Beiträge von Ida

    Meine Eindrücke:


    Minas Lieblingsplatz ist ein Baum im Garten vor dem Haus. Hier kann sie ungestört träumen, die Amseln beobachten, ihren Gedanken nachhängen, Tagebuch schreiben und mit Wörtern spielen. Das Beste an dem Baum ist, dass sie von dort aus die Welt sehen kann, selbst aber unsichtbar bleibt. Denn irgendwie passt Mina nicht in die Welt der anderen Kinder: Sie liebt die Dunkelheit, ist fasziniert von Tieren wie Eulen und schwarzen Katzen, sie ist hoch begabt - und geht nicht zur Schule. Die Schule und die Lehrer haben es sich ein für allemal bei Mina verdorben. Schluss mit den öden Aufgaben, Schluss vor allem mit dem Erfinden von unsäglich braven Geschichten über langweilige Menschen. Schluss damit, von den anderen für merkwürdig und durchgeknallt gehalten zu werden - außer von Sophie. Sophie ist nicht durchgeknallt, aber sie humpelt, und sie will sich später operieren lassen, um humpellos zu werden. Mina hingegen könnte eine Antimerkwürdigkeitsoperation gebrauchen. Statt dessen wird sie seit jenem Prüfungstag, der ziemlich in die Hose ging, zu Hause von ihrer Mutter unterrichtet.


    Minas Vater ist gestorben, als sie noch sehr klein war, und sie hat seinen Tod noch nicht verwunden. Sie vermisst ihren Papa und ist traurig, weil sein Duft und das stachelige Gefühl seiner Bartstoppeln auf ihren Wangen langsam verblassen. Was bleibt von einem Menschen, der gestorben ist?


    Das Mädchen hat große Fragen zum Geborenwerden, zum Leben und zum Sterben; nicht alles kann sie mit ihrer Mutter besprechen, auch wenn die beiden eine besonders enge Beziehung zueinander haben. Und so zieht sich Mina auf ihren Baum und zu ihren Wörtern zurück.


    Aber nicht für alle ist Mina im Baum unsichtbar. Da ist Grace, eine alte Frau, die sie bemerkt und ihr erzählt, dass sie von Mina geträumt habe. Sie haben Gemeinsamkeiten; beide lieben das Klettern und Vögel. Und da ist Sophie, die Mina nach ihrer Humpellosigkeits-Operation besuchen kommt. Vielleicht ist es ja doch möglich, Freunde zu finden und - welch ein absurder Gedanke! - eines Tages in eine Schule zurückzukehren.


    Das Buch - laut Verlag für Kinder ab 10 Jahren - ist ungewöhnlich: es regt zum Mitdenken und Mitmachen an. Minas Wortspiele in ihrem Tagebuch sind mit herausgehobenem Schriftbild abgedruckt, in vielen Kapiteln finden sich Vorschläge für "Außergewöhnliche Aktivitäten" zum Schreiben, Probieren und Nachdenken. Die Denkanstöße erscheinen mir für das empfohlene Lesealter teilweise sehr anspruchsvoll, aber vielleicht sind sie auch eher für erwachsene Leser gedacht. Ich jedenfalls habe das Buch gerne gelesen, oft innegehalten und ja, ich habe ein paar Außergewöhnliche Aktivitäten ausprobiert.


    Die Geschichte an sich dürfte jungen LeserInnen Spaß bereiten; es gibt spannende Kapitel in einer Höhle und auf einem Dachboden mit Eulen, ein Mädchen, das sich gegen die Schule stellt und ein hoffnungsvolles Ende.

    Hallo Kirsten,
    herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Ich wünsche Dir alles Gute, Gesundheit, ganz viel Freude und Sonne, wundervolle Bücher und dass Du im neuen Lebensjahr Deinen Träumen ein Stück näher kommst!
    Viele Grüße,
    Ida
    :happygeburtstag

    @ Sigrid2110 und Buchdoktor:


    Danke für Eure Rezis - durch Euch bin ich auf dieses besondere, kunstvoll und sorgfältig gebaute und wunderbar geschriebene Buch aufmerksam geworden. Leseempfehlung für alle, die das Meer und den Wind im Gesicht lieben und gerne in ausführlichen Naturbeschreibungen schwelgen!

