Beiträge von John Dowland

    Wenn ich es richtig sehe, habe ich mich in dieser Runde am 7. August 2009 zum letzten Mal zu Wort gemeldet – ein Jahr und fünf Monate sind jetzt darüber weggegangen. Wie oft mir seitdem bei der nächtlichen Lektüre Musils die Augen wie Garagentore zugefahren sind und wie oft ich mit dem „Mann ohne Eigenschaften“ Schlimmeres vorhatte, als ihn auf ewig an irgendeinem unzugänglichen Ort meines Bücherregals zu deponieren, habe ich nicht gezählt. Immerhin – seit gestern bin ich „durch“ oder, um im Bild meines ersten Beitrags zu bleiben, auf dem ersten Gipfel angelangt und zurückblickend sind Stolz und Erleichterung meine vorherrschenden Gefühle. Ich hasse halbe Sachen. Und am Schlimmsten sind halbangefangene, halbausgelese Bücher.


    Worum geht es im zweiten Buch des Mannes ohne Eigenschaften? Geschildert wird die Bestattung von Ulrichs Vater; seine Begegnung mit der Schwester Agathe, die eigentlich eine Vereinigung zweier Seelenverwandter darstellt; der Versuch Clarissens, mit Ulrichs Hilfe Moosbrugger im Irrenhaus aufzusuchen; schließlich der große Empfang im Hause Tuzzi.


    Die „Parallelaktion“ ist inhaltlich keinen Millimeter weiter gekommen. Im Gegenteil: die Unfähigkeit ihrer Akteure, dem Vorhaben Kontur zu geben, macht sie zur Projektionsfläche diffuser Ängste in der Bevölkerung und tatsächlich scheint sich eine einflussreiche Gegenbewegung zu mobilisieren, die sich sowohl auf der Straße (Erstes Buch, 120. Kapitel), als auch im Salon Diotimas (Zweites Buch, 34. – 38. Kapitel) bedrohlich Gehör verschafft.
    Musils Buch handelt von der Zeit vor Ausbruch des ersten Weltkrieges. Von Menschen, die orientierungslos in einem unendlichen Meer der Möglichkeiten herumtreiben. Es handelt davon, was geschieht, wenn sich diese Menschen – ohne Vorstellung davon, was sie wirklich wollen - nach „einer starken Hand“ sehnen, wenn sie ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit durch Halbwahrheiten und Hass auf das Fremde Größe verleihen wollen. Beispielhaft wieder das 120. Kapitel, in dem es um die Demonstration gegen die Parallelaktion geht: „Die einen, an die er sich wandte, erwiderten, dass eine große Kundgebung der Staatstreue im Gange sei, die anderen glaubten gehört zu haben, dass sich die Kundgebung gegen gewisse allzu betriebsame Patrioten richte, und ebenso geteilt waren die Meinungen in der Frage, ob die alle beherrschende Erregung eine Erregung des deutschen Volkes über die Nachgiebigkeit der Regierung sei, welche die slawischen Wünsche begünstige, was die meisten glaubten, oder ob die Erregung regierungsfreundlich sei und zu einem Aufmarsch aller gutgesinnten Kakanier gegen die unaufhörlichen Unruhen auffordere“ (S. 626): Der kleine, gelehrte General (meine persönliche Lieblingsfigur in diesem zweiten Teil), sieht im 37. Kapitel (Seite 1020) die Folgen voraus, wenn in dieser Situation für „Ordnung“ gesorgt wird: „Wenn Sie mir die Zeitungen, den Rundfunk, die Lichtspielindustrie und vielleicht noch ein paar andere Kulturmittel überantworten, so verpflichte ich mich ... aus den Menschen Menschenfresser zu machen.“


    Aber der bevorstehende Krieg und seine Entstehung sind meines Erachtens nicht Hauptthema des Buches. Hauptthema ist die alles überlagernde Frage Ulrichs (und Agathes), wie man leben soll. Die Frage nach der richtigen, eigenen Moral. Der Richtschnur für das eigene, erfüllte Leben. Nach nichts anderem sind die beiden in leidenschaftlicher Suche und Sehnsucht unterwegs. Sie wären bereit, für die Antwort auf diese Frage das eigene Leben zu opfern.


    Hauptaussagen zu dieser schwierigen Suche werden im 12. und auch in den letzten Kapiteln gemacht. Das 12. Kapitel enthält nichts weniger als Ulrichs „Glaubensbekenntnis“: „Du hast mich gefragt, was ich glaube! Ich glaube, man kann mir tausendmal aus den geltenden Gründen beweisen, etwas sei gut oder schön, es wird mit gleichgültig bleiben, und ich werde mich einzig und allein nach dem Zeichen richten, ob mich seine Nähe steigen oder sinken macht. Ob ich davon zum Leben geweckt werde, oder nicht. Ob bloß meine Zunge davon redet und mein Gehirn oder der strahlende Schauder in meiner Fingerspitze. Aber ich kann auch nichts beweisen. Und ich bin sogar überzeugt, dass ein Mensch, der dem ernsthaft nachgibt, verloren ist. Er gerät in Dämmerung. In Nebel und Quatsch. In gliederlose Langeweile. (...) Ich glaube also und glaube nicht!“ Im 38. Kapitel heißt das: „Es gibt kein tiefes Glück ohne tiefe Moral. Es gibt keine Moral, wenn sie sich nicht von etwas Festem ableiten lässt. Es gibt kein Glück, das nicht auf einer Überzeugung ruht.“ Und: „Ein Wesen ist der Mensch, das nicht ohne Begeisterung auskommen kann. Und Begeisterung ist der Zustand, worin alle seine Gefühle und Gedanken den gleichen Geist haben.“


    Gefühle und Gedanken in einer stimmigen Moral zu vereinen, das ist es, wohin der Mann ohne Eigenschaften sich aufgemacht hat. Ohne die Antwort darauf zu finden. Aber es ist gerade nicht Absicht des Autors, einfache bzw. fertige Wahrheiten zu präsentieren. Stattdessen hat sich Musil, gemeinsam mit allen Akteuren seines Romans, auf eine Art Suche begeben, die allerdings an manchen Stellen große Anforderungen an die Geduld und auch den Intellekt des Lesers stellt: Selbst die Haupt(neben-)personen des Romans (Graf Leinsdorf, Tuzzi, der General) können den unfertigen, fragmentarisch-skizzenhaften, rätselvoll-tastenden und teilweise an einem geistigen Hochreck erdachten, erträumten und konstruierten Gedankengebäuden des Autors (seine Hauptperson Ulrich ist Mathematiker!) intellektuell zum Teil nicht mehr folgen. Siehe Graf Leinsdorf, der im 37. Kapitel feststellen muss: „Das ist mir zu hoch!“


    Es lohnt sich trotzdem, das Buch zu lesen. Und ich bin neugierig auf die folgenden Teile. Aber jetzt brauche ich erst einmal ein wenig Abstand zum Mann ohne Eigenschaften...


    Vielen Dank noch an den Themenstarter Bartlebooth, für seinen Durchhaltewillen und die gelungenen Zusammenfassungen der letzten Abschnitte!

