der Ereignisse, die – mich jedenfalls – sehr beunruhigt hat.

    Die Kapitel in der zweiten Hälfte des sechsten Teils handeln vom Besuch Darja Alexandrownas auf dem Gut des Grafen Wronskij (Kap. 16 – 24) und schildern kurz das allmähliche Auseinanderleben von Anna und ihrem Geliebten (Kap. 25). Es folgt ein ausführlicher Bericht vom Ablauf russischer „Adelswahlen“ (Kap. 26 – 31); am Ende kehrt die Handlung zu Wronskij und Anna zurück.


    Mein Eindruck ist, dass alle hier in der Begegnung zwischen Anna und Dolly den Höhepunkt des gesamten sechsten Teils gesehen haben (insbesondere die Kapitel 23 – 24). Das sehe ich ebenso: die „Moorhuhnjagd“ und die skurrilen Ereignisse rund um die Gouvernementswahlen bilden nur den Rahmen für den sich anbahnenden tragischen Verlauf der eigentlichen Handlung (richtig „tragisch“ gestalten sich die Dinge bislang ja nur für das durchsiebte Federvieh). In diesen wenigen Kapiteln steckt aber auch eine ganze Menge drin: dass Geld (allein) nicht glücklich macht, haben wir schon gewusst, aber hier wird der Unterschied zwischen schöner Fassade und marodem Innenleben doch sehr eindrucksvoll beschrieben. Auch das Krankenhaus ist nur Element einer planmäßigen Selbstinszenierung – ansteckende Krankheiten und schwangere Frauen haben dort nichts zu suchen (selbst Wronskijs kleine Tochter steht dem Vater in nichts nach und „freute sich offenbar, dass man dass man sie bewunderte...“). Annas geisterhafter Auftritt in der Nacht, ihre Morphiumsucht und ihre beständig um unerfüllbare Besitzansprüche kreisenden Gedanken – Dolly begreift, dass sie hier nicht mehr helfen kann und ergreift folgerichtig die Flucht.


    Mit der anschließenden Schilderung der Gouvernementswahlen in Kaschin greift Tolstoj sein Thema aus dem zweiten und vor allem dem dritten Teil wieder auf. Es geht erneut um den Konflikt zwischen „Fortschrittlichen“ und „Konservativen“. Tolstoj hätte die Wahl (deren Ablauf ein klein wenig an die Zustände in unseren schleswig-holsteinischen oder auch hessischen Landtagen erinnert) ebenso gut aus der Perspektive Wronskijs oder Stiwas schildern können. Indem er den Blickwinkel Lewins wählt, bekommen beide Parteien ihr Fett ab: der scheinbar „Verrückte“ (Lewin) ist gar nicht verrückt (so wie Wronskij gar nicht reich, sondern nur geizig, Anna nicht glücklich, sondern verzweifelt und Dolly nicht armselig, sondern ein guter Mensch ist). Was in dieser Welt beeindruckend und bedeutend ist, was für Gesprächsstoff sorgt und die Zeitungen füllt wird von Tolstoj jedenfalls in beiden Abschnitten erst einmal vom Podest geholt.


    Die Bemerkung Annas, sie werde keine Kinder mehr bekommen, könnte in der Tat ein Hinweis auf einen ärztlichen Eingriff sein. Anders kann man sich die die Frage Dollys, ob das nicht unmoralisch sei, eigentlich nicht erklären. Allerdings: beim ersten Lesen habe ich diese Hinweise ebenso wie milla und paradise lost gesehen.

    Die gesamte erste Hälfte des sechsten Teils befasst sich mit dem Leben des jungen Ehepaares auf Lewins Gut in Pokrowskoje. Lewin selbst steht hier m.E. im eigentlichen Mittelpunkt. Zwei Kapitel befassen sich mit Sergej Iwanowitschs unausgesprochenem Heiratsantrag (Kap. 4 – 5), breiten Raum nimmt die Schilderung der Schnepfenjagd ein (Kap. 8 – 13).


    Ich hab´ mal nachgeschaut, wem die schwer bewaffneten Jagdfreunde in den russischen Sümpfen da überhaupt nachstellen. Für Interessierte: bei den „Bekassinen“ handelt es sich um eine Schnepfenart, die in der warmen Jahreszeit eigentlich auch bei uns anzutreffen ist. Schnepfen (die ich sonst nur als Schimpfwort kenne...) zählen zu den an Gewässern und fatalerweise auch in Sümpfen beheimateten „Watvögeln“, mein Vogelführer unterscheidet Ufer-, Pfuhl-, Wald- und Zwergschnepfen, darüber hinaus besagte Bekassinen. Wer so ein Kerlchen zu Gesicht bekommt, muss über die braungefiederte Zusammenstellung von kurzen Beinen und extrem langem Schnabel wahrscheinlich erst einmal herzlich lachen: abknallen würde ich ein solches Tier jedenfalls definitiv nicht. Bekassinen leben laut Vogelführer „sehr versteckt“, was nach den Erfahrungen, die sie mit Lewin und seinen Freunden gemacht haben, nicht weiter verwunderlich ist.


