JANUAR 2009
THE WIRE beginnt in der ersten Staffel noch fast wie eine klassische Krimi-Serie, eine Gruppe von Polizisten ermittelt gegen den Barksdale-Clan wegen Drogenhandel und Mord. Das titelgebende "Wire" ist eine Abhöranlage, mit dem Ziel, nicht nur die Kleindealer auf der Straße für kurze Zeit aus dem Verkehr zu ziehen, sondern auch gegen die Bosse, die selbst weder Drogen anfassen noch die Morde begehen, Beweise zu finden. Mit jeder der insgesamt fünf Staffeln erweitert sich für den Zuschauer das Bild von Baltimore: am Containerhafen ist wenig Arbeit verblieben, die meisten großen Industrieanlagen sind stillgelegt; der aussichtslose Kampf gegen Kriminalität, Drogenkonsum und Drogenhandel; Politik und Wahlkampf in einer Großstadt; Idealismus oder Karrierestreben; der Zustand an den öffentlichen Schulen; der Zusammenhang mit Medien und Berichterstattung. Ein durchgehendes Thema ist das Verhältnis des Einzelnen zu Institutionen, wie dem Polizeiapparat, Politik, Gewerkschaft, Schule, aber auch die Drogenhändler sind hierarchisch strukturiert. Baltimore ist nicht glamourös wie beispielsweise New York, Los Angeles oder Miami. Baltimore ist eine Arbeiterstadt an der amerikanischen Nordostküste mit etwa 640.000 Einwohnern, ein großer Anteil der Bevölkerung ist schwarz, Drogenkonsum und Drogenhandel sind allgegenwärtig und die Mordrate liegt im Verhältnis zur Einwohnerzahl statistisch weit über der von New York.
Die Struktur von THE WIRE ist wie ein Roman, ein visuell umgesetzter langer Roman. Die fortlaufende Handlung hat jeweils zum Staffel-Ende einen Abschluss, man muss aber auch alle fünf Staffeln gemeinsam als Teile eines komplexen Ganzen sehen. Dieses großangelegte Bild einer Stadt und einer Gesellschaft, sein Realismus, die Unterschiede zwischen Arm und Reich, hat mehrfach den Vergleich mit den Büchern von Charles Dickens hervorgerufen. In der fünften Staffel heißt eine Episode, sicherlich beabsichtigt ironisch, "The Dickensian Aspect". Die Besetzung von THE WIRE besteht aus mehr als zwanzig "Hauptcharakteren" und vielen weiteren Figuren. Alle Charaktere sind vielschichtig, realistisch und mit Respekt gezeichnet, bis in die kleinste Nebenrolle. Zwischen den einzelnen Staffeln ist auch für die Charaktere jeweils ein Jahr vergangen, und im Verlauf von mehreren Jahren ändern sich berufliche Positionen und Menschen entwickeln sich weiter.
Baltimore ist die Heimatstadt von David Simon, er ist gemeinsam mit Ed Burns der "Kopf" und Macher von THE WIRE. David Simon war zwanzig Jahre Polizeireporter in Baltimore und Ed Burns Detective bei der Mordkommission und später Lehrer. Beide haben den Anspruch an ihre Arbeit, dass Handlung und Charaktere so wahrheitsgetreu sind, dass sich die beschriebenen Gruppen wiedererkennen. David Simon sagte in einem Interview, "Es gibt zwei Arten, Fernsehen zu machen, entweder man lehnt sich zurück und guckt passiv zu, oder man lehnt sich vor und denkt drüber nach, was man da sieht. Wir machen das zweite."
Dass THE WIRE trotz der ernsthaften Thematik kein den Zuschauer deprimierendes Sozialdrama ist, verdankt die Serie den großartigen, vielschichtigen Charakteren, großartig geschriebenen und genial verknüpften Handlungssträngen, großartigen Dialogen mit viel lakonischem schwarzem Humor, sowie hervorragenden Darstellern. Es ist ein Vergnügen, sich THE WIRE wiederholt anzusehen.
Es trägt zum Realismus der Atmosphäre bei, dass es keine Musikuntermalung gibt. Gelegentlich läuft Musik in einem Autoradio, dies geschieht meist beiläufig; ein- oder zweimal wird bewusst als Stilmittel eingesetzt, dass die Musik aus dem Radio während einer Episode einen Zusammenschnitt von Szenen begleitet. Zum Ende jeder Staffel gibt es einen, mit einem Song unterlegten, Zusammenschnitt, der die Charaktere in die nahe Zukunft begleitet, was hat sich verändert? Hat sich überhaupt etwas verändert?