    Originaltitel: Les petits garçons naissent aussi des etoiles


    Klappentext:
    Matapari ist Drilling und kommt, beinahe vergessen im Bauch seiner Mutter, zwei Tage später zur Welt als seine beiden Brüder: am 20. Jahrestag der Unabhängigkeit seines Heimatlandes in Zentralafrika. Frech und umwerfend komisch erzählt der 15jährige Matapari von den Verwicklungen, die sich daraus ergeben und die Familiengeschichte auf das engste mit den politischen Ereignissen verknüpfen. Obwohl der Roman - zeitlich die Jahre 1980 bis 1995 umfassend - über große und ernste Themen spricht, geschieht dies mit Leichtigkeit und Charme. Dongala erzählt von afrikanischen Jugendlichen, die sich wie überall auf der Welt für Computer interessieren und für die neueste Jeansmode. er erzählt von Überlebenskünstlern, die mit Erfindungsgabe und Einfallsreichtum ihren Weg suchen in einer sich rasant verändernden Welt, die sich herumschlagen mit den grotesken Auswüchsen eines überkommenen Kommunismus, mit der "Wende" auf afrikanisch.


    Über den Autor:
    Emmanuel B. Dongala wurde 1941 in Alindao (Zentralafrika) geboren und wuchs in Kongo-Brazzaville auf. Er studierte in Frankreich und in den USA Chemie und war Professor für Molekularchemie an der Universität von Brazzaville. Als der Bürgerkrieg ausbrach, fand Dongala 1998 dank der Hilfe des bekannten amerikanischen Autors Philip Roth in den USA Asyl, wo er seitdem Chemie und afrikanische Literaturwissenschaft lehrt. Seine Kurzgeschichten - z.B. Palmwein, in der Anthologie Mondfrau (Peter Hammer Verlag 1998) veröffentlicht - und seine Romane haben Dongala literarischen Ruhm eingebracht. Für Kinder von den Sternen erhielt er den renommierten Preis "Tremoin du Monde" von Radio France Internationale.


    Meine Eindrücke:
    Matapari ist fünfzehn und erzählt seine Geschichte, die seiner Familie und seines Landes, der Volksrepublik Kongo, seit 1991 Republik Kongo. Sein Vater ist, wie schon der Großvater, ein angesehener Lehrer an der Dorfschule, die Mutter betreibt einen kleinen Handel auf dem Markt, um das Lehrereinkommen aufzubessern. Beide sind gebildet, Bücher und Wissen sind wichtig in ihrem Haushalt, in dem es oft nur eine einzige Mahlzeit am Tag gibt. Der Großvater ist eine wichtige Bezugsperson für Matapari und dann ist da noch Onkel Boula Boula, ein ehemaliger Boxer, klug, redegewandt und immer auf der Gewinnerseite. Er schafft es mit einem erfundenen Doktortitel aus der DDR und flammenden Reden zum zweitwichtigsten Mann im Staat neben dem kommunistischen Führer des Landes aufzusteigen. Staunend verfolgt Matapari, was da geschieht, und ist auch bei der beginnenden Demokratisierung des Landes Anfang der 1990er Jahre hautnah dabei. Onkel Boula Boula stürzt im freien Fall (um wie immer auf den Füßen zu landen und aus der neuen Situation das Beste zu machen), der Vater landet wegen seiner Forderung nach Demokratie und Mehrparteiensystem im Gefängnis, die Mutter kämpft mit Matapari für seine Freilassung, immer mehr Menschen gehen auf die Straße und erzwingen schließlich Veränderungen.


    Die Figuren sind liebevoll ausgedacht und gezeichnet, selbst Onkel Boula Boula ist liebenswert. Mataparis Familie ist ideal für einen Heranwachsenden: Der naturwissenschaftlich begeisterte Vater ist ein leuchtendes Vorbild für den Jungen und verfügt über eine bemerkenswerte politische Weitsicht. Die Religiosität der Mutter wird respektiert. Während des Umsturzes zeigt sich, dass auch in der Mutter eine Kämpferin steckt. Mataparis Brüder (ohne ihn Zwillinge, mit ihm Drillinge) sind eine wunderbare Angriffsfläche zum Kräftemessen, der Großvater ist ein weiser Ratgeber. Mir erscheint das ein wenig zu ideal; dennoch sind die Figuren bestens dafür geeignet, die Historie des Landes zu illustrieren. An einigen Stellen passt die Naivität des Erzählers für meine Begriffe nicht ganz zu einem Fünfzehnjährigen, andererseits musste ich hier und da lächeln und auch das eine oder andere googlen. Der Erzählton macht das Buch leicht und flüssig lesbar, auch wenn es um Themen wie den Umgang mit politischen Gefangenen, den Größenwahn von Politikern, über Armut auf der einen und Überfluss auf der anderen Seite geht.


    Ein Buch ohne großen Spannungsbogen, nett zu lesen, lesenswert für Leute, die sich für die jüngere Geschichte des Landes in Zentralafrika interessieren.

