Winternähe – Mirna Funk
Lola ist Anfang dreißig, ihr Talent zum Fotografieren hat ihr eine Stelle in einer Firma für Bilddatenbanken eingebracht. Sie lebt in Berlin, ihr soziales Leben spielt sich altersgemäß in Kneipen, Restaurants, Bars und Discotheken ab, natürlich mit einem ‚Szene-‚ davor. Wesentlich für dieses Leben ist die digitale Welt, man chattet, dated über WhatsApp und Tinder, hat mindestens einen Facebook-Account. Skype und Smartphone bedient man ohne hinzusehen. Eine moderne Welt ist das, durchtechnisiert, glatt, glänzend, immer funktionstüchtig.
Als Antisemitismus in diese Welt einbricht und ausgerechnet Lola das Opfer wird, ist sie starr. Damit hat sie nicht gerechnet, nicht in dieser Welt, nicht in dieser Zeit und ganz bestimmt nicht mit sich als Zielscheibe.
Von da an sieht Lola ihre Welt anders, Antisemitismus grassiert, aber niemanden scheint das zu stören. Lolas schlechte Erfahrungen fördern auch ihre eigene Befindlichkeit zutage. Probleme mit ihrer Familie, mit einer Prägung als Enkelin von Holocaust-Überlebenden, einer Kindheit in der DDR samt Vater als Republikflüchtigem und einer Mutter, die sich offenbar bedenkenlos scheiden ließ, dem Ende der DDR und unentwegt der Frage des Jüdischseins.
Funk packt sehr viel in dieses Buch. Zusammengehalten wird das durch die Hauptfigur. Sie ist die Nabe, von der die Streben ausgehen und das Rad bilden, das sich immerzu dreht. Sich jüdisch fühlen, aber den religiösen Gesetzen nach keine Jüdin sein, weil ihre Mutter es nicht war. Sich für Israel einsetzen, mit der Last der spezifischen deutschen Vergangenheit zurechtkommen. Tragen, daß sie von ihrem Vater verlassen wurde. Lola schreibt immer wieder Briefe an ihn, voller Vorwürfe und Anklagen, die sie aber nie abschickt.
Eine Liebe zu einem Israeli führt Lola nach Israel, mitten in den Krieg. Sie flieht nach Thailand, um Frieden zu finden, die Autorin läßt sie eine Überraschung erleben.
Auch als Leserin wird man überrascht. Lola steht nie still, ihre Gedankenmühle rattert unablässig. Sie bewegt sich viel saust hierhin, dorthin, hält es nur in Phasen tiefer Niedergeschlagenheit mal auf einer Stelle aus. Sie braucht Geräusche, Töne, Worte, laute Musik, leidet zugleich unter dem Lärm – die Beschreibungen des irrsinnig lauten Tel Aviv sind faszinierend – und ist lange doch nur von einem Geräusch besessen, den Raketen auf Israel.
Die Gefühle sind sehr stark, Sexszenen ausgebreitet. Doch sie haben eine Funktion, sie sind Bewegung wie Lola Bewegung ist, ihre Art, Nähe zu suchen und zu spüren und lebendig zu sein.
Angelegt ist die Geschichte als Roman über Antisemitismus heute und offenbar wird sie auch so gelesen. Tatsächlich ist sie es nicht. Das liegt an der falschen Voraussetzung dafür. Lola stellt Fragen, das soll sie auch, denn es geht hier um die Beantwortung der Fragen. Aber sie stellt die falschen. Sie stellt nur Fragen, auf die Antworten vorgegeben und dementsprechend längst platt gewalzt sind.
Lola leidet, weil sie Nabelschau betreibt. Die Welt außerhalb von Lola existiert nicht und wenn doch, so muß sie nach Lolas Regeln funktionieren. Die Romanfigur ist keine aufklärerische Heldin im Kampf gegen Antisemitismus, sondern ein verletztes Kind, das am liebsten alte Wunden leckt und heult. Sie klammert sich an ein vermeintliches Paradies und wird böse, weil sie entdecken muß, daß es kein Paradies gibt und vor allem keine Ruhe.
