Meine Eindrücke:
Minas Lieblingsplatz ist ein Baum im Garten vor dem Haus. Hier kann sie ungestört träumen, die Amseln beobachten, ihren Gedanken nachhängen, Tagebuch schreiben und mit Wörtern spielen. Das Beste an dem Baum ist, dass sie von dort aus die Welt sehen kann, selbst aber unsichtbar bleibt. Denn irgendwie passt Mina nicht in die Welt der anderen Kinder: Sie liebt die Dunkelheit, ist fasziniert von Tieren wie Eulen und schwarzen Katzen, sie ist hoch begabt - und geht nicht zur Schule. Die Schule und die Lehrer haben es sich ein für allemal bei Mina verdorben. Schluss mit den öden Aufgaben, Schluss vor allem mit dem Erfinden von unsäglich braven Geschichten über langweilige Menschen. Schluss damit, von den anderen für merkwürdig und durchgeknallt gehalten zu werden - außer von Sophie. Sophie ist nicht durchgeknallt, aber sie humpelt, und sie will sich später operieren lassen, um humpellos zu werden. Mina hingegen könnte eine Antimerkwürdigkeitsoperation gebrauchen. Statt dessen wird sie seit jenem Prüfungstag, der ziemlich in die Hose ging, zu Hause von ihrer Mutter unterrichtet.
Minas Vater ist gestorben, als sie noch sehr klein war, und sie hat seinen Tod noch nicht verwunden. Sie vermisst ihren Papa und ist traurig, weil sein Duft und das stachelige Gefühl seiner Bartstoppeln auf ihren Wangen langsam verblassen. Was bleibt von einem Menschen, der gestorben ist?
Das Mädchen hat große Fragen zum Geborenwerden, zum Leben und zum Sterben; nicht alles kann sie mit ihrer Mutter besprechen, auch wenn die beiden eine besonders enge Beziehung zueinander haben. Und so zieht sich Mina auf ihren Baum und zu ihren Wörtern zurück.
Aber nicht für alle ist Mina im Baum unsichtbar. Da ist Grace, eine alte Frau, die sie bemerkt und ihr erzählt, dass sie von Mina geträumt habe. Sie haben Gemeinsamkeiten; beide lieben das Klettern und Vögel. Und da ist Sophie, die Mina nach ihrer Humpellosigkeits-Operation besuchen kommt. Vielleicht ist es ja doch möglich, Freunde zu finden und - welch ein absurder Gedanke! - eines Tages in eine Schule zurückzukehren.
Das Buch - laut Verlag für Kinder ab 10 Jahren - ist ungewöhnlich: es regt zum Mitdenken und Mitmachen an. Minas Wortspiele in ihrem Tagebuch sind mit herausgehobenem Schriftbild abgedruckt, in vielen Kapiteln finden sich Vorschläge für "Außergewöhnliche Aktivitäten" zum Schreiben, Probieren und Nachdenken. Die Denkanstöße erscheinen mir für das empfohlene Lesealter teilweise sehr anspruchsvoll, aber vielleicht sind sie auch eher für erwachsene Leser gedacht. Ich jedenfalls habe das Buch gerne gelesen, oft innegehalten und ja, ich habe ein paar Außergewöhnliche Aktivitäten ausprobiert.
Die Geschichte an sich dürfte jungen LeserInnen Spaß bereiten; es gibt spannende Kapitel in einer Höhle und auf einem Dachboden mit Eulen, ein Mädchen, das sich gegen die Schule stellt und ein hoffnungsvolles Ende.