Beiträge von magali

    OT: Lady Bag 2013


    Lady Bag lebt in London auf der Straße. Sie ist Alkoholikerin, ihr Blick auf die Welt dementsprechend unscharf. Freunde hat sie nur, wenn sie eine volle Flasche hat. Behörden meidet sie. Die konnten sie ins Gefängnis sperren, sind aber nicht einmal fähig, ihren wahren Namen korrekt zu schreiben. Ansonsten gibt es noch jede Menge Pisser, die sie anbetteln muß und die dann noch die Unverschämtheit haben, ihr gute Ratschläge zu geben.


    Ihre einzige Freundin ist ihre Hündin Electra, ehemaliger Star von Hunderennen, die inzwischen in die Jahre gekommen ist wie Lady Bag und böse an Arthritis leidet. Electra ist die einzige, mit der Lady Bag ehrlich ist, im Gegenzug darf Electra ihr auch die Meinung sagen. Electra ist genauso wenig auf den Mund gefallen wie Lady Bag.
    Das Leben ändert sich schlagartig, als Lady Bag eines Tages die Stimme des Teufels hört. Er spricht nicht zu ihr, nicht einmal der Teufel achtet auf eine Pennerin, sondern zu einer anderen Frau. Lady Bag beschließt, dem Teufel ins Handwerk zu pfuschen. Sie hat ihre Gründe dafür. Allerdings muß sie dazu auf die Pfade des Teufels begeben und das hat üble Folgen.


    Lady Bags Kreuzzug gegen den Teufel ist ein äußerst spannender Krimi, eine scharfsichtige Beschreibung des Lebens von Betroffenen der Nitrifizierung und einer nach ökonomischen Regeln funktionierenden Klassenjustiz und zugleich die klassische Geschichte einer Frau, die sich einer falschen Liebe wegen ruiniert hat. Schrilles Großstadtleben, allgegenwärtige Gewalt, Träume vom Luxusleben und die Kosten sowohl von falschen Träumen wie vom Luxus, all das packt Cody in eine immer rasanter werdende Abfolge von Schrecken auf Lady Bags Pfad, der durchaus in der Hölle enden kann.


    Nicht nur die Ereignisse sind haarsträubend, auch die Art, in der Lady Bag erzählt, ist es. Ihre Sprache ist voll Slang, aber ihre Beschreibungen des Teufels und seines Wirkens sind alttestamentarisch geprägt und von entsprechender Wucht. Nichts davon wirkt lächerlich, im Gegenteil wird es immer unheimlicher, weil man sich der Bildhaftigkeit nur schwer entziehen kann. Biblisch sind der Zorn, das Leid, das Leiden, das vorgeführt wird, die Abgründe von Gier, Unrecht, schierer Verlassenheit, das Elend der Menschen.


    Es ist eine traurige Geschichte, mit wenig Hoffnung, zugleich überraschend warm, völlig unsentimental, mit Humor, aber kaum Komik. Es ist ein Roman über das moderne London, das die Protagonistin auf ihre ganz spezielle Art vorstellt.
    Raffiniert wird die Geschichte darüberhinaus, weil Lady Bag selbst berichtet und es der Autorin gelingt, bis zuletzt Zweifel zu streuen, ob es denn überhaupt stimmt, was ihre Heldin erzählt, ob sie lügt, alkoholgeschwängerten Fantasien nachhängt oder sogar als Folge ihres Straßenlebens den Verstand verloren hat.
    Mehr als ein zeitgenössischer Krimi, ist Lady Bag ein zeitgemäßer Krimi, in dem er tatsächliche Probleme überzeugend lebensecht darstellt.

