Marlene
„Marlene, wann habe ich Geburtstag?“ fragend blicke ich sie an. Sie sitzt auf ihrem Lieblingsplatz neben dem warmen Kohleofen. Gedankenverloren nimmt sie den Saum ihres Rockes zwischen die Finger, hebt ihn hoch und lässt ihn wieder fallen. Immer wieder und immer wieder. Ich stehe vor ihr und warte geduldig auf eine Antwort. „Marlene?“ Als sie endlich zu mir hochblickt, habe ich das Gefühl, sie aus einer anderen Welt gerissen zu haben. Ich wiederhole meine Frage. Ohne zu überlegen antwortet sie mir: „Am 7. Juli 1965. Du bist an einem Dienstag geboren.“
Ich bin zufrieden. Es stimmt!
„Wann haben meine Eltern geheiratet?“ Spontan sagt sie: „Am 9. Februar 1964.“
„Und wie alt bist du?“. Verlegen sieht sich mich an. Sie weiß es nicht. Ich bin überrascht.
„Sag du es mir!“ erwidert sie. Ich frage nach ihrem Geburtsdatum. Es kommt wie aus der Pistole geschossen. Ich brauche eine Weile, bis ich es ausgerechnet habe. „Du bist 33, Marlene“. „Wirklich?“ fragt sie mich erstaunt.
Marlene ist meine Tante. Sie kennt alle Daten unserer Familie auswendig. Und das von immerhin weit mehr als 200 Personen. Obwohl noch ein Kind, bin ich erstaunt über ihr gutes Zahlengedächtnis.
Wenn ich mit ihr draußen spazieren gehe, nehme ich sie an die Hand. Ich weiß sehr genau, dass ich auf sie aufpassen muss. Obwohl sie soviel größer ist als ich.
„Tun sie mir wirklich nichts?“ fragt sie mich und drängt sich ängstlich an mich. Ihre große Hand liegt verschwitzt in meiner kleinen Kinderhand. Ich antworte ganz ernsthaft: „Nein Marlene, die Autos tun dir nichts. Warum hast du Angst vor ihnen?“ „Können sie wirklich nicht beißen?“, fragt sie mich ernsthaft. Innerlich muss ich kichern, weil ich ihre panische Angst nicht nachvollziehen kann.
„Nein, ehrlich nicht!“ sage ich zu ihr und als ich merke, dass sie mir immer noch nicht glaubt, füge ich hinzu: „ Sie haben doch keinen Mund und keine Zähne. Wie sollen sie dich da beißen können?“ „Aber sie haben Augen!“ Sie lässt sich nicht davon abbringen, dass es Ungeheuer sind, vor denen sie Angst haben muss. Ich sehe mir das Auto an. Irgendwie hat sie Recht. Mit viel Phantasie sieht das Auto mit seinen zwei großen Schweinwerfern und der Stoßstange wirklich so aus wie ein riesiges Gesicht.
„Nein, Marlene. Das sind keine Augen, sondern die Lichter vom Auto“, kläre ich sie auf.
„Wirklich?“ „Ja, wirklich!“
Marlene strahlt mich an. Sie glaubt mir und ist beruhigt. Für den Augenblick! Aber schon morgen hat sie es wieder vergessen.
Als wir wieder nach Hause kommen, nimmt sie wieder ihren Platz neben dem Ofen ein. Sie sieht versonnen nach unten, nimmt einen Rockzipfel in die Hand, hebt ihn etwas hoch und lässt ihn wieder fallen. Wieder und immer wieder.
Ich sehe ihr dabei zu. Sie macht einen zufriedenen und glücklichen Eindruck auf mich.
Dennoch würde ich manchmal zu gern wissen, worüber sie nachdenkt, während sie so völlig versunken in ihrer Welt, dort sitzt und lächelt.