Hartz-IV-Missbrauch kein Thema: „Politik hat Bodenhaftung verloren"
Arge und Herbergsverein sind sich einig: Missbrauch in Einzelfällen/Regelsätze nicht senken
(hej). Wer angesichts der Debatten um Nachbesserungen an Hartz IV aufmerksam Zeitung liest und Radio hört, kann den Eindruck gewinnen, mit diesen Sozialleistungen würde massenhaft Missbrauch betrieben. Das ist aber zumindest im Kreis Nienburg nicht so, versichern sowohl die Arge als auch der Herbergsverein.
Drei Themen beherrschen die Diskussion um das Arbeitslosengeld (Alg) 2: Der angebliche Missbrauch, die Kostenexplosion von Hartz IV und damit einhergehend die Frage, ob die Regelsätze gesenkt werden sollten. Die Arge ist unter dem Grundsatz „fördern und fordern“ staatlicherseits für die Betreuung der Langzeitarbeitslosen zuständig; der dem Diakonischen Werk zugehörige Herbergsverein versteht sich, so Geschäftsführer Roland Rinaldo und der Leiter der Nachgehenden Hilfe, Matthias Mente, als „Anwalt“ Benachteiligter. An sich also eher gegensätzliche Positionen. Aber: „Die Zusammenarbeit mit der Arge war von Anfang an sehr, sehr gut“, so Rinaldo, und Mente ergänzt, die Nienburger würden – „durchaus im Gegensatz zu anderen Arges“ – sehr kooperativ und basisorientiert arbeiten. Arge-Geschäftsführerin Klaudia Silbermann und ihr Stellvertreter Carsten Buchholz vermögen keinen eklatant gestiegenen Missbrauch im Zusammenhang mit Hartz IV erkennen. Und was es an so genanntem Missbrauch gäbe, sei bis auf ganz wenige Fälle nicht auf kriminelle Energie, sondern auf Missverständnisse oder Unkenntnis bei der Antragstellung zurückzuführen. Eine zunehmende Rolle spielen laut Silbermann kleine Selbstständige, die – unter Umständen über steuerliche Kniffe – versuchen, zu holen was zu holen ist. Missbrauchs-Einzelfälle also, „aber bundesweit summiert sich das zu Lasten der Redlichen“, sagt Carsten Buchholz, der den Grundsatz herausstellt, auch eine Ablehnung sei eine soziale Entscheidung, wenn die staatliche Unterstützung nicht gerechtfertig wäre. Dennoch findet der Arge-Vize die Debatte um die Senkung der Regelsätze „fatal“: Die Sätze seien „allenfalls auskömmlich“; die Diskussion vergifte die Stimmung zu Lasten des gesamten Personenkreises. Damit liegt die Arge auf einer Linie mit dem Herbergsverein. Matthias Mente verweist auf die Nationale Armutskonferenz, nach der lediglich in zwei Prozent der Hartz-IV-Fälle ein Missbrauch vorliege. „98 Prozent Ehrlichkeit – das ist doch eher eine gute Nachricht!“, findet auch Roland Rinaldo. Man könne jedenfalls nicht von „regelmäßigem Missbrauch“ sprechen. Er sieht in der derzeitigen Debatte „Stimmungsmache gegen die Armen.“ Die scheinbar völlig unvorhergesehene „Kostenexplosion“ in Zusammenhang mit Hartz IV kommt für Rinaldo und Mente keineswegs überraschend: Man wäre über vorhandenes Zahlenmaterial durchaus in der Lage gewesen, die Kostenentwicklung abzusehen. Jetzt aber den Arbeitslosen quasi die Schuld an der Entwicklung zu geben und ihnen Leistungskürzungen anzudrohen, weil die Politik sich verrechnet habe, bringt beide in Rage. „Die Politik hat völlig die Bodenhaftung verloren!“ Und Matthias Mente kann sich eines ironischen Seitenshiebs auf die große Politik nicht enthalten: Der Gesetzgeber hätte Fachleute von der Basis fragen sollen, „wie Silbermann oder Buchholz“, dann wäre man zu verlässlichen Daten gelangt.