    Bitte nicht erschrecken wegen des angegebenen Preises, das Buch gibt es sebstverständlich zum normalen TB-Preis überall außer bei amazon, das sein Herumgezicke mit Harper Collins offenbar noch nicht überwunden hat.
    :rolleyes

    Erstmal erschienen 1993


    Ann lebt in einer Kleinstadt unweit von London. Wegen eines lästigen Infekts muß sie das Bett hüten. Sie vermißt die Schule nicht, aber immer zuhause bleiben ist langweilig. Als sie zufällig entdeckt, daß Besucher zum Gelände der heruntergekommenen Hexwood Farm kommen, das Tor passieren, die Farm aber nicht mehr verlassen, wird Ann neugierig. Kaum geht es ihr ein bißchen besser, versucht sie herauszufinden, was sich da abspielt. Ihr Versuch führt sie in einen struppigen Baumgürtel unweit der Farm und der Hauptstraße, der eigentlich altvertraute, abfallübersäte und recht plattgetrampelte Ort, wo die Kinder spielen.
    Doch der Baumgürtel hat sich verändert, er wirkt größer, grüner, wie ein richtiger Wald. Ann begegnet seltsamen Wesen und seltsamen Menschen. Am seltsamsten ist, daß der Wald und seine Bewohner jedesmal anders sind, wenn Ann sie wiedertrifft. Sie sind jünger oder älter, scheinen mehr zu wissen oder vergessen zu haben. Die Jahreszeiten verändern sich und Topographie des Walds. Doch auch Ann bliebt nicht immer dieselbe und bald muß sie sich fragen, wer sie wirklich ist.


    Währenddessen muß der Rat der Fünf Regierenden der Milchstraße eine Krise bewältigen. Offenbar wurde eine uralte Maschine, die aus Sicherheitsgründen versiegelt und auf der abgelegenen Erde an einem Ort namens Hexwood deponiert wurde, reaktiviert. Diese Maschine, der Bannus erzeugt ein Kraftfeld, das seine Umgebung verändert. Das Kraftfeld breitet sich aus, ihn abzuschalten erweist sich als überraschend schwierig, weil der Bannus nicht mehr auf dem Farmgelände ist, sondern sich außerhalb bewegt, ist, niemand aber sagen kann, wie er aussieht, von seiner Fähigkeit, andere zu manipulieren gar nicht anzufangen.


    Das sind nur die beiden Hauptstränge einer großartig verwickelten Fantasy-Geschichte, die einer beim Lesen sehr viel Konzentration abfordert. Jones erzählt zudem nicht chronologisch, man bekommt Schnipsel von verschiedenen Geschichten, verschiedenen Leben, Rückblenden, Visionen, Träumen und Wünschen, scheinbar ungeordnet. Irgendwo dazwischen steckt die Realität. Immer wieder begegnet man den gleichen Figuren, aber das einzige, was sicher ist, ist, daß niemand der oder die ist, die sie zu sein glauben. Der Bannus beeinflußt sie, ihre Wünsche und Träume werden lebendig. Zugleich spielt sich eine tödliche politische Intrige hohen Ranges ab. Wer welche Interessen hat und wie sie umgesetzt werden, wer wessen Verbündete sind, wer Freund, wer Feind ist, bleibt lange im Dunkeln. Hochtechnologie und Zauber, Drachen und Kraftfelder, Telepathie und elektronische Telekommunikation, Autos und Schwerter kommen ebenso darin vor wie der Hof König Arthurs, die Gralsgeschichte und die Schrecken moderner Diktaturen samt dem Leid, das sie verursachen.


    Erzählt wird sehr dicht, die Spannung ist immer gleich hoch, egal, ob man im Wald oder in der galaktischen Regierungszentrale sitzt, ob man mit Mordion versucht, das Geheimnis seiner Herkunft zu enträtseln oder den Fünf Regierenden folgt, wenn sie sich aufmachen, den Bannus abzuschalten. Die vorgeblich ungeordnete Erzählweise läßt eine als Leserin sozusagen Teil des Kraftfelds werden.
    Die Mischung von klassischer Fantasy mit einem Quentchen Technologie ist ausgezeichnet gelungen für Fantasy-Fans. Wer SciFi sucht, wird eher enttäuscht sein, weil technische Details oder herrschende physikalische Gesetze nebelhaft bleiben. Die politische Intrige und die Rolle des Bannus werden mit einem wachen Augen für die Realitäten geschildert, daß das Ende eine Spur zu freundlich ist, verzeiht man aber, weil es so überzeugend geschildert ist und Jones überdies mit einer letzten Wendung aufwartet, die ebenso raffiniert wie schlüssig ist und das Schillern zwischen Technik und Magie, das den ganze Roman durchzieht, noch einmal betont.