    Die Jagd jedenfalls ist für Tolstoj Anlass, den ihm am Herzen liegenden Unterschied zwischen Stadt- und Landbewohner etwas deutlicher herauszuarbeiten: die Liste von Wasenkas Vergehen bzw. Unzulänglichkeiten ist in der Tat lang: er kommt unangemeldet zu Besuch; er schäkert in Lewins Beisein fröhlich mit der schwangeren Kitty herum; er lenkt den Wagen in den Sumpf (ist aber nicht in der Lage, die Pferde auszuspannen); er hetzt Lewins Fuchs fast zu Tode und hantiert mit dem Gewehr herum, bis sich ein Schuss löst; er verbraucht, ohne an den Kameraden zu denken, sämtliche Vorräte, um sich nach Rückkehr gleich wieder um Kitty zu „kümmern“. Dass Lewin, der sich während der Jagd fast mit Wasenka angefreundet hätte, irgendwann der Geduldsfaden reißt, ist verständlich, der Rauswurf Wasenkas großartig. Beeindruckend ist auch, dass Lewin die Sache immer wieder mit Kitty bespricht. Wenn ich richtig gezählt habe, tauschen sich die Eheleute dreimal über die Vorfälle aus, ehe Lewin endgültig „anspannen lässt“.


    Tolstoj arbeitet immer wieder sehr sorgfältig die Momente heraus, in denen Männer und Frauen einander als künftiges bzw. mögliches Liebespaar begegnen. In diesem Abschnitt sind es Sergej Iwanowitsch und Warenka. Davor waren es Anna und Wronskij etwa in der Treppenhausszene (1. Teil, Kap. 21) und Lewin und Kitty in der Nacht auf dem Land (3. Teil, Kap. 12) oder beim Abendessen mit Stepan Arkadijtsch (4. Teil, Kap. 9 ff.) Das Buch bezieht seine Spannung daraus, dass diese Begegnungen nicht selten unverhofft und immer unkalkulierbar verlaufen.

    Die zweite Hälfte des fünften Teils schildert den Tod von Lewins Bruder Nikolaj (Kap. 17 – 20), die Begegnung von Annas Ehemann mit der Gräfin Lydia Iwanowna (Kap. 21 – 25), die Ausbildung des jungen Serjoscha im Hause des Vaters (Kap. 26 – 27) und die Ereignisse nach Annas und Wronskijs Rückkehr nach St. Petersburg (Kap. 28 – 33).


    M.E. ist schon bemerkenswert, dass Tolstoj einen solch zerrissenen und alles andere als rational handelnden Charakter wie den Anna Kareninas in den Mittelpunkt seines Romans stellt. Von den bislang abgegebenen Statements teile ich am ehesten die Auffassung, wonach Anna entweder nicht richtig weiß, was sie überhaupt will, oder aber gerade das eigentlich Unvereinbare unter einen Hut bekommen möchte: sie will sowohl Teil der Gesellschaft sein, als auch von Alexej getrennt leben; sie will den Sohn behalten und ihre Beziehung mit Wronskj pflegen... Möglicherweise ist es auch die „Lust am Untergang“, die Anna antreibt – die insgeheime Erkenntnis, dass die Welt für sie einfach zu klein ist. Den „Amoklauf“ ins Petersburger Theater könnte man sowohl mit Realitätsblindheit als auch mit einer tief sitzenden Verzweiflung erklären. Wronskij jedenfalls wird das Heft des Handelns vollkommen aus der Hand genommen. Er ist in den letzten Kapiteln nicht mehr Herr der Lage und kommt mir vor wie ein Fahrlehrer, dessen begeisterte Schülerin soeben mit Vollgas in die entgegengesetzte Richtung der Autobahn einfädelt...


    Dass Anna der eigene Sohn vorenthalten wird, ist natürlich schlimm. Andererseits stellt sie mit ihrer Nacht-und-Nebel-Geburtstagsbesuchsaktion erneut unter Beweis, dass sie sich für die Gefühle ihres Mannes nicht wirklich interessiert. Eine kurze Abstimmung mit Alexej kommt Anna nicht in den Sinn. Und auch hinsichtlich des Zeichens, dass sie bei Serjoscha setzt, habe ich meine Zweifel: ich glaube, dass es Anna im Kern darum geht, von ihrem Sohn „freigesprochen“ und damit bestätigt zu werden. Mit Liebe hat das wenig zu tun.