    Hallo Bartlebooth,


    einige Anmerkungen aus den Notizen, die ich mir beim Lesen gemacht habe: Clarisse macht es sich offenbar zur (Lebens-)Aufgabe, einen Kampf mit Ulrich, dem Mann ohne Eigenschaften aufzunehmen (97). Das Kapitel über die Polizeiausstellung (98): im „Hintergrund“ des Weltgeschehens werden systematisch Vorbereitungen für einen Krieg getroffen – wobei sich die Besucher mehr für den Schlaf eines Fräulein Vogelsang oder das Puppenhaus der englischen Königin zu interessieren scheinen. Ein Buch über die Verwirklichung des Wichtigsten ist auch in der Staatsbibliothek nicht zu finden (100) ... Diotima sucht Ulrichs Nähe und vertraut ihm tiefe Geheimnisse an – in diesem Kapitel (101) wird erstmals deutlich ausgesprochen, wie Ulrich zu Arnheim und Diotima zu den beiden Männern steht – Ulrich wirft Arnheim Gewinnsucht und Eitelkeit vor, Diotima sehnt sich nach einer Auszeit von den Mühen der Parallelaktion. Der Kampf im Hause Fischl (102) – der arme Direktor muss zusehen, wie er im eigenen Haus „entmachtet“ wird – wenn ich die verzweifelten Versuche sehe, Hans Sepp auf den Boden der Wirklichkeit zu führen (indem Fischl dessen Studium finanziert und Sepp im Gegenzug während einer „Probezeit“ nicht mehr im Hause Fischl erscheinen darf), denke ich an die Parallelen zum Ausgreifen des Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich. Rachel erweist sich als stille Verehrerin von Ulrich, und macht sich gemeinsam mit Soliman auf den Weg, die Welt ihrer Herrschaft zu entzaubern (104). Schließlich: die Paralyse der „hohen Liebenden“ und Arnheims Entschluss, sein bisheriges (vernunftgeprägtes) Leben nicht für Diotima aufs Spiel zu setzen – einen Moment lang blitzen in Arnheim sogar Vorstellungen auf, die wir bislang nur an Moosbrugger wahrgenommen haben ... (106). Alles in allem: die Geschichte (sowohl die Parallelaktion als auch die Entwicklung der Charaktere) kommen keinen Milimeter voran, sondern fahren sich immer weiter in einer unentrinnbaren Sackgasse fest - ich sehe nicht ganz, welche "Bewegung" Du hier wahrgenommen hast...


    Viele Grüße


    J.D.

    Hallo Bartlebooth,


    habe ich das falsch verstanden? Zwei Beispiele:


    Kapitel 57 – „Ideale haben merkwürdige Eigenschaften und darunter auch die, dass sie in ihren Widersinn umschlagen, wenn man sie genau befolgen will. (...) Diotima hätte sich ein Leben ohne ewige Wahrheiten niemals vorzustellen vermocht, aber nun bemerkte sie zu ihrer Verwunderung, dass es jede ewige Wahrheit doppelt und mehrfach gibt. Darum hat der vernünftige Mensch, und das war in diesem Fall Sektionschef Tuzzi, der dadurch sogar eine gewisse Ehrenrettung erfuhr, ein tief eingewurzeltes Misstrauen gegen ewige Wahrheiten; er wird zwar niemals bestreiten, dass sie unentbehrlich seien, aber er ist überzeugt, dass Menschen, die sie wörtlich nehmen, verrückt sind.“


    Kapitel 62 – „Der Wille seiner eigenen Natur, sich zu entwickeln,“ (Anm.: gemeint ist Ulrich) „verbietet ihm, an das Vollendete zu glauben; aber alles, was ihm entgegentritt, tut so, als ob es vollendet wäre. Er ahnt: diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ru-henden Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist.“


    Die Kritik Musils richtet sich m. E. beispielsweise gegen die Truppe um Hans Sepp, die einem leeren Ideal von umfassender Liebe und Gemeinschaft anhängen, bei dem am Ende nichts als antisemitische Zerstörungswut herauskommen wird. Sie richtet sich an alle Menschen, die die oben dargelegten Zusammenhänge nicht erkennen, sondern eine Idee vom „wahren Österreich“ verfolgen (Musil legt ja in mehreren Kapiteln dar, um welchen Unfug es sich da bei näherer Betrachtung handelt).


    Diotima lernt. Aber das Volk, dem die Ideen in den Kopf gesetzt werden sollen, wird immer nur auf die einfache, passende Botschaft hören wollen.


    Viele Grüße


    J.D.

    Der Abschnitt schildert Ulrichs Tätigkeit als Sekretär der Parallelaktion (Kap. 81), enthält einen Dialog zwischen Ulrich und Clarisse (Kap. 82), zu dem später Walter hinzutritt (Kap. 84), eine Reflexion über die Entstehung und Eigenart von Geschichte (Kap. 83) und die Gefahr einer Verbindung des Geistes mit „großen Dingen“. General Stumm versucht, „Ordnung in den Zivilverstand zu bringen“ (Kap. 85, 93). In zahlreichen Kapiteln geht es um Arnheim: sein Verhältnis zu Diotima, seine Jugend, seine Auffassungen (Kap. 86), sein Verhältnis zu den von Diotima geladenen Gesellschaften (Kap. 89, 90), seine Position als „Großschriftsteller“ (Kap. 95, 96). Ein Kapitel widmet sich dem inneren Konflikt Diotimas (Kap. 94), eines handelt von Moosbrugger (Kap. 87). Wir erfahren von einem Gespräch zwischen Tuzzi und Ulrich (Kap. 91) und lernen etwas von den „Lebensregeln reicher Leute“ (Kap. 92).


    Alles in allem ein breiter, sehr unübersichtlicher Strom von Gedanken, der an die zuvor angelegten Erzählstränge anknüpft, zum Teil schon Gesagtes aus anderen Blickwinkeln betrachtet, Weltanschauungen in Form von Dialogen, Monologen oder Ausführungen des Erzählers erläutert. Äußerlich geschieht nichts: Diotima lässt den Sektionschef Tuzzi nicht im Stich, Moosbrugger wird nicht hingerichtet, Clarisse bleibt bei Walter und die Parallelaktion verwaltet sich ohne konkreten Inhalt oder Außenwirkung selbst.


    Es stellt sich die Frage, worum es hier eigentlich geht. Was sind die großen Themen, die Musil im Mann ohne Eigenschaften aufgegriffen hat?


    M. E. handelt das Buch in erster Linie von einer Art systematischem Skeptizismus gegenüber „großen Ideen“. Musil kritisiert Menschen, die ihr Leben solchen Ideen verschreiben, egal ob es sich dabei um nationalstaatliche, moralische, theologische, kunsttheoretische oder „neuzeitliche“ Ideen handelt. Jede Idee fordert mit gleicher Existenzberechtigung eine Gegenidee heraus, jedes Ordnungssystem vernichtet Lebendigkeit und Vielfalt bei den nicht oder unzutreffend erfassten Gegenständen. Man kann dem mit Ironie begegnen (so im Kapitel über die Stenographievereine oder den Versuchen Stumms, der Gedankenvielfalt mit militärischen Mitteln zu begegnen). Es scheint Musil aber ernster zu sein und eher um die Gefahr zu gehen, die entsteht, wo immer Menschen einen Teil für das Ganze nehmen oder die Wirklichkeit einer unbedingten Regel unterwerfen. Ganz konkret in diesem Buch – wer ein „Weltösterreich“ fordert, spielt mit dem Feuer, auch wenn Diotima dies arglos und mit den besten Vorsätzen tut.


    In zweiter Linie ist Musil am komplexen Seelenleben seiner Charaktere interessiert – ob er nun von Ulrich, Arnheim, Clarisse oder Diotima spricht, ob von Moosbrugger, dem Direktor Fischl oder Walter die Rede ist. Auch wenn äußerlich „nichts“ geschieht: im Innern der Akteure brodelt es, werden gewaltige Konflikte ausgefochten, wird zwischen Verrat und Treue, zwischen Neigung und äußerer Ordnung geschwankt - jeder einzelne am Steuer seines inneren Jumbojets, den er verzweifelt auf Kurs zu halten sucht.
    Auf beide Schwerpunkte muss sich der Leser einlassen wollen. Mit scheint aber gerade der zweite viel mehr mit dem wirklichen Leben zu tun zu haben, als man es vielleicht von einem Roman erwarten würde.