    Hexwood gehört zu den besten Romanen von Jones, mit wunderbaren Rätseln, vielen überzeugenden Figuren, egal, ob positiv oder negativ und einer sehr spannenden Verbindung von Fantasy und SciFi.

    Winternähe – Mirna Funk


    Lola ist Anfang dreißig, ihr Talent zum Fotografieren hat ihr eine Stelle in einer Firma für Bilddatenbanken eingebracht. Sie lebt in Berlin, ihr soziales Leben spielt sich altersgemäß in Kneipen, Restaurants, Bars und Discotheken ab, natürlich mit einem ‚Szene-‚ davor. Wesentlich für dieses Leben ist die digitale Welt, man chattet, dated über WhatsApp und Tinder, hat mindestens einen Facebook-Account. Skype und Smartphone bedient man ohne hinzusehen. Eine moderne Welt ist das, durchtechnisiert, glatt, glänzend, immer funktionstüchtig.


    Als Antisemitismus in diese Welt einbricht und ausgerechnet Lola das Opfer wird, ist sie starr. Damit hat sie nicht gerechnet, nicht in dieser Welt, nicht in dieser Zeit und ganz bestimmt nicht mit sich als Zielscheibe.
    Von da an sieht Lola ihre Welt anders, Antisemitismus grassiert, aber niemanden scheint das zu stören. Lolas schlechte Erfahrungen fördern auch ihre eigene Befindlichkeit zutage. Probleme mit ihrer Familie, mit einer Prägung als Enkelin von Holocaust-Überlebenden, einer Kindheit in der DDR samt Vater als Republikflüchtigem und einer Mutter, die sich offenbar bedenkenlos scheiden ließ, dem Ende der DDR und unentwegt der Frage des Jüdischseins.


    Funk packt sehr viel in dieses Buch. Zusammengehalten wird das durch die Hauptfigur. Sie ist die Nabe, von der die Streben ausgehen und das Rad bilden, das sich immerzu dreht. Sich jüdisch fühlen, aber den religiösen Gesetzen nach keine Jüdin sein, weil ihre Mutter es nicht war. Sich für Israel einsetzen, mit der Last der spezifischen deutschen Vergangenheit zurechtkommen. Tragen, daß sie von ihrem Vater verlassen wurde. Lola schreibt immer wieder Briefe an ihn, voller Vorwürfe und Anklagen, die sie aber nie abschickt.
    Eine Liebe zu einem Israeli führt Lola nach Israel, mitten in den Krieg. Sie flieht nach Thailand, um Frieden zu finden, die Autorin läßt sie eine Überraschung erleben.


    Auch als Leserin wird man überrascht. Lola steht nie still, ihre Gedankenmühle rattert unablässig. Sie bewegt sich viel saust hierhin, dorthin, hält es nur in Phasen tiefer Niedergeschlagenheit mal auf einer Stelle aus. Sie braucht Geräusche, Töne, Worte, laute Musik, leidet zugleich unter dem Lärm – die Beschreibungen des irrsinnig lauten Tel Aviv sind faszinierend – und ist lange doch nur von einem Geräusch besessen, den Raketen auf Israel.
    Die Gefühle sind sehr stark, Sexszenen ausgebreitet. Doch sie haben eine Funktion, sie sind Bewegung wie Lola Bewegung ist, ihre Art, Nähe zu suchen und zu spüren und lebendig zu sein.