Funk läßt sich eine Menge einfallen, um Antisemitismus und die Schwierigkeiten mit Israel zu belegen. Aber es wird zu kurz gedacht, sie präsentiert nur einen Ausschnitt eines Grundproblems, das tatsächlich Rassismus heißt. Antisemitismus ist nur eins seiner Gesichter. Politik gibt es nicht in diesem Buch, dabei hat es ein hochpolitisches Thema. Das ist nicht Israel, das in diesem Roman in einem nahezu luftleeren Raum existiert, in dem es keine großmachtpolitischen, wirtschaftspolitischen, geo-strategischen Zusammenhänge, aber auch keine moderne israelische Gesellschaft mit ihren Problemen, gibt, sondern nur das Erbe des Holocaust und ‚Palästinenser‘.
Das eigentliche Thema ist die Beschreibung einer Vertreterin einer Generation, die mit hochentwickelten technischen Möglichkeiten ausgerüstet ist, sie aber zu nichts anderem einsetzen kann als zum Spielen. Funks Figuren leiden, aber sie leiden aus Unreife, an einem Kinderglauben, an den Folgen von Hochglanzversprechungen aus Scheinwelten. Sie ertrinken in Informationen über alles und jedes und können sie doch nicht sortieren.
Für alles, was bewiesen wird, gibt es im Internet gleich einen Gegenbeweis, sagt Lola einmal sinngemäß. Für sie ist die Ausrede, sich um gar nichts zu kümmern, sondern sich ins private Elend zurückzuziehen. Leiden ist so süß und verlangt einer doch nichts ab.
Die ‚politischen‘ Diskussionen sind ebenso nur ein Spiel. Es wird alles aufgeboten, was man sich an Pro und Kontra an die Köpfe werfen kann, stundenlang, tagelang, zwei Generationen lang, ohne daß sich etwas ändert. Dazu müßte man nämlich einen Standpunkt einnehmen und eben das ist, was Lola scheut. Auch das gehört zu dieser Figur.
Am Ende darf eine Palästinenserin den erlösenden Satz sagen, mitten in Bangkok, anläßlich irgendeines angesagten Kunst-Events. ‚Wir haben eine Wahl.‘
Leider ist der Satz keineswegs erlösend, sondern wird sofort verwässert, weil daraus eine Moral abgeleitet wird, die in Gut und Böse zerfällt. Wer bestimmt, was gut oder böse ist, wird nicht gefragt. Mit der Wahl und der Moral sind Lola, die sich als Jüdin fühlt, und ihre palästinensische Bekannte in Bangkok mit dem Nachdenken ohnehin zuende und gehen einträchtig in einen Schönheitssalon zu einem ‚Facial‘. Mädels von heute eben.
Dieses Buch ist umwerfend und eine Katastrophe gleichermaßen. Funk schreibt am Thema vorbei, daß man schreien könnte und bietet doch so viel zum Nachdenken, daß man Tage diskutieren kann. Es ist kurzsichtig und beschränkt und öffnet doch den Blick, es ist dumm und klug, zum Schreien ärgerlich und dann zum herzen schön.
Nicht wenig dazu trägt die Sprache bei. Es ist ein eigener Ton, ein eigenes Vokabular, es gibt ganz neue Blicke auf Menschen, Gegenstände, Landschaft. Hier sucht man vergeblich die wunderschönen Satzgebäude, die vor allem jüngere AutorInnen so perfekt zu bauen gelernt haben, daß sie fast vergessen haben, auch etwas damit zu sagen.
Dieses Buch ist anders. Es erfüllt, macht satt. Es ist eine Lese – und Denkerfahrung, das seinseglichen sucht.
Es ist ein Buch, ein richtiges Buch.