    Letzter Punkt – im Gespräch mit Walter und Clarisse scheint mir Ulrich (Musil?) einige wichtige Aussagen über sein Verständnis von Literatur zu machen, die vielleicht auch den Mann ohne Eigenschaften charakterisieren:
    „Jedes große Buch atmet diesen Geist aus, der die Schicksale einzelner Personen liebt, weil sie sich mit den Formen nicht vertragen, die ihnen die Gesamtheit aufnötigen will. Es führt zu Entscheidungen, die sich nicht entscheiden lassen; man kann nur ihr Leben widergeben. Zieh den Sinn aus allen Dichtungen, und du wirst eine zwar nicht vollständige, aber erfahrungsmäßige und endlose Leugnung in Einzelbeispielen aller gültigen Regeln, Grundsätze und Vorschriften erhalten, auf denen die Gesellschaft ruht, die diese Dichtungen liebt!“ (Kap. 84).


    Da haben wir beides: die Liebe zum Einzelschicksal und den Regelverstoß, das grundsätzliche und radikale Sich-nicht-abfinden-wollen mit der Konvention, dem Hergebrachten, der Mode und der äußeren Anforderung.

    Hallo bartlebooth,


    nein, ich rechne nicht ernsthaft mit einer Annäherung zwischen Diotima und Ulrich – ich meine nur, dass die Beziehung beider auch eine erotische Dimension hat. Beispiel: die Schilderung zu Beginn des 68. Kapitels („ ... schaukelte die Bewegung des Wagens auf Ihren langen Fahrten die beiden Verwandten, so dass sich die Kleider berührten ... aber die Körper empfanden dieses von Kleidern gedämpfte Berühren so zart verschwommen, wie man die Dinge in einer Mondnacht sieht. Ulrich war für dieses Kunstspiel der Liebe nicht unempfänglich, ohne es sonderlich ernst zu nehmen.“) Es gibt auch Textpassagen, die in die entgegengesetzte Richtung weisen. Die beiden haben es keineswegs aufeinander abgesehen. Aber die „Möglichkeit“ dazu (um mal eins von Ulrichs Lieblingswörtern zu gebrauchen) besteht, wenn auch sehr entfernt.


    Die Sache mit der Henne und dem Ei: auch ich habe das noch nicht zu Ende gedacht. Möglicherweise ein entscheidender Gegensatz (wobei dann Musil der Auffassung Schwungs nahestehen dürfte, da es sich ja bei Ulrichs Vater um einen Mann „mit Eigenschaften“ handelt.) Möglicherweise auch nicht. Ich zitiere einen Ausspruch General Stumms aus dem 85. Kapitel (der dort im Übrigen einen wunderbaren Auftritt hat): „... vielleicht reicht mein Kommißverstand einfach nicht dafür aus...“

    Hallo bartlebooth,


    Du hast vieles angesprochen, was mir auch aufgefallen oder merkwürdig vorgekommen ist. Wenn man die auftretenden Paare, von denen hier die Rede ist, betrachtet, so haben wir es eigentlich mit einer Serie von Tabubrüchen, zumindest mit der mehr oder weniger ausgeprägten Sehnsucht danach, zu tun. Bonadea und Ulrich, Diotima und Arnheim stehen für das Verhältnis einer verheirateten Frau zu ihrem Liebhaber. Ulrich und Diotima (zwischen denen es ja auch gelegentlich „knistert“) sind bislang nicht über den Graben gesprungen, den Verwandtschaft und gesellschaftliche Stellung zwischen ihnen angelegt haben; Clarissens Vater hat sowohl die beste Freundin seiner Tochter als auch die Tochter selbst begehrt - und was ist eigentlich der Grund, aus dem Clarisse dem ihre Hand haltenden Ulrich aus heiterem Himmel diese Geschichte erzählt? Rachel und Soliman, die ausländische Dienerschaft, vollführt ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem es um Treue und Verrat, Ordnung und Leidenschaft, Gehorsam und raubtierhafte Lust geht... Vordergründig bleiben zwar alle auf den ihnen zugewiesenen Positionen (mit Ausnahme Bonadeas). Es scheint mir aber nur eine Frage der Zeit zu sein, wann der nächste „Übertritt“, der auch immer eine Zerstörung der äußeren Ordnung bedeutet, erfolgt. Musil greift dieses Motiv so häufig auf, dass ich mich frage, ob das alles beherrschende sexuelle Begehren auch in seinen Bildern zum Ausdruck kommt – beispielsweise in der merkwürdigen Landschaft, die Diotima und Ulrich im 69. Kapitel, zweiter Absatz, durchschreiten – ich kann mich täuschen...)


    Die Kapitel, die mich am stärksten berührt haben, sind dasjenige über die wachsende Entfremdung Tuzzis und Diotimas, die allmähliche Emanzipation der Ehefrau von ihrem Mann und die genaue Schilderung der Wirkung dieses Prozesses auf den Sektionschef. Das Kapitel über Gerda – Musil hat ihm, denke ich, ganz bewusst seine Ausführungen über „das Böse“ vorangestellt. Und er stellt mit wenigen Absätzen die Hohlheit und Inhaltsleere des anitsemitischen „Gedankengutes“ ebenso bloß wie die Leichtgläubigkeit, um nicht zu sagen Dummheit, seiner Anhänger. Ebenso auf den Punkt gebracht wird aber auch, wie dieser Antisemitismus „funktioniert“, wie er in der Gesellschaft und in den Familien schleichend und unaufhaltsam Einzug hält, wenn man ihm einmal, wie Klementine Fischl das tut, Zutritt gewährt hat (nebenbei gesagt: „Dummheit“ kommt für Musil regelmäßig in den Namen der Akteure zum Ausdruck - das wird deutlich bei dem germanischen Verehrer Gerdas „Hans Sepp“, aber auch bei allen Soldaten, die bislang ihren Auftritt haben durften: der „Generalmajor Stumm von Bordwehr“ oder der Feldmarschalleutnant „Frost von Aufbruch“, der frühere Minister „v. Holtzkopf“ stellen ja wenig mehr als eine Verballhornung ihres eigenen Berufsstandes dar.)


    Am Schluss noch ein paar Worte zur Juristerei – es ist im Grunde ein spannendes Thema, das im 74. Kapitel aufgerissen wird, da es hier zumindest auch um die Frage der Willensfreiheit geht. Im deutschen Strafrecht sind die hier angesprochenen Regelungen heute (teilweise nahezu wortgleich) in den §§ 20 und 21 StGB enthalten:


    „§ 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


    Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.


    § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


    Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.“


    Der Schuldgrundsatz wird in Deutschland als oberster Leitgedanke des Strafrechts angesehen – d.h. Strafe darf nur auf die Feststellung gegründet werden, dass dem Täter aus der zum Tatentschluss führenden Willensbildung ein Vorwurf gemacht werden kann. Der Schuldgrundsatz hat damit die Entscheidungsfreiheit des Menschen zur logischen Voraussetzung (Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 4. Auflage 1988).