    Angelegt ist die Geschichte als Roman über Antisemitismus heute und offenbar wird sie auch so gelesen. Tatsächlich ist sie es nicht. Das liegt an der falschen Voraussetzung dafür. Lola stellt Fragen, das soll sie auch, denn es geht hier um die Beantwortung der Fragen. Aber sie stellt die falschen. Sie stellt nur Fragen, auf die Antworten vorgegeben und dementsprechend längst platt gewalzt sind.


    Lola leidet, weil sie Nabelschau betreibt. Die Welt außerhalb von Lola existiert nicht und wenn doch, so muß sie nach Lolas Regeln funktionieren. Die Romanfigur ist keine aufklärerische Heldin im Kampf gegen Antisemitismus, sondern ein verletztes Kind, das am liebsten alte Wunden leckt und heult. Sie klammert sich an ein vermeintliches Paradies und wird böse, weil sie entdecken muß, daß es kein Paradies gibt und vor allem keine Ruhe.


    Funk läßt sich eine Menge einfallen, um Antisemitismus und die Schwierigkeiten mit Israel zu belegen. Aber es wird zu kurz gedacht, sie präsentiert nur einen Ausschnitt eines Grundproblems, das tatsächlich Rassismus heißt. Antisemitismus ist nur eins seiner Gesichter. Politik gibt es nicht in diesem Buch, dabei hat es ein hochpolitisches Thema. Das ist nicht Israel, das in diesem Roman in einem nahezu luftleeren Raum existiert, in dem es keine großmachtpolitischen, wirtschaftspolitischen, geo-strategischen Zusammenhänge, aber auch keine moderne israelische Gesellschaft mit ihren Problemen, gibt, sondern nur das Erbe des Holocaust und ‚Palästinenser‘.


    Das eigentliche Thema ist die Beschreibung einer Vertreterin einer Generation, die mit hochentwickelten technischen Möglichkeiten ausgerüstet ist, sie aber zu nichts anderem einsetzen kann als zum Spielen. Funks Figuren leiden, aber sie leiden aus Unreife, an einem Kinderglauben, an den Folgen von Hochglanzversprechungen aus Scheinwelten. Sie ertrinken in Informationen über alles und jedes und können sie doch nicht sortieren.
    Für alles, was bewiesen wird, gibt es im Internet gleich einen Gegenbeweis, sagt Lola einmal sinngemäß. Für sie ist die Ausrede, sich um gar nichts zu kümmern, sondern sich ins private Elend zurückzuziehen. Leiden ist so süß und verlangt einer doch nichts ab.


    Die ‚politischen‘ Diskussionen sind ebenso nur ein Spiel. Es wird alles aufgeboten, was man sich an Pro und Kontra an die Köpfe werfen kann, stundenlang, tagelang, zwei Generationen lang, ohne daß sich etwas ändert. Dazu müßte man nämlich einen Standpunkt einnehmen und eben das ist, was Lola scheut. Auch das gehört zu dieser Figur.
    Am Ende darf eine Palästinenserin den erlösenden Satz sagen, mitten in Bangkok, anläßlich irgendeines angesagten Kunst-Events. ‚Wir haben eine Wahl.‘


    Leider ist der Satz keineswegs erlösend, sondern wird sofort verwässert, weil daraus eine Moral abgeleitet wird, die in Gut und Böse zerfällt. Wer bestimmt, was gut oder böse ist, wird nicht gefragt. Mit der Wahl und der Moral sind Lola, die sich als Jüdin fühlt, und ihre palästinensische Bekannte in Bangkok mit dem Nachdenken ohnehin zuende und gehen einträchtig in einen Schönheitssalon zu einem ‚Facial‘. Mädels von heute eben.


