Wenn ich es richtig sehe, habe ich mich in dieser Runde am 7. August 2009 zum letzten Mal zu Wort gemeldet – ein Jahr und fünf Monate sind jetzt darüber weggegangen. Wie oft mir seitdem bei der nächtlichen Lektüre Musils die Augen wie Garagentore zugefahren sind und wie oft ich mit dem „Mann ohne Eigenschaften“ Schlimmeres vorhatte, als ihn auf ewig an irgendeinem unzugänglichen Ort meines Bücherregals zu deponieren, habe ich nicht gezählt. Immerhin – seit gestern bin ich „durch“ oder, um im Bild meines ersten Beitrags zu bleiben, auf dem ersten Gipfel angelangt und zurückblickend sind Stolz und Erleichterung meine vorherrschenden Gefühle. Ich hasse halbe Sachen. Und am Schlimmsten sind halbangefangene, halbausgelese Bücher.
Worum geht es im zweiten Buch des Mannes ohne Eigenschaften? Geschildert wird die Bestattung von Ulrichs Vater; seine Begegnung mit der Schwester Agathe, die eigentlich eine Vereinigung zweier Seelenverwandter darstellt; der Versuch Clarissens, mit Ulrichs Hilfe Moosbrugger im Irrenhaus aufzusuchen; schließlich der große Empfang im Hause Tuzzi.
Die „Parallelaktion“ ist inhaltlich keinen Millimeter weiter gekommen. Im Gegenteil: die Unfähigkeit ihrer Akteure, dem Vorhaben Kontur zu geben, macht sie zur Projektionsfläche diffuser Ängste in der Bevölkerung und tatsächlich scheint sich eine einflussreiche Gegenbewegung zu mobilisieren, die sich sowohl auf der Straße (Erstes Buch, 120. Kapitel), als auch im Salon Diotimas (Zweites Buch, 34. – 38. Kapitel) bedrohlich Gehör verschafft.
Musils Buch handelt von der Zeit vor Ausbruch des ersten Weltkrieges. Von Menschen, die orientierungslos in einem unendlichen Meer der Möglichkeiten herumtreiben. Es handelt davon, was geschieht, wenn sich diese Menschen – ohne Vorstellung davon, was sie wirklich wollen - nach „einer starken Hand“ sehnen, wenn sie ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit durch Halbwahrheiten und Hass auf das Fremde Größe verleihen wollen. Beispielhaft wieder das 120. Kapitel, in dem es um die Demonstration gegen die Parallelaktion geht: „Die einen, an die er sich wandte, erwiderten, dass eine große Kundgebung der Staatstreue im Gange sei, die anderen glaubten gehört zu haben, dass sich die Kundgebung gegen gewisse allzu betriebsame Patrioten richte, und ebenso geteilt waren die Meinungen in der Frage, ob die alle beherrschende Erregung eine Erregung des deutschen Volkes über die Nachgiebigkeit der Regierung sei, welche die slawischen Wünsche begünstige, was die meisten glaubten, oder ob die Erregung regierungsfreundlich sei und zu einem Aufmarsch aller gutgesinnten Kakanier gegen die unaufhörlichen Unruhen auffordere“ (S. 626): Der kleine, gelehrte General (meine persönliche Lieblingsfigur in diesem zweiten Teil), sieht im 37. Kapitel (Seite 1020) die Folgen voraus, wenn in dieser Situation für „Ordnung“ gesorgt wird: „Wenn Sie mir die Zeitungen, den Rundfunk, die Lichtspielindustrie und vielleicht noch ein paar andere Kulturmittel überantworten, so verpflichte ich mich ... aus den Menschen Menschenfresser zu machen.“
Aber der bevorstehende Krieg und seine Entstehung sind meines Erachtens nicht Hauptthema des Buches. Hauptthema ist die alles überlagernde Frage Ulrichs (und Agathes), wie man leben soll. Die Frage nach der richtigen, eigenen Moral. Der Richtschnur für das eigene, erfüllte Leben. Nach nichts anderem sind die beiden in leidenschaftlicher Suche und Sehnsucht unterwegs. Sie wären bereit, für die Antwort auf diese Frage das eigene Leben zu opfern.
Hauptaussagen zu dieser schwierigen Suche werden im 12. und auch in den letzten Kapiteln gemacht. Das 12. Kapitel enthält nichts weniger als Ulrichs „Glaubensbekenntnis“: „Du hast mich gefragt, was ich glaube! Ich glaube, man kann mir tausendmal aus den geltenden Gründen beweisen, etwas sei gut oder schön, es wird mit gleichgültig bleiben, und ich werde mich einzig und allein nach dem Zeichen richten, ob mich seine Nähe steigen oder sinken macht. Ob ich davon zum Leben geweckt werde, oder nicht. Ob bloß meine Zunge davon redet und mein Gehirn oder der strahlende Schauder in meiner Fingerspitze. Aber ich kann auch nichts beweisen. Und ich bin sogar überzeugt, dass ein Mensch, der dem ernsthaft nachgibt, verloren ist. Er gerät in Dämmerung. In Nebel und Quatsch. In gliederlose Langeweile. (...) Ich glaube also und glaube nicht!“ Im 38. Kapitel heißt das: „Es gibt kein tiefes Glück ohne tiefe Moral. Es gibt keine Moral, wenn sie sich nicht von etwas Festem ableiten lässt. Es gibt kein Glück, das nicht auf einer Überzeugung ruht.“ Und: „Ein Wesen ist der Mensch, das nicht ohne Begeisterung auskommen kann. Und Begeisterung ist der Zustand, worin alle seine Gefühle und Gedanken den gleichen Geist haben.“
Gefühle und Gedanken in einer stimmigen Moral zu vereinen, das ist es, wohin der Mann ohne Eigenschaften sich aufgemacht hat. Ohne die Antwort darauf zu finden. Aber es ist gerade nicht Absicht des Autors, einfache bzw. fertige Wahrheiten zu präsentieren. Stattdessen hat sich Musil, gemeinsam mit allen Akteuren seines Romans, auf eine Art Suche begeben, die allerdings an manchen Stellen große Anforderungen an die Geduld und auch den Intellekt des Lesers stellt: Selbst die Haupt(neben-)personen des Romans (Graf Leinsdorf, Tuzzi, der General) können den unfertigen, fragmentarisch-skizzenhaften, rätselvoll-tastenden und teilweise an einem geistigen Hochreck erdachten, erträumten und konstruierten Gedankengebäuden des Autors (seine Hauptperson Ulrich ist Mathematiker!) intellektuell zum Teil nicht mehr folgen. Siehe Graf Leinsdorf, der im 37. Kapitel feststellen muss: „Das ist mir zu hoch!“
Es lohnt sich trotzdem, das Buch zu lesen. Und ich bin neugierig auf die folgenden Teile. Aber jetzt brauche ich erst einmal ein wenig Abstand zum Mann ohne Eigenschaften...
Vielen Dank noch an den Themenstarter Bartlebooth, für seinen Durchhaltewillen und die gelungenen Zusammenfassungen der letzten Abschnitte!