    Soweit ich sehe, kreist die Auseinandersetzung zwischen Ulrichs Vater und seinem Universitätskollegen einerseits um die Frage, ob es neben der (strafausschließenden) Unzurechnungsfähigkeit (Schuldunfähigkeit) auch so etwas wie eine verminderte Zurechnungsfähigkeit geben kann – an § 21 StGB sieht man, dass sich der deutsche Gesetzgeber gegen das „Entweder-Oder“, das Ulrichs Vater zum Prinzip erhebt, entschieden hat. Die Einführung der verminderten Schuldfähigkeit im Jahr 1933 entsprach einer Forderung bedeutender Psychiater. Zum anderen vertritt Ulrichs Vater die Auffassung, dass sich der biologische Defekt (krankhafte Störung der Geistestätigkeit) auf die Einsichtsfähigkeit des Täters ausgewirkt haben muss (Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen – intellektuelles Moment). Das ist heute genau so geregelt. Professor Schwung will demgegenüber einen Zusammenhang zwischen Krankheit und Willensbildung gelten lassen. Es geht also darum, ob der Wille im Denken (Ulrichs Vater) oder das Denken im Wollen (Professor Schwung) begründet ist. Wahrscheinlich ein Streit um Henne und Ei...

    Wer sich gefragt hat, was für ein merkwürdiges Wesen ein „Mann ohne Eigenschaften“ sei, der erfährt es, wie gesagt, im 62. Kapitel. Und er erfährt es wiederum nicht. Denn Musil rückt diesen grundlegenden Wesenszug seines Helden in die Nähe einer Erkenntnis, die man zwar erfahren, nicht aber erlernen kann: vom Versuch, die „Lebenslehre“, so wie sie sei, in ein „Lebenswissen“ umzuwandeln, bleibe soviel übrig, „wie von dem zarten Fadenleib einer Meduse, nachdem man sie aus dem Wasser gehoben und in den Sand gelegt“ habe. Sehr deutlich: „Die Lehre der Ergriffenen zerfällt in der Unvernunft der Unergriffenen zu Staub, Widerspruch und Unsinn, ...“ Die Schwierigkeiten, zu begreifen, worum es hier eigentlich geht, sind damit sozusagen vorprogrammiert.


    Soviel steht fest: Ulrich folgt keiner abstrakten und vorgefertigten Glaubens- oder Morallehre. Er anerkennt keine festen Ideale. Er gehorcht weder allein seinem Gefühl noch seinem Verstand. Er setzt sich jeder Kategorie, jeder Ordnung, jedem Prinzip und jedem Gesetz zur Wehr und setzt dagegen eine Haltung des Versuchs, der Hypothese, der Möglichkeit und der Wandlung, ein Lebensmotiv, das Musil als „Essayismus“ bezeichnet und das die Grundgedanken der Relativität, des Fragmentarischen und des Versuchs zum Kern hat: „Der Wert einer Handlung ... erschien ihm abhängig von den Umständen, die sie umgaben, von den Zielen, denen sie dienten, mit einem Wort, von dem bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten.“


    Mir hat sich die Frage gestellt, wo dieses System seinen Halt hernimmt. An welchen Werten richtet Ulrich, wenn es darauf ankommt, sein Handeln aus? Und worin liegt eigentlich der Unterschied zwischen dem haltlosen (aber seine Haltlosigkeit reflektierenden) Ulrich einerseits und dem haltlos-triebhaften Moosbrugger andererseits? Für´s erste meine ich, dass es eben das Nachdenken ist, was die beiden voneinander trennt. Vielleicht der Satz im 62. Kapitel, dass nach Ulrichs Auffassung „nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens.“

    Vom Moosbrugger ist zum ersten Mal im 18. Kapitel die Rede. Es gibt Kapitel, in denen sich Musil ausschließlich mit ihm befasst (z.B. das eben erwähnte 18, das 53. und das 59.) Andernorts geht es vor allem um die Wirkung, die der Frauenmörder in der Öffentlichkeit hervorruft (vor allem um die Wirkung auf Clarisse, die soweit geht, im 56. Kapitel die Freilassung des Mörders zu fordern). Darü-ber hinaus nimmt Musil den Fall (den es möglicherweise tatsächlich gegeben haben mag) zum Anlass, über Recht und Unrecht, Schuld, Zurechnungsfähigkeit, Gesundheit, Normalität und Wahnsinn nachzudenken (so im 60. Kapitel).


    Allein der Umfang der Darstellung, mehr aber noch dessen Betrachtung aus unterschiedlichen Blickwinkeln zeigen, dass Musil dem Fall Moosbrugger mehr Bedeutung zumisst, als ihn eine x-beliebige skurrile Gerichtsstory gehabt hätte. Dem Autor geht es meiner Meinung nach um das „Prinzip Moosbrugger“. Das heißt konkret um die Schilderung einer Geisteshaltung, die der Inhaftierte zugespitzt zum Ausdruck bringen mag, die aber zugleich eine Art Sinnbild für den Wesenszug einer ganzen Gesellschaft sein könnte: Moosbrugger verkörpert für mich eine sprachlose, dämonische Gewalt, die -wenn man sie nur lange und beharrlich genug herausfordert - jederzeit bereit erscheint, aus der Oberfläche eines schönen und friedlichen Scheins herauszubrechen. Er begeht seinen Mord auch oder gerade deswegen, weil er weiß, dass er im Leben immer ein zu kurz Gekommener bleiben wird. Jedem denkbaren Glück setzt dieser berufsmäßige Nihilist ein „aber“ entgegen, wünscht sich im Gefängnis nur, dass alles ein rasches Ende haben möge.


    Die Gefängnis- und Gerichtsszenen habe ich so gelesen, als ob hier eine Gesellschaft ein Monster verwahrt, an dem jeder Mann und jede Frau in gewisser Weise Anteil hat und von dem sich alle nicht im Klaren darüber sind, ob sie es tatsächlich in Ketten oder nicht lieber in Freiheit sehen würden. Insofern halte ich Christian Moosbrugger sogar für eine Art Identifikationsfigur für Menschen, die jubelnd dem nächsten Vernichtungskrieg entgegen marschieren.

    Dieser Abschnitt beschreibt den Fortgang der Parallelaktion, wobei in den Kapiteln 45 – 50 sowie 52 sehr stark von Arnheim, in den Kapiteln 53 und 59 von Moosbrugger und in den Kapiteln 60 bis 62 mehr und mehr von Ulrich die Rede ist. Das 51. Kapitel ist der Hölle gewidmet, die sich die Eheleute Fischl auf Erden bereiten (und die ihnen vom aufkommenden Antisemitismus bereitet wird). Am Wichtigsten scheint mir das 62. Kapitel zu sein, worin Musil ausführlich Charakter und Geisteshaltung Ulrichs beschreibt.


    Zu Arnheim: Musil hat der Beschreibung des preußischen Wirtschaftsführers viel Platz gewidmet. Er trägt dabei allerdings so dick auf (Wirtschaftskönig, Universal-, Sprach- und Kommunikationsgenie), dass ich bisweilen am Realitätsgehalt gezweifelt habe. Darüber hinaus ist mir nicht vollständig klar, welche Position der Autor Arnheim gegenüber bezieht. Fest steht, dass der Preuße Gegner hat – Ulrich, den Grafen Leinsdorf, Sektionschef Tuzzi (nachvollziehbar...) und Soliman. Fest steht aber auch, dass Arnheim durchaus lobenswerte Ideale vertritt: er stellt „philosophische Anforderungen“ an eine nur auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Wirtschaft; er kämpft gegen Rationalismus, Rechentrieb, Seelenlosigkeit und Wettrüsten und setzt alldem seine Idee des „Ganzen“, seine Sehnsucht nach der Führerschaft starker Persönlichkeiten entgegen. Möglicherweise hat bartlebooth Recht, und Arnheim ist tatsächlich eine Art Gegenpol zu Ulrich, der „Mann mit Eigenschaften“ sozusagen. Er wird von Musil nicht ausdrücklich so bezeichnet (vielleicht hab ich´s überlesen); aber vieles, was einen solchen Menschen kennzeichnet , bringt Arnheim mit: er verfolgt mit großem Ernst große Ideale, ist festgefügt in seinem Urteil und er verkörpert ein durch und durch geordnetes Weltbild. Die Idee mit dem Gegenpol gefällt mir, sie würde auch die Ausführlichkeit der Beschreibung erklären.