    Dieses Buch ist umwerfend und eine Katastrophe gleichermaßen. Funk schreibt am Thema vorbei, daß man schreien könnte und bietet doch so viel zum Nachdenken, daß man Tage diskutieren kann. Es ist kurzsichtig und beschränkt und öffnet doch den Blick, es ist dumm und klug, zum Schreien ärgerlich und dann zum herzen schön.
    Nicht wenig dazu trägt die Sprache bei. Es ist ein eigener Ton, ein eigenes Vokabular, es gibt ganz neue Blicke auf Menschen, Gegenstände, Landschaft. Hier sucht man vergeblich die wunderschönen Satzgebäude, die vor allem jüngere AutorInnen so perfekt zu bauen gelernt haben, daß sie fast vergessen haben, auch etwas damit zu sagen.
    Dieses Buch ist anders. Es erfüllt, macht satt. Es ist eine Lese – und Denkerfahrung, das seinseglichen sucht.
    Es ist ein Buch, ein richtiges Buch.

    :lache


    Auf der Seite des Deutschen Jugendliteraturpreises steht noch die Nominierungsliste von diesem Jahr.
    Da kann man die restlichen Titel sehen.
    Ich weiß nicht, wann sie abgeräumt wird, also am besten bald ansehen.


    Spannend fand ich, daß die Jugendjury Dave Eggrs' Circle auf der Liste hatte.

    Wieder einmal ist es soweit und pünktlich um 19 Uhr wurde die Ergebnisse veröffentlicht, die PreisträgerInnen des Deutschen Jugendliteratiurpreises stehen fest.


    Ich gebe zu, daß ich bei der Nominierungsliste ein bißchen die Nase gerümpft habe. Das Ergebnis übertrifft aber meine Erwartungen, abgesehen vom Jugendbuch.
    Shit happens.
    :grin
    Der Rest ist prima.


    hier das preisgekrönte Bilderbuch:


    David Wiesner, Herr Schnuffels aus einem meiner Lieblingsverlage, Aladin.


    Zu beachten: das ist kein süßes Katzenbuch, sondern ein Science Fiction reinsten Wassers.

    Und dieser schöne Liebesroman von Sabrina Zelezny, Das Geheimnis des Mahagonibaums


    Eine Liebe in Peru.
    Für Blanca geht ein Traum in Erfüllung: Sie wird nach Peru reisen, um dort Fotografie zu studieren. Als ihre Großmutter ihr zum Abschied ein Bild der eigenen Mutter schenkt und sie bittet, herauszufinden, wohin Guadalupe in den Wirren des zweiten Weltkriegs verschwand, ahnt Blanca nicht, auf welch tragische Geschichte sie stoßen wird – von Verrat, Hoffnung und einer Liebe, die alles überwindet. Eine alte Schuld, ein exotisches Land, das voller Rätsel steckt, und eine starke junge Frau auf der Suche nach ihren Wurzeln.

    Klaus Modick: Klack


    Markus hat es eigentlich gut. Auch seine Familie hat teil am westdeutschen Wirtschaftswunder, man kann sich wieder etwas gönnen, sogar ein Fernseher ist angeschafft worden – und doch hat er zu leiden: an der tyrannischen Großmutter, den immergleichen Kriegserzählungen des Vaters, den autoritären Lehrern am Gymnasium, vor allem aber an unerwiderten Gefühlen. Mit dem Auftauchen der Tinottis kommt Bewegung in sein Leben. Die italienische Familie zieht nebenan ein und eröffnet eine Eisdiele, Markus ist aber vor allem fasziniert von Clarissa. ...
    Mit Lust am Detail, großer erzählerischer Kraft und viel Humor fängt Klaus Modick die Stimmung einer entscheidenden Phase der bundesdeutschen Geschichte ein. Im Westen geht es aufwärts, während der Osten sich einmauert, und plötzlich steht die Welt am atomaren Abgrund. Und mittendrin Markus, der sich nichts sehnlicher wünscht als den ersten Kuss, und der mit seiner Kamera die Momente festhält, die das Leben ausmachen.

