Zur Form: Das Gedicht umfasst 28 Strophen. Jede Strophe (des Originaltextes) enthält 5 – relativ lange – Zeilen; häufig reimt sich ein Wort ungefähr in der Mitte der Zeile mit dem ganz am Schluss. Ebenso häufig reimen sich die Zeilenenden aufeinander – vielfach wird das Schlusswort am Ende der nächsten Zeile wiederholt. Trotzdem klingt das Ganze keineswegs harmonisch: gleich die zweite Textzeile durchbricht den Rhythmus und den Reim der umschließenden Zeilen. Damit wird m.E. sichergestellt, dass der Text den Leser nicht „einlullt“ und quasi vom Anfang bis zum Ende unberechenbar bleibt. Ich habe keine Ahnung, ob es für den komplizierten Aufbau der Strophen einen Fachbegriff oder ein Muster gibt – vielleicht weiß hier jemand, der sich ebenfalls mit dem Originaltext beschäftigt hat, besser Bescheid?
Inhaltlich haben wir es mit drei Teilen zu tun: dem Vorspann (Strophen 1 – 6); dem Hauptteil (Strophen 7 – 27) und dem Schluss (Strophe 28). Über den Erzähler – sein Alter, seine Stellung, seinen Beruf – erfahren wir so gut wie nichts. Da die zweite Strophe besagt, dass sich der Erzähler „zurückerinnert“ ist es denkbar, dass hier ein älterer Mann über ein länger zurückliegendes Ereignis berichtet. Auch über Lenore gibt es nur wenige Hinweise. Es ist zu vermuten, dass es sich um die verstorbene Geliebte des Erzählers handelt; vielleicht muss man sich die beiden als frischvermähltes Paar vorstellen. Durch den Tod der Geliebten wird das Leben des Erzählers (für immer) aus der Bahn geworfen.
Der Rabe steht m. E. stellvertretend für alles, was im Leben unerklärlich, unvernünftig, zweifelhaft und, letzten Endes, nicht gut ist. Der Erzähler wird in der besagten Nacht unausweichlich mit dem Nichts, mit der Finsternis und auch der Hoffnungslosigkeit konfrontiert: sechsmal schallt ihm das keinen Widerspruch duldende „Nevermore“ des Raben entgegen (als Name des Raben; als Antwort auf die Fragen, ob der Rabe den Erzähler wieder verlassen wird; ob er von Gott gesandt wurde; ob es im Leben Trost, Linderung oder Hoffnung gibt; ob er Leonore eines Tages wieder in den Armen halten wird; schließlich als Antwort auf die Forderung, den Erzähler zu verlassen) – bis es sich endgültig in die Seele des Erzählers einfrisst.
Nicht erklären konnte ich mir eine gewisse Doppeldeutigkeit, die der Erscheinung des Raben m.E. anhaftet: dieser ist einerseits eine grimmige, gespenstische, den Erzähler zutiefst verstörende und beängstigende Kreatur – andererseits eine „stattliche“ und elegante Erscheinung, die ihn stellenweise sogar erheitert. Vielleicht ein Hinweis auf die mitunter verführerischen Kräfte „des Bösen“?
(PS: Lenor(e) – der Name wird m.E. tatsächlich genau so wie das bei uns erhältliche Waschmittel ausgesprochen; die Werbeindustrie schreckt vor nichts zurück...)
Edit: Tippfehler