    Auf Moosbrugger & Co. komme ich in den nächsten Tagen zurück.


    Edit: Tippfehler

    Noch ein paar Gedanken zu Clarisse, Walter und Ulrich, zwischen denen ja ein kompliziertes Beziehungsgefüge zu bestehen scheint. (Was wahrscheinlich, wenn man es richtig betrachtet, keine Besonderheit ist – die Besonderheit besteht hier in der wachen, analytischen Aufmerksamkeit, die Musil diesem Beziehungsgefüge schenkt und in seiner Weigerung, an der Oberfläche der Geschehnisse stehen zu bleiben).


    Die drei werden im 14. Kapitel als „Jugendfreunde“ vorgestellt – das wäre sozusagen die formale „Oberfläche“; darunter haben wir es mit einer hochentzündlichen Mischung aus Anziehung, Abneigung, Eifersucht, Angst und unerfüllter Sehnsucht zu tun. Clarisse scheint mir an einem Abgrund zu stehen, jederzeit bereit, dort hineinzuspringen, und in Walters Augen könnte Ulrich derjenige sein, der sie zu diesem Sprung ermutigt. Soweit es um die suchende Clarisse geht, ist Moosbrugger, der Frauenmörder, nach meiner Einschätzung ein Bild für die Lust an der Zerstörung, am Untergang der „heilen Welt“, die Clarissens Träumen nicht mehr genügen will.


    Was über Walter gesagt wird, beschreibt den verzweifelten Versuch, diese Frau am Boden zu vertäuen. Ich bin gespannt, wie das ausgehen wird ...

    Danke, Bartlebooth, für den Hinweis auf den Begriff „Schlüsselroman“; da lerne ich nämlich etwas dazu.


    Lt. Wiki ist ein Schlüsselroman „ein Roman, der es nahelegt, als wahre Geschichte gelesen zu werden.“ Die Bezeichnung rühre daher, dass es möglich sei, zu diesen Romanen "Schlüssel" zu verfassen, Seiten, auf denen aufgeschlüsselt wird, wer mit welchen Personen des Romans tatsächlich gemeint sein soll.


    Meine Überlegungen gehen tatsächlich in diese Richtung, und zwar u.a. wegen der Stelle aus dem fünften Kapitel, die ich oben zitiert habe. Möglicherweise beschreibt Musil nur „Typen“ und keine realen Personen. Aber dass diese Typen sehr starke Ähnlichkeiten mit der einen oder anderen Person aufweisen, die es in der Lebenswirklichkeit gegeben haben mag, halte ich doch für wahrscheinlich. Es würde sonst auch keinen Sinn machen, den Roman am konkreten Schauplatz der österreichischen oberen Zehntausend der Vorkriegszeit spielen zu lassen.

    Bei mir kommt hinzu, dass ich momentan beruflich sehr stark eingebunden bin. Ich kann nur an Wochenenden schreiben oder an Feiertagen. Und mir ist es tausendmal lieber, wenn sich die Teilnehmer etwas Zeit nehmen, anstatt gleich wieder auf das nächste Projekt zu springen. Bartlebooth hat recht: der "Mann ohne Eigenschaften" ist ein Langzeitprojekt und wir geraten damit voraussichtlich weit in die zweite Jahreshälfte hinein.

    Die Kapitel 20 bis 44 handeln im Schwerpunkt von der Entwicklung der „Parallelaktion“. Wir beobachten Ulrichs Aufwartung beim Grafen Stallburg (Kap. 20), erfahren viel von „Diotima“, die eigentlich Hermine Tuzzi heißt und so etwas wie den „geistigen Mittelpunkt“ der großen vaterländischen Aktion darstellt (Kap. 22 – 27). Musil beschreibt Ulrichs Charakter (Kap. 28 – 35, 39), seine Verhaftung (Kap. 40) und den Verlauf der ersten „großen Sitzung“ in Diotimas Salon (Kap. 41 – 44). Ein Kapitel ist Clarisses Dämonen gewidmet (Kap. 38).


    Unendlich viel Stoff, über den es sich nachzudenken lohnt: das Dreieckverhältnis zwischen Ulrich, Clarisse und Walter beispielsweise. Oder was die merkwürdige Ankündigung besagt, wonach „Seinesgleichen geschieht“. Ich möchte mal mit der Parallelaktion beginnen. Musil beschreibt hier zweierlei, nämlich zum einen den Versuch (vor allem des Grafen Leinsdorf) der Aktion so etwas wie ein Ziel, eine Struktur und eine feste Ordnung zu geben. Und tatsächlich nimmt die Sache ja im Verlauf der ersten großen Sitzung Formen an: es werden Ausschüsse gebildet, Verantwortliche benannt, eine Resolution wird geschrieben. Zum anderen zeigt Musil aber auf, wie die Parallelaktion aus dem Ruder gerät: zunächst, mit der Erfindung des „österreichischen Jahres“, im erwünschten Sinn (Kap. 37). Später mit unerwünschten, geradezu gefährlichen Folgen: Ulrich gerät in Polizeigewahrsam (Kap. 40) und kommt nur Dank seiner Geistesgegenwart und mit Hilfe seiner einflussreichen Bekannten rasch auf freien Fuß. Das „Volk“ beginnt, eine eigene Vorstellung von der großen vaterländischen Aktion zu entwickeln. In der ersten großen Sitzung meldet sich ein General zu Wort und spricht von Aufrüstung um des Völkerfriedens willen (Kap. 44). Graf Leinsdorf hegt ja durchaus hehre Absichten. Aber er kann nicht verhindern, dass „Seinesgleichen geschieht“. Er muss bereits machtlos zusehen, wie Diotima ausgerechnet den Preußen Arnheim an die Spitze der Bewegung stellt. Diesen Prozess der gefährlichen Verselbständigung einer guten Idee hat Musil im 40. Kapitel mit seinen Ausführungen über „den Geist“ sowohl abstrakt als in den konkreten Folgen sehr anschaulich beschrieben.


    Zum zweiten Ulrichs Charakter. Ulrich ist ein selbstbewusster, furchtloser und vor allem selbstbestimmter Mensch. Er vertraut seiner eigenen Kraft (Kap. 39), lässt sich von Autoritäten nicht beeindrucken, neigt zu unangepasstem, unvorhersehbarem Verhalten. Beim Grafen Stallburg setzt er sich für Moosbrugger ein; er kommt einem betrunkenen Arbeiter zu Hilfe. Das Kapitel 40, worin von den „zwei Ulrichen“ die Rede ist, scheint mit so etwas wie das Manifest dieses Mannes zu sein: einerseits ein äußerlich angepasster Realist, ein Pragmatiker, der, innerlich unbeteiligt, die ihm zugedachte Rolle in der Gesellschaft spielt. Andererseits der zornige, wachsame und jederzeit zur Selbstaufgabe bereite Idealist, der wahrscheinlich als einziger klug genug ist, die unheilsamen Mechanismen der großen vaterländischen Idee zu durchschauen und als einziger den Mut aufbringen könnte, sich dagegen zu stemmen.