    Im Rahmen des jährlich stattfindenden ‚Tag des offenen Denkmals‘ gab es auch eine Lesung von Titus Müller aus seinem jüngsten Roman Berlin-Feuerland.
    Dem Romanthema entsprechend fand die Lesung auf den Friedhof der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain statt, der Ort, an dem die zivilen Opfer der Märzrevolution 1848 begraben wurden.


    Der Friedhof selbst hat eine lange und spannende Geschichte, die auf Stelltafeln im Bereich der Gräber dokumentiert wird. Die Geschehnisse um die Märzrevolution, vor allem die Ereignisse am 18. März 1848, werden in einem Ausstellungscontainer im vorderen Teil des kleinen Friedhofs präsentiert.
    Gemessen an seinem traurigen Daseinsgrund ist der ‚Friedhof der Märzgefallenen‘ ein berückend idyllisches Plätzchen. Die Lesung fand im Freien statt, vormittags. Licht, Temperatur, sonntägliche Stille hätten nicht besser zusammenwirken können, hätte man sie technisch produziert. Selbst die Wespen waren in Sonntagslaune und nur freundlich-neugierig, wenn auch zahlreich.
    Weniger zahlreich waren zunächst die BesucherInnen, aber das gab sich im Lauf der Stunde, als es zwölf schlug hatte sich ihre Zahl gut verdoppelt.


    Der Autor war von Anfang an da, plauderte mit BesucherInnen und hatte trotz Andrang immer noch genug Stimme und Laune, um mit Elan die Lesung zu beginnen. Eine interessante Überleitung vom heutigen Verständnis von Freiheit, das eher mit technischem Spielzug zu tun hat als mit Inhalten, zu dem, was Freiheit noch sein kann und wie das auf den Weg gebracht wurde vor 167 Jahren, führte direkt zum Roman.


    Vorgelesen wurden nur wenige Stellen, Titus Müller setzte aufs Erzählen. Schon nach zwei Sätzen teilte sich seine Begeisterung für die Zeit um 1848 auch den ZuhörerInnen mit. Er konnte zahlreiche Details aus dem Alltag berichten, über das häusliche Leben, über große Fragen, wie Verarmung und Industrialisierung. Was er auch erzählte, es bot Überraschendes aus einer Zeit, die so fern ist und in vielen Einzelheiten doch plötzlich ganz vertraut schien.
    Aus dem Roman las der Autor vor allem, was charakteristisch für seine eigenen Figuren ist. Neben der Handlungszeit sind sie es, denen unstreitig seine Zuneigung gilt. Entsprechend lebendig wurden sie, selbst wenn man, wie ich, den Roman nicht gelesen hat.


    Das Ganze war lebhaft, spannend, geradezu aufregend an manchen Stellen, interessant, lehrreich, humorvoll, kurz: eine perfekte Stunde.
    Danach gab es beim Austellungscontainer noch Erfrischungen samt Kuchen für die Wespen und Bücher mit Signatur für die BesucherInnen. Der Autor strahlte, er hatte ebenso Grund dafür wie alle anderen.
    Eine rundum gelungene Veranstaltung, gut geplant, schwungvoll und mit viel Liebe zum Thema vorgetragen.
    Empfehlenswert.

    Frettchen


    ja, eben, das dachte ich schon.


    Mit den beiden Seiten hast Du nicht unrecht, aber auch lesen muß man lernen. Es ist schon verlockend, sich bedienen zu lassen, nicht mitzudenken. Alles hinzunehmen.
    Und da irrsinnige Mengen von Lektüre auf den Markt geschwemmt werden, sind Leserinnen wirklich oft überfordert.


    Ich sehe beide Seiten, möchte gute Unterhaltungs-Autorinnen und verständige Leserinnen.
    Träumen darf ich, ja?


    :lache

    Zitat

    Original von Pelican
    [quote]Original von Bodo
    @ Magali
    Du hast ja recht, daß der Autor eine klare Verantwortung hat. Leider tritt das wohl aber häufig für den Broterwerb in den Hintergrund.