    Insgesamt fällt auf, dass Tolstoj (jedenfalls nach meiner Wahrnehmung) kein Urteil über seine Charaktere spricht – Anna, Wronskij und auch Alexej: sie alle sind ja nicht ganz unschuldig an der „verfahrenen“ Situation. Dennoch hält sich Tolstoj mit Bewertungen sehr zurück.

    In der ersten Hälfte des fünften Teils scheint es, als ob alle Hauptpersonen am Ziel ihrer Wünsche angekommen sind – Kitty und Lewin haben geheiratet, Anna und Wronskij kosten – weitgehend unbeeinträchtigt von der Gesellschaft – ihre Zweisamkeit aus. Als Leser sorgt man sich bloß, dass die Wege von der Höhe, auf der sich die vier gerade befinden, nur noch in eine Richtung zeigen... Kein Wunder, das Wronskij und Anna das Bild mit den hoffnungsvoll angelnden Knaben ab besten gefällt.


    Bei der Beschreibung des Pilatus musste ich an Alexej denken („...er ist ein braver, netter Kerl, ein eingefleischter Beamter, der nicht weiß, was er tut.“) und umgekehrt ist das Gefühl, das Anna im Christuskopf ausgedrückt sieht („Man sieht, dass Pilatus ihm leid tut.“) ihrer eigenen Haltung gegenüber Alexej nicht unähnlich. Es scheint so, als ob Michailow dem Paar, ohne dass sie es richtig gemerkt haben, eine Art Spiegel vorgehalten hat.

    In der zweiten Hälfte des vierten Teils geht in allen Personen eine Wandlung vor sich: Anna, die Ehebrecherin, schickt ein Telegramm an ihren verhassten Ehemann, um diesen um Verzeihung zu bitten; Alexej entwickelt die Größe, seiner Frau mitsamt deren Liebhaber zu vergeben; und Wronskij, der Draufgänger, wird so gedemütigt, dass ihn nichts mehr am Leben hält... Beim Lesen hab ich mich gefragt, ob hier nicht etwas zu dick aufgetragen wird. Keiner der Beteiligten handelt so, wie ich es nach dem bisherigen Verlauf der Geschichte erwartet hätte.


    Bei manchen ist dieser Sinneswandel ist allerdings nur von kurzer Dauer. Kaum ist sie auf dem Weg der Genesung, löst der bloße Gedanke an eine lebenslange Zweisamkeit mit Alexej bei Anna die gewohnten krisenhaften Zustände aus. Und Alexej ist nicht zu beneiden: die verschiedenen Aspekte dieser verfahrenen Situation unter einen Hut zu bekommen (Religion, Gesellschaft, Recht, Moral und nicht zu letzt die eigenen Gefühle) stellt ein Ding der Unmöglichkeit dar.


    Von seinem Petersburger Rechtsanwalt hat Alexej erfahren, dass eine Ehescheidung hier nur wegen Ehebruchs in Betracht kommt. Offenbar spielt dabei der Gesichtspunkt eine Rolle, wer den Ehebruch im jeweiligen Fall verschuldet hat. Als „üblichsten, einfachsten und vernünftigsten“ Weg hatte der Anwalt Ehebruch „aufgrund beiderseitiger Übereinkunft“ empfohlen. Für eine „Überführung“ des schuldigen Teils seinen handfeste Beweise vonnöten, Liebesbriefe zählen nicht, Vaterschaftstests waren noch nicht erfunden.
    Alexej ist jetzt offenbar gezwungen, zwischen zwei ähnlich schlechten Alternativen zu wählen:
    • Er könnte Anna des Ehebruchs überführen. Das hieße aber, sie der gesellschaftlichen Ächtung preiszugeben; dann hätten jedenfalls die Kinder unter dieser Situation zu leiden. Dieselbe Situation würde wohl entstehen, wenn Anna sich an ihrem Ehebruch mit Wronskji für schuldig erklären würde.
    • Er könnte sich selbst für schuldig bekennen. Das hieße, einen Ehebruch zu fingieren. In diesem Fall wäre Anna fein raus und könnte sich ganz ihrem neuen Lebensabschnittsgefährten widmen. Alexej wiederum säße in der Patsche, weil er einen so etwas wie einen Meineid geleistet und einen religiös-moralischen Verhaltenskodex gebrochen hätte.