    Ein Punkt, der mich schon im ersten Kapitel beschäftigt hat, ist das Spiel Musils mit Erfindung und Wirklichkeit. Der „Mann ohne Eigenschaften“ spielt ja sozusagen mitten im Leben, im Österreich-Ungarn der Vorkriegszeit. Es werden geschichtliche Ereignisse, Schauplätze, Zusammenhänge, Namen genannt. Wie viel ist davon „wahr“, was hat Musil erfunden? Im fünften Kapitel schreibt er über Ulrich: „... sein Familienname soll mit Rücksicht auf seinen Vater verschwiegen werden...“ und suggeriert damit einen "Tatsachenbericht". In der Folge werden jedoch zahlreiche weitere Akteure mit Rang und Namen genüsslich durch den Kakao gezogen (Hermine Tuzzi beispielsweise, der Preuße Arnheim...) Musil scheint mir hier eine Art Satire aufzuführen, ein Schauspiel von Stellvertretern, bei dem hinter jedem Charakter tatsächlich ein realer Zeitgenosse (oder eine Genossin...) gestanden haben könnte. Es dürfte den damaligen Lesern nicht schwer gefallen sein, solche Bezüge herzustellen und sich dabei, je nach Betroffenheit, vor Lachen auf die Schenkel oder vor Ärger an den Kopf zu hauen.

    So, mit einiger Verspätung kann ich mich endlich – direkt aus dem Kongo (= der „Heart of Darkness“-Leserunde) – an Eurer Diskussion über den Mann ohne Eigenschaften beteiligen - und mit der tausendseitigen Textausgabe von rororo in den Händen kommt es mir vor, als hätte ich soeben das Basislager einer Himalaya-Expedition erreicht...


    Worum geht es in den ersten 19 Kapiteln? Aus meiner Sicht sind zwei Hauptthemen zu unterscheiden. Zum einen hat Musil viel über Österreich in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg geschrieben; zum anderen ist es natürlich ein Text über den "Mann ohne Eigenschaften".


    Österreich vor dem ersten Weltkrieg... Da haben wir es mit der „Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie“ zu tun, keinem beschaulichen Urlaubsland, sondern einem Staatsgebilde, dessen schiere Größe heute unglaublich erscheint. Es umfasste (neben Österreich und Ungarn) die heutigen Staaten Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Teile des heutigen Rumäniens, Montenegros, Polens, Italiens und Serbiens. Österreich-Ungarn war seinerzeit ein global player ersten Ranges, es wurde seit 1867 von Kaiser Franz Joseph I. regiert und hat mit der Kriegserklärung an Serbien vom 28. Juli 1914 den entscheidenden Schritt in den ersten Weltkrieg gemacht. Musil legt die Handlung des ersten Teils genau in die Vorkriegsepoche hinein (veröffentlicht wurde der Roman im Jahr 1930) und ich gehe einmal davon aus, dass die Frage nach dem „Warum“ für die großflächigen Gewaltorgien der Weltkriegsepoche auch bei Musil Thema sind.


    Zum „Mann ohne Eigenschaften“. Dass Ulrich von seinem Jugendfreund Walter und auch vom Autor so bezeichnet wird, heißt ja nicht, dass man über ihn nichts erzählen könnte. Wir erfahren im Gegenteil eine ganze Menge: Ulrich ist 32 Jahre alt, stammt aus wohlhabenden, bürgerlichen Verhältnissen und führt das unabhängige Dasein eines gelehrten Mathematikers, nachdem er sich zuvor als Soldat bzw. als Ingenieur versucht hatte. Ulrich ist sportlich, er kann kämpfen und schöne Frauen für sich gewinnen (wenngleich er diese nicht eben zuvorkommend behandelt). Was ihn auszeichnet ist seine Missachtung der Ideale anderer (Seite 19) und sein „Möglichkeitssinn“. Was das nun im Einzelnen bedeutet, und wie der geschichtliche Rahmen und das individuelle Schicksal Ulrichs miteinander verwoben sind, werden wir beobachten müssen. Ich habe es ähnlich wie Bartlebooth verstanden: Ulrich kennt keine festgefügten „Prinzipien“ und keine feststehenden Werte. Ihm erscheint (das hat Q-Fleck beschrieben) vieles (alles?) relativ. Er könnte kein Richter sein. Er könnte (nach einem Streit, einem Krieg, einem Verbrechen) keinem die Schuld zuweisen. Stattdessen verfiele er in endloses Grübeln, warum die Dinge so gekommen sind, wie sie sind. Bei einer Mordverhandlung würde er die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Eltern des Mörders, die Erziehung desselben in seine uferlosen Überlegungen einbeziehen.


    Was mich beunruhigt: während der ersten Kapitel habe ich Ulrich als sympathischen Sonderling erlebt, einen unangepassten Außenseiter, der den Mut hat, seine Meinung zu äußern und zu den Folgen zu stehen (so als Schüler und so als Soldat - bemerkenswert finde ich beispielsweise auch den schonungslos offenen Umgangston, den Ulrich mit seinen Freunden Walter und Clarisse pflegt). Wenn Ulrich entdeckt, dass er sich auf einem Irrweg befindet, nimmt er ohne zu Zögern Kurskorrekturen vor und unterscheidet sich damit insgesamt wohltuend von den einfachen Mitläufern aller Gesellschaftsschichten. Nach dem Plädoyer Walters und der Lektüre des „Moosbrugger-Kapitels“ bin ich mir in meinem (positiven) Urteil allerdings nicht mehr so sicher. Denn in Walters Augen ist Ulrich kein Sonderling, sondern im Gegenteil Repräsentant der breiten Masse („Das gibt es heute in Millionen.“ [...] „Das ist der Menschenschlag, den die Gegenwart hervorgebracht hat.“ – Seite 64). Seiner Ansicht nach stellen Menschen wie Ulrich eine ernstzunehmende Gefahr dar. Und Moosbrugger – das ist ein Ungeheuer in der Maske des erdverbundenen „von Gott gesegneten“ Handwerkers. Ulrich ist gerade von seiner „Verteidigungsstrategie“ angetan, die den Mord als „Unglücksfall“, als Folge gar des „verdächtigen Benehmens“ der Frau darstellen möchte. Was von außen als Mord erscheint, trägt im Innern mit einem Mal die Züge einer (begründbaren) Notwehrhandlung... Ein wenig habe ich mich gefragt, ob Walter mit seiner Einschätzung richtig liegt und man sich vor Ulrich, dem Moosbruggers Argumentationsmuster nicht fremd sind, in Acht nehmen sollte.


    Der Mann ohne Eigenschaften ist (bislang) natürlich auch ein Buch über die Moderne, über die Technikbessessen- und gläubigkeit in Europa und anderswo, über Hektik, über blindes Streben nach wirtschaftlichem und beruflichem Erfolg. Besonders schön hat mir die Schilderung der „überamerikanischen Stadt“ gefallen, ein „Ameisenbau“ mit horizontal und vertikal verlaufenden „Rohrpostmenschensendungen“ (Seite 31), weil ich hier sofort an Luc Bessons „Fifth Element“ denken musste – die Szene, in der Bruce Willis in sein Luftfahrttaxi steigt...

    Zitat

    Original von siwa


    Herausgekommen ist aber bei der Konfrontation mit den Urgewalten, zumindest in meinen Augen, nur ein ungezügeltes Ausleben von Macht und eigenen Gelüsten.


    Da hast Du natürlich recht! Was soll man davon halten, wenn einer die Köpfe seiner Gegner auf Holzpfähle spießt? Und die Eingeborenen zu seinen Ehren „mitternächtliche Tänze“ und „unaussprechliche Riten“ aufführen lässt?
    Aber das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen wird Kurtz als „Abgesandter des Mitleids, der Wissenschaft und des Fortschritts“ gepriesen (Reclam Seite 54), als geistiger Führer („er weitete meinen Horizont“, S. 136), als einer, der Gedichte verfasst und über die Liebe spricht... Am meisten irritiert mich, dass sich Marlow, der ja seine fünf Sinne beisammen zu haben scheint, nicht entsetzt abwendet, sondern im Gegenteil über Kurtz´ Tod hinaus loyal an seiner Seite steht... (Seite 152).