    Wenn es nur der Broterwerb wäre, könnte man sagen, okay, es ist eine Art Armuts-Prostitution.


    Ist es aber nicht. Es wird einfach nicht nachgedacht, schreiben ist zu leicht, veröffentlichen zu leicht, Bücher/Buchmarkt zu schnellebig, alles ist erlaubt, allseitige Beliebigkeit, alles lustig, wir sind so frei, tralalala.



    :wave


    magali

    Zitat

    Original von Bodo


    Pelican : Deine Frage nach dem Regulativ hinkt ein wenig (nur ein kleines bisschen....) denn diese Frage nach der Qualität, welche wir hier alle so engagiert erörtern stellt sich 90% der Konsumenten da draussen garnicht!


    Ich nehme diesen Punkt noch mal auf.
    Ich bin anderer Ansicht. Die Frage stellt sich wohl. Die meisten Leserinnen erwarten, daß sie ein gut gemachtes Buch, einen ordentlich korrigierten Text und eine gute Geschichte bekommen.
    Sie erwarten, daß ihnen die Buchhändlerin genau das gibt.

    Zitat

    Original von Frettchen
    Das mit der Verantwortung sehe ich überhaupt nicht so.
    Jeder muss sein eigenes Tun vor sich selbst verantworten können.
    Aber sollten Autoren von Unterhaltungs!Romanen verpflichtet sein, in ihren Büchern mein! Weltbild darzustellen. Mein Nachbar hat vielleicht ein ganz anderes.



    Ich glaube, da habe ich mich nicht klar ausgedrückt.
    Es geht nicht darum, daß eine Autorin 'mein' Weltbild ausdrückt. Es geht im Gegenteil darum, daß man annimmt, daß AutorInnen von Unterhaltungsliteratur wie auch ihr Publikum gar nicht beachten, daß sie Weltbilder(!) vermitteln.
    Unterhaltung gilt als harmlos.
    Sie ist es nicht.


    Schon da beginnt die Verantwortung.
    Was tue ich eigentlich, wenn ich öffentlich eine Geschichte erzähle? Darüber denken viele, die schreiben, nicht nach.
    Und da kommt Dein Standpunkt: jede muß ihr eigene Tun vor sich selbst verantworten.


    Darüber muß man aber vorher nachdenken.

    Delphin


    zu Deinem Fantasy-Vergleich sage ich mal nichts. :lache


    Aber man kann eben beim historischen Unterhaltungsroman, Recherche, Erzählen und schriftliche Umsetzung nicht voneinander trennen, finde ich.
    Das sind in meinen Augen die drei Säulen und je weniger stabil sie sind, desto eher kommt Schund heraus.


    Wenn schlecht erzählt und schlecht geschrieben wird, fallen Fehler in der Wiedergabe historischer Fakten noch mehr auf. Wenn eine Geschichte sehr gut erzählt und formuliert ist, kommt man wahrscheinlich gar nicht auf die Idee, etwas zu überprüfen.
    So geht es einer doch mit den Romanen von Georgette Heyer. Überprüft da jemand, was sie an Realia der Regency-Jahre im Roman einbringt? Eher nicht, weil es gut erzählte und dem Thema angepaßt speziell formulierte Liebesgeschichten sind, mit toll gezeichneten Figuren.
    Man verzeiht ihhr sogar den grauenhaften Stil.
    Mit ihren Mittelalterromane ist es wohl ähnlich.


    Wenn ich dagegen so etwas finde, wie besagten Jugendroman, in dem eine Autorin unbedingt eine sexy-hexy-Teenager-Knutsche-Story nach Versailles unter Ludwig XIV verlegen muß, dabei schon auf den ersten Seiten zeigt, daß sie erzählerisch und in den Formulierungen wenig talentiert ist, dann schaue ich doppelt aufmerksam auf die Fakten. Es hat mich wenig überrascht, daß sie auch bei denen danebenhaut und zwar gründlich.