    Am liebsten würde Alexej wohl so weitermachen wie bisher - und dabei hoffen, dass sich das Problem Wronskij durch Zeitablauf erledigt. Nur: da spielt Anna nicht mit.


    Lewin begeht einen großen Fehler, als er Kitty seine „Unreinheit“ (damit sind wohl voreheliche Eroberungen gemeint?) gesteht. Man darf gespannt sein, wie oft dieser unverbesserliche Idealist noch auf dem Boden der Realität aufschlagen wird.


    Dass sich Anna in einer Art psychischem Ausnahmezustand befindet, liegt auf der Hand: schließlich glaubt sie ja - und wünscht sich wohl auch -, dass ihre irdischen Tage gezählt sind. Im nachhinein könnte man fast versucht sein zu glauben, dass die Versöhnungsszene weniger mit Alexej und viel mehr mit Wronskij zu tun hat. Die beiden, die sich nichts sehnlicher als den Tod gewünscht haben, sind jetzt aber doch zum Weitermachen verurteilt worden. Mal schauen, was daraus wird.

    In den ersten drei Kapiteln ist von Wronskij die Rede, Kapitel 4 – 8 handeln von Alexej, dann rückt Lewin in den Vordergrund. Die Begegnung mit dem ausländischen Prinzen scheint in der Tat viel über Wronskijs Charakter auszusagen: einerseits zieht ihn die Welt der „russischen Vergnügungen“ mit ihren Bärenjagden, Trinkgelagen und Nacktänzerinnen magisch an, andererseits ekelt er sich davor. Als er Anna seinen Konflikt zu schildern versucht, wird bei ihr die Eifersucht geweckt - was folgt hat eine äußerst nachteilige Wirkung auf das ohnehin schon fragile Beziehungsgefüge: es würde mich nicht wundern, wenn Wronskij recht bald anderswo Ablenkung sucht. Die beiden verstehen einander nicht mehr, machen sich Vorhaltungen, werden von den gleichen Alpträumen gequält.


    Die Worte des Bauern „Il faut le battre le fer, le broyer, le pétrir...“, die Anna so verängstigen, würde ich mit: „Man muss das Eisen schmieden, es zerstoßen, es zurecht pressen...“ übersetzen. Ist jemand anderer Auffassung?


    Dass Anna Wronskij in die eheliche Wohnung einlädt, ist in der Tat eine ungeheurere Provokation. Womit denn auch der allerletzte Funke an Zuneigung oder Mitgefühl in Alexej ausgelöscht wäre. Anna scheint dem Leben nichts mehr abgewinnen zu wollen, bezieht eine Position, mit der beide Männer nicht klarkommen. Die bittere Auseinandersetzung der Eheleute im vierten Kapitel ist dann nur noch von wechselseitiger Zerstörungswut geprägt (erstaunlich, wie wenig sich solche Verhaltensmuster im Vergleich zur heutigen Zeit verändert haben). Erleichterung kommt erst wieder beim Auftritt Stepan Arkadjitschs auf... beide, die Karenins und die Oblonskijs finden einen vollkommen unterschiedlichen Weg, mit dem Thema Ehebruch umzugehen.

    Gern geschehen. Es fällt schon auf, wie sehr das Handeln und Denken der Romanfiguren vom Zeitgeist geprägt wird: die Sprösslinge der feinen Gesellschaft lernen Französisch, der Reiteroffizier hält sich einen englischen Jockey, man vertreibt sich die Langeweile beim Krocketspiel, die Fürstinnen tragen Namen wie „Kitty“ oder „Dolly“...


    Mit Tolstojs Einstellung zur Bildung hadere ich noch etwas. Ich glaube auch, dass er – wenigstens bislang - ein paar unangenehme Nebenfolgen der rückständigen Bodenbewirtschaftung unter den Tisch fallen lässt – es würde mich wundern, wenn die ausbleibenden Erträge nicht zu Hungersnöten geführt haben. Selbst der Medizin steht Tolstoj skeptisch gegenüber ... Seine Kritik scheint sich zwar im Kern auf eine Bildung zu beziehen, die irgendwie abstrakt bleibt, und praktisch nicht verwertbar ist (s. z.B. im 28. Kapitel „Warum in aller Welt interessiert ihn die Teilung Polens?“ ...) Deshalb versucht Lewin auch überall – zumeist vergebens - , den praktischen Nutzwert einer Theorie zu ergründen. Es ist aber nun jedweder Forschung immanent, dass man möglicherweise lange Zeit nicht richtig versteht, wozu eine "Entdeckung" eigentlich gut ist ... Mal schauen, wie´s hier weitergeht.