    Ich habe jetzt eine neue "Theorie", die vielleicht ein bisschen sehr weit hergeholt erscheint, zur Diskussion möchte ich sie trotzdem stellen. Am merkwürdigsten ist mir nämlich die Beschreibung erschienen, die Marlow vom nächtlichen Zusammentreffen mit Kurtz abgibt : „Ich kam an ihn, und wenn er mich nicht kommen gehört hätte, so wäre ich wohl auch über ihn gestürzt; aber er stand noch zur rechten Zeit auf. Er erhob sich, unsicher, lang, blaß, undeutlich, wie ein von der Erde ausgeatmeter Dunst, und schwankte leicht nebelig, stumm, vor meinen Augen...“ (Seite 140). Und dann die eigenartige Formulierung, dass „ganz Europa“ zur Entstehung von Mr. Kurtz beigetragen hätte (Seite 108). Schließlich – die verschiedenen Berufe, die Kurtz im Lauf der Erzählung zu haben scheint: Maler, Dichter, Journalist, Musiker, Stationsleiter, Politiker...


    Was wäre, wenn es sich bei Kurtz gar nicht so sehr um einen Menschen (aus Fleisch und Blut sozusagen) handelt, sondern um eine Idee (beim Vergleich mit dem Nebel hatte ich zunächst an ein Gespenst gedacht...)? Kurtz könnte vielleicht für eine Art europäischen "Kolonialgeist" stehen – das würde Marlows Loyalität erklären, die Kette der Berufe und natürlich auch die „Auswüchse“, von denen Du gesprochen hast.

    Die letzte Bemerkung von siwa hat mich ins Grübeln gebracht. Deshalb komme ich noch einmal auf Mr. Kurtz zurück. Mir ist klar, dass Heart of Darkness eine sehr außergewöhnliche Erfahrung beschreibt. Der weiße Fleck auf der Landkarte, zu dem Marlow sich aufgemacht hat, könnte sich nicht stärker seiner Herkunft unterscheiden: statt Kirchenglocken hören die Besatzungsmitglieder nächtliches Trommelgedröhn; Antilopenpriester führen Zaubertänze auf; das Klima, Nilpferde, Alligatoren, Stammeskrieger, die im Unterholz lagern, stellen eine jederzeit mögliche todbringende Gefahr dar. Eine kleine Unaufmerksamkeit des Kapitäns hätte genügt und die Mannschaft wäre entweder in den Mägen der vorzeitlichen Tierwelt oder auf den Holzspießen eines ausgehungerten Kannibalenstamms gelandet... Es ist klar, dass dieser Blick in die Finsternis „gewöhnlichen“ Menschen verwehrt bleibt. Marlow erklärt das seinen Schiffskameraden mit deutlichen Worten: „Ihr könnt es nicht verstehen. Wie solltet ihr auch, – mit festem Boden unter euren Füßen, von freundlichen Nachbarn umgeben, die bereit sind, euch schön zu tun oder in den Rücken zu fallen, fröhlich dahintänzelnd zwischen dem Fleischer und dem Polizisten, im heiligen Abscheu vor Skandal, Galgen und Irrenhaus – wie könnt ihr euch vorstellen, in welche urweltlichen Abgründe die ungehinderten Füße einen Mann tragen mögen, einfach infolge der Einsamkeit – der völligen Einsamkeit, ohne einen Polizisten – und des Schweigens, des völligen Schweigens, wo keine warnende Stimme eines Nachbarn zu hören ist, die von öffentlicher Meinung flüstert? Diese Kleinigkeiten machen den großen Unterschied aus. Sind sie einmal nicht mehr vorhanden, dann müßt ihr zu eurer eigenen Kraft Zuflucht nehmen, zu eurer eigenen Glaubensstärke.“ (Reclam Seite 106). Was Marlow hier sagt heißt ja: die Menschen leben in einer Scheinwelt, und von den Schrecknissen der Wirklichkeit machen sie sich keine Vorstellung.


    Dieser unverstellte Blick auf die Wirklichkeit ist aber nur ein Aspekt von Heart of Darkness. Um ihn zu schildern hätte es Mr. Kurtz nicht bedurft. Letzterer ist aber – anders als die Schiffsbesatzung oder die Angestellten der Handelsfirma – so etwas wie die Zentralfigur der Erzählung. Deshalb versteht man m.E. das Buch nicht, wenn nicht klar ist, worin das Besondere und Beeindruckende dieses charismatischen Anführers besteht.


    Inzwischen denke ich – aber da kann ich auch falsch liegen – dass Conrad einen Menschen schildern wollte, der den Blick auf die Schrecknisse der Wirklichkeit gewagt hat und diesen nicht ausgewichen ist. Das tut übrigens auch Marlow. Und das haben – wie in der Einleitung beschrieben – die Römer bei der Eroberung Britanniens getan („They were men enough to face the darkness“, Reclam Seite 10). Im Unterschied zu den übrigen Charakteren des Buches hat Kurtz aber damit begonnen, sich mit der Finsternis, die ihn umgibt (und die zugleich eine Finsternis im Innern ist) zu arrangieren. Er hat ihr sozusagen den Kampf angesagt. Die sich bietende Gelegenheit zum Rückzug oder zur Flucht schlägt er aus. Als Marlow das nächtliche Gespräch zwischen dem Anführer der Eldorado Expedition und dessen Neffen belauscht, stellt er fest: „Mir aber schien es, als sähe ich Kurtz zum ersten Male. Es war ein deutliches Bild: der Einbaum, vier paddelnde Wilde – der einsame weiße Mann, der plötzlich dem Hauptquartier den Rücken kehrte und damit auch der Ablösung und allen Gedanken an die Heimat – vielleicht; das Gesicht den Tiefen der Wildnis zugewandt, seiner leeren und trostlosen Station. Ich kannte den Beweggrund nicht.“ (Reclam Seite 68). Möglicherweise ist es Conrad um die Schilderung einer besonderen Unerschrockenheit, eines Kampf- und Abenteuergeistes gegangen, der den meisten Menschen abgeht und der ein tieferes (aber unbequemeres) Verständnis der Wirklichkeit enthält, als es eine Tageszeitung oder ein Schulbuch vermitteln könnten.

    Der dritte Teil – das muss ich schon zugeben – wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Was ist hier geschehen? Ein arbeitsloser Kapitän tritt in den Dienst einer europäischen Handelsfirma. Er erhält den Auftrag, ein Dampfschiff den Kongo hinauf bis zum äußersten Vorposten seines Arbeitgebers zu führen. Über den Leiter des Postens sind merkwürdige Gerüchte im Umlauf. Man entdeckt, dass der todkranke Mr. Kurtz ein geheimnisvolles Regime über die ansässigen Stammesbewohner ausübt. Trotz einigen Widerstandes gelingt den Europäern die Rückreise. Kurtz stirbt noch während der Fahrt. Marlow, der Kapitän, fühlt sich Kurtz´ Andenken verpflichtet; er sucht die Verlobte des Verstorbenen auf und berichtet ihr von dessen Tod.