Von den zehn Leuten, die über die Staffeln hinweg in verschiedenen Positionen die Ermittlergruppe umfassen, sind vier Weiße und sechs Afro-Amerikaner. Es gibt in Baltimore einen schwarzen Bürgermeister, schwarze Ratsmitglieder, einen schwarzen Senator, einen schwarzen Polizeichef, schwarze Polizisten, Staatsanwälte, Pastoren, Krankenschwestern, Lehrer und Journalisten, also durchaus ein afro-amerikanisches Bürgertum. Ein Großteil des Schauplatzes von THE WIRE sind aber die Viertel einer amerikanischen Stadt in denen vorwiegend unterprivilegierte Schwarze leben. Die Afro-Amerikaner haben in den USA erst seit etwa 40 Jahren die gleichen Bürgerrechte wie die Weißen und sind im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung bildungsmäßig immer noch viel schlechter gestellt. Baltimore steht beispielhaft für viele amerikanische Städte. Die Zustände an den öffentlichen Schulen sind teilweise katastrophal, es gibt zu wenig Budget und Lehrer. Nur ein kleiner Teil der Schüler lernt nachhaltig, nicht konzentrationsfähige und verhaltensauffällig-aggressive Kinder stören den Unterricht und halten oft die ganze Klasse vom Lernen ab.
Ist das weit weg?
Die USA und Deutschland gehören zu den reichsten Ländern der Erde. Der soziale Status wird sehr stark bestimmt durch Herkunft und Status der Eltern, durch eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, was Bildung, Arbeitsplätze, Einkommen, Wohlstand und Krankenversorgung betrifft, wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer. In Deutschland gibt es entsprechende problematische Gegenden, Viertel mit hohem Anteil von Geringqualifizierten, sowie Migrantenfamilien. Schlechte Sprachkenntnisse und Analphabetismus erschweren den Schulbesuch, damit auch die Möglichkeit auf weiterführende Bildung, Ausbildung und Arbeitsstellen. Wenn noch Machismo, "Stolz/Ehrgefühl" und eine niedrige Schwelle zu Gewaltanwendung hinzu kommen, ergibt dies eine explosive Mischung. In dieser Woche wurden wieder in mindestens zwei Magazinsendungen Beispiele für den maroden Zustand an deutschen Schulen gezeigt, dies betrifft den Zustand der Gebäude, aber auch den der Lehrpläne und Lehrermangel, hervorgerufen durch bildungspolitische Fehler und zu geringe Budgets.
Jetzt, im Januar 2009 ist Barack Obama als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt worden, seine Amtszeit beginnt. Er hatte in einem Interview gesagt, dass eine seiner Lieblings-TV-Sendungen THE WIRE sei. Nach einem abgeschlossenen Jura-Studium in Harvard hatte Obama sich für die Arbeit als Sozialarbeiter in Chicago entschieden. Er kennt die Zustände "live" und kann sicher beurteilen, ob die Darstellung in THE WIRE realistisch ist. Als Präsident hätte er jetzt die Voraussetzungen, Innenpolitik zu machen, die grundsätzlich etwas verändert. Entgegen vieler Hoffnungen und Erwartungen, die in ihn gesetzt werden, wird er aber nicht über Wasser gehen oder Wasser in Wein verwandeln können. Aber für politische Arbeit wird kein Messias, sondern ein Realist benötigt. Da er in der Stadtpolitik von Chicago seine politische Karriere begonnen und es mit 47 Jahren zum ersten afro-amerikanischen Präsidenten gebracht hat, zeigt, dass er sicher nicht nur Idealist, sondern auch Realist ist und Durchsetzungskraft besitzt. (Zitat aus der Berichterstattung zur Vereidigung am 20. Januar: "Wenn Obama die Stadtpolitik in Chicago "überlebt" hat, ist er bestimmt kein naives Bambi".)
Die Darstellung von Politik und ihrer Strukturen ist in THE WIRE sehr erhellend.
THE WIRE wirft viele Fragen auf, hat aber keine einfachen Antworten. Vielleicht findet Barack Obama in ein oder zwei Amtszeiten nachhaltige Antworten auf einige der gezeigten Probleme; es bleibt zu hoffen, dass THE WIRE ein langfristiger Klassiker der TV-Geschichte wird, und die Lebensrealität der Menschen sich verbessert hat.
.