Behinderung
Ein sonniger, warmer Tag. Die ersten Gehversuche der Tochter, Lachen in der Kaffeerunde. Sie war still, etwas zurückgezogen, fühlte sich nicht wohl. Endlich waren die Gäste weg und sie entspannte sich ein bisschen. Wieder dieser Schmerz im Rücken und die geschwollenen Beine, die so gar nicht machten was sie wollten. Zu viel zu tun um auf die Gesundheit zu achten, zu viel am Hals um die eigenen Befindlichkeiten wichtig zu nehmen. Der Schmerz wurde stärker, fast unerträglich. Der herbeigerufene Arzt schickte sie sofort ins Krankenhaus – Verdacht auf Blinddarmdurchbruch.
Operationssaal, noch vollkommen bei Bewusstsein nimmt sie die Geschäftigkeit der Mediziner und Operationshelfer wahr. Ein Helfer versucht ihre Beine auszustrecken, sie schreit vor Schmerz auf. Es tut so weh, zieht durch den ganzen Körper. Ein Operateur, der schon im grünen OP-Kittel dabeisteht hilft ihr, weist den Pfleger an, die Beine erst in der Narkose zu strecken. Alles beginnt sich zu drehen, sie hebt ab.
Kalt – sie zittert unter der Wärmedecke, die im Aufwachraum ein Auskühlen verhindern soll. Artikulation schier unmöglich, der ganze Mund ist trocken wie Sandpapier. Der überwachende Assistenzarzt bemerkt ihr erwachen, stützt sie ab und reicht ihr einen Schluck zum Mundausspülen, steckt die Decke fest.
Erneutes Erwachen – der Schmerz in den Beinen immer noch unerträglich, sie sind heiß und geschwollen. Hoher Blutdruck, das gegebene Medikament bewirkt nicht das was es soll – Intensivstation, Verdacht auf Thrombose. Rettungshubschrauber bringt sie zur nächstgelegenen, 130 km entfernten, Gefäßchirurgie. Krankenhaus voll, nur noch Platz auf dem Gang. Nachts erneute OP, Versuch die Thrombose auszuräumen, am nächsten Tag wieder zurück ins Heimatkrankenhaus. Holprige Fahrt, Autobahn eine einzige Schotterstrecke und Baustelle an Baustelle.
Thrombose immer noch da, Bettruhe. 14 Tage vergehen, in denen sie sich nicht bewegen kann, auf Hilfe angewiesen ist. Endlich aufstehen – der Schmerz in den Beinen ist immer noch da, wie frisch. Dauert noch bis das heilt, ist der lapidare Kommentar der Ärzte. Gehversuche auf Station, 5 Meter, auch mal 10 Meter ohne Pause sind schon viel. Der Infusionsständer ächzt unter ihrem Gewicht, verbiegt sich, weil sie sich so fest darauf abstützt.
Sie ächzt auch, Luftmangel, Husten, Bewusstlosigkeit – erneut Intensivstation, wieder können die Ärzte im Heimatkrankenhaus nichts tun, sind auf Doppelseitige Lungenembolie nicht eingerichtet. Erneuter Flug in das 130 km entfernte Krankenhaus, Familie wird auf das schlimmste vorbereitet. Intensivstation in der großen Klinik, alles fremd, kein bekanntes Gesicht. Körper wie gelähmt, Bewegungsverbot, keine Möglichkeit sich selbst zu säubern oder zu essen.
Thrombose im Bauchraum, akute Lebensgefahr. Ehemann wird verständigt, kommt noch mal mit Kind ins Krankenhaus, Angst im Gesicht – sie sieht nur ihre Tochter, merkt nichts. Weiß nicht, dass ihr Leben auf der Kippe steht. Erneute Operation. Alles geht gut, sie hat es geschafft. Kann sich nicht bewegen, fühlt sich behindert, gefangen im Körper, der nicht das tut was er soll – auch jetzt nach 10 Jahren noch nicht. Ein Viertel Jahr Krankenhaus , das wichtigste Verpasst – die ersten Wörter, die ersten richtigen Schritte des Kindes. Aber sie hat überlebt und das ist das Wichtigste.