    Heart of Darkness handelt m. E. von einer Grenzerfahrung. Marlow kehrt von seinem Kommando als anderer Mensch zurück. Aber die Gründe für diese Veränderung sind schwer zu beschreiben. Obwohl das zweite und auch das dritte Kapitel nahezu ausschließlich von Kurtz handeln, bleibt der Stationsleiter ein rätselhafter, unergründlicher Mensch. Seine konkreten Absichten oder Pläne bleiben im Dunkeln, Joseph Conrad belässt sie im Dunkeln. Wir erfahren nicht, was dieser Kurtz denkt. Marlows Bericht handelt, soweit ich sehe, ausschließlich von der Wirkung des Gesagten: auf den russischen Abenteurer („Kurtz weitete meinen Horizont“), auf die einheimischen Stammesbewohner („sie beteten ihn an“), auf Marlow („Ziel meines Lebens“). Als Kurtz aus seiner Behausung getragen wird und zu den Eingeborenen spricht, sagt Marlow nur: „Aus der Ferne drang eine tiefe Stimme zu mir herüber; er muss geschrien haben“ (Reclam, Seite 129). Von Kurtz´ Briefen, seinen Monologen werden nur Fragmente, Stichworte mitgeteilt: da geht es um hochtrabende Pläne, um Projekte, um die Liebe... Entscheidend ist nicht, was gesagt wird. Es geht um das Wie.


    Marlow ist in Afrika der „Finsternis“ begegnet und möglicherweise steht dieser Begriff für eine Welt, die von geheimnisvollen Naturmächten regiert wird, der die Menschen ausgeliefert sind und aus der sie ebenso spurlos verschwinden, wie sie erschienen sind. („Nach ein paar Tagen brach die Eldorado Expedition in die geduldig wartende Wildnis auf, die sich hinter ihnen verschloss, so wie sich das Meer über einem Taucher schließt.“) So hält auch der Tod nur noch Schrecknisse bereit und das ist m. E. der Alptraum, den Marlow von seiner Reise mit nach Hause nimmt.

    So – jetzt bin ich auch am Ende des zweiten Kapitels und damit an der geheimnisvollen „inneren“ Station angelangt... Der Mittelteil des Buches handelt von nichts anderem als der quälend langsamen, kräftezehrenden, ahnungsvoll-gefährlichen Reise Marlows zu Kurtz. Der Erzähler hat seine Einstellung gegenüber dem ungewöhnlichen Leiter des Vorpostens offenbar radikal geändert: „Hang Kurtz“ schießt es ihm noch in der Mitte des ersten Kapitels durch den Kopf. Erst an dessen Ende gerät er ins Grübeln. Zu Beginn des zweiten Kapitels sieht Marlow der baldigen Begegnung schon „erwartungsvoll“ entgegen, bekennt später, dass er die Reise im Grunde ausschließlich Kurtz´ wegen unternimmt. Am Ende, kurz vor der Ankunft an der inneren Station, erfahren wir schließlich von Marlows extremer Niedergeschlagenheit und Trauer angesichts der Befürchtung, dass Kurtz tot sei – er meint zu diesem Zeitpunkt tatsächlich, den Glauben verloren zu haben, das „Ziel seines Lebens“ nicht mehr erreichen zu können.


    Was hat es mit diesem Mr. Kurtz auf sich, der sich in kürzester Zeit zum zentralen Bezugs- und Orientierungspunkt, zum „Fixstern“ auf Marlows Reise in den Kontinent entwickelt hat? Ein bis dahin unbekannter Angestellter einer belgischen Handelsfirma, ein Menschenschinder wie jeder andere Europäer dort auch? Warum vermutet Marlow ausgerechnet bei Kurtz die Antwort auf seine zentralen Fragen? Die Zusammenhänge sind mir an dieser Stelle noch nicht vollständig klar.


    Und was ist das für eine Reise, zu der sich Marlow aufgemacht hat? Eine Erkundungsfahrt auf einem der größten Flüsse der Erde, dem zweitgrößten Strom Afrikas, zweifellos. Aber zugleich ist es eine Reise „zurück“, in die Erd- und Menschheitsgeschichte, zu den Anfängen der Zivilisation. An einen Ort, dessen Naturgewalt so mächtig von allen Dingen Besitz ergreift, dass dort alle Errungenschaften des Menschen, der Technik und der Kultur unbedeutend und vergänglich erscheinen (so wie Towsons Werk über die maximale Belastbarkeit von Wasserfahrzeugen allmählich in einer Bambushütte vermodert). Und schließlich: eine Reise nach innen, in die eigene Innenwelt, die nicht mehr vom Verstand geleitet oder beherrscht wird. An einen Ort, wo undurchsichtige Gesetze herrschen. Was verbirgt sich hinter der Nebelwand? Warum fressen uns die Kannibalen nicht auf? Während Marlow mit aller Kraft versucht, sein Schiff nicht zu beschädigen, es „an der Oberfläche“ zu halten, dringt er, so scheint es, zugleich unaufhaltsam in darunter liegende Schichten vor. Möglicherweise ist der geheimnisvolle Mr. Kurtz auf diesem Weg zu weit gegangen.

    Zitat

    Original von Nofret78:


    Menschenverachtend meiner Meinung nach.


    Du sprichst da, Nofret, natürlich einen wichtigen Aspekt an, nämlich die Frage, mit was für einer Art von „Geschichte“ wir es hier zu tun haben. Und da ist „menschenverachtend“ m. E. ein treffender Ausdruck. Mich haben, ehrlich gesagt, manche Details an jene Scheußlichkeiten erinnert, die man sonst nur mit deutschen Konzentrationslagern in Verbindung bringt: die in Ketten gelegten, bis auf die Knochen abgemagerten Arbeiter; die Grube, in die sich dieselben offenbar zum Sterben zurückziehen; die Aufseher, die versuchen, bei all dem Leid, das sie dort anrichten, „Haltung“ zu bewahren... („Nahe beim Gebäude traf ich einen Weißen, der so unerwartet elegant gekleidet war, dass ich ihn zunächst als eine Art Vision betrachtet hatte.“ Seite 37)


    Nach allem, was man heute über die Raubzüge europäischer Kolonialmächte in Afrika und anderswo weiß, über deren nimmersatte Gier nach Bodenschätzen und Einflussgebieten, dürfen die Schilderungen Marlows aber wohl getrost als Tatsachenbericht verstanden werden. Man kann davon ausgehen, dass die Wirklichkeit schlimmer war. Die Menschen Afrikas leiden heute noch daran. Darüber hinaus wurde das darin liegende Unrecht zu Conrads Zeiten noch viel weniger erkannt, als das heute der Fall ist – allerdings: Conrad steht eindeutig auf Seiten der Kritiker. Ein „Durchschnittszeitgenosse“ hätte die sterbenden Menschen wohl nicht einmal bemerkt, Marlow erstarrt vor Entsetzen (S. 37 „While I stood horror-struck, one of these creatures rose to his hands and knees and went off on allfours towards the river to drink“ Seite 37). Und der Satz, den Du zitierst (der mit dem „abgerichteten“ eingeborenen Weib), stammt ja nicht von Marlow, sondern von jener eleganten „Vision“, dem ersten Buchhalter der Handelsfirma, der die Not um ihn herum nur insofern bemerkt, als sie ihn in seiner Konzentration beeinträchtigt („Das Stöhnen des Kranken lenkt meine Aufmerksamkeit ab. Und ohne sie ist es extrem schwer, sich bei diesem Klima gegen Schreibfehler zu schützen.“ Seite 39).


    Die eigentliche Frage scheint mir zu sein, wie lange es Marlow gelingt, „außerhalb“ des Systems zu bleiben und nicht von den europäischen „Pilgern“, wie er sie nennt, korrumpiert zu werden.


    Ansonsten hoffe ich natürlich sehr, dass Du und das Buch noch zueinander finden werdet! Ich selbst muss mich leider ("der lieben Arbeit wegen") bis zum nächsten Wochenende wieder vom Herzen der Finsternis abmelden...