    Sophie Mol ist tot, mit neun Jahren gestorben während ihres Besuchs Ende der 1960er Jahre in Ayemenem im indischen Bundesstaat Kerala. Ihr Tod hat irgendwie mit den Zwillingen Estha und Rahel zu tun, mit der Familie Ipe und mit dem Fluss. Die Zwillinge sind sieben, als ihre Cousine beerdigt wird und als ihre Kindheit endet. Sie werden getrennt, Estha wird an seinen Vater zurückgegeben, Rahel muss bei der Familie ihrer Mutter bleiben, wo sie Essen und Trinken erhält, aber keine Liebe.


    Dreiundzwanzig Jahre später kehren Estha und Rahel nach Ayemenem zurück ins alte Haus der Familie, zu den Erinnerungen, zu ihrer Schuld. Können siebenjährige Kinder schuld am Tod eines Mädchens sein? Und am Mord an einem erwachsenen Mann? Was ist damals geschehen? Und warum?


    Die Familie Ipe, ehemals Großgrundbesitzer, nun Betreiber der erfolglosen Paradise Pickles & Konserven-Fabrik, befindet sich im Niedergang, der durch die Umstände von Sophie Mols Tod endgültig besiegelt wird. Neben den Familienmitgliedern der Ipes spielt der Fluss eine wichtige Rolle in der Geschichte, vielleicht ist er sogar die Hauptfigur. Und auch die Geschichte fließt, mäandert in verschiedenen Zeitebenen, teilt sich, kommt wieder zusammen, nimmt Treibgut mit sich, lässt es am Ufer zurück und trägt es dann doch weiter fort, unaufhaltsam bis zum Meer, das - möglicherweise - die Antwort auf alle Fragen kennt.


    Ganz nebenbei, sozusagen im Vorbeifließen, werden wichtige Themen in Indien angesprochen, Politik, die Stellung der Frau in der Gesellschaft, das Kastenwesen, der Umgang mit natürlichen Ressourcen, Umweltverschmutzung.


    Die Geschichte ist außergewöhnlich erzählt, in weiten Teilen aus Rahels Blickwinkel, voller Phantasie und mit viel Sinn für Details, eben für die kleinen Dinge, manchmal auch die ganz kleinen. Das ist sicherlich nicht jedermanns Geschmack; mir gefällt es. Manche Details fügen sich erst rückblickend zu einem Großen und Ganzen zusammen, vieles entdeckt man vielleicht erst beim Wiederlesen, das sich bei diesem Buch ganz bestimmt lohnt, wenn man es mag.


    Hier gibt es eine Leseprobe und hier einen ausführlichen Artikel bei Wikipedia.

    Originaltitel: Tales from the Town of Widwows & Chronicles from the Land of Men


    Klappentext:
    Man kann einfach nicht in Frieden leben, nicht in einer Welt, die von Männern regiert wird. Als eines schönen Sonntags zum wiederholten Mal Guerillakämpfer im kolumbianischen Dorf Mariquita einfallen, ist der Schrecken groß: Wieder plündern und morden sie, und wieder verschleppen sie bis auf den Priester jeden männlichen Bewohner, der älter als zwölf Jahre ist. Verlassen von Gott und Regierung droht Mariquita in Elend und Dreck zu versinken - bis Doña Rosalba viuda de Patiño, die Witwe des ehemaligen Dorfpolizisten, genug hat von all dem Chaos und Leid um sie herum. Resolut betritt sie das verwaiste Rathaus, lüftet kräftig durch und verteilt die Arbeit. Und siehe da, während draußen in den Bergen Männer gegen Männer kämpfen, rückt Mariquita mit jedem Jahr dem Himmel ein Stück näher. Wenn nur das Problemmit der Zeugung von Nachkommen nicht wäre, doch auch dafür scheint eine Lösung in Sicht.


    Ein Roman voller Wunder über die Absurdität des Krieges, erzählt in der Tradition der großen südamerikanischen Literatur. Staunend folgt man James Cañón in seine Heimat, an einen Ort, an dem die Zeit einfach stehen bleibt, als die Männer im Krieg endlich zu weinen beginnen.


    Über den Autor:
    James Cañón, geboren 1968 in Kolumbien, ging nach Abschluss einer Ausbildung in der Werbebranche nach New York, um Englisch zu lernen. An der Columbia University studierte er Creative Writing. Einige seiner Erzählungen wurden in verschiedenen literarischen Zeitschriften veröffentlicht. 2001 wurde er mit dem Henfield Prize vor Excellence in Fiction ausgezeichnet. Der Tag an dem die Männer verschwanden ist sein erster Roman.


    Meine Eindrücke:
    Mariquita ist ein Dorf in Kolumbien, ein ganz normales Dorf mit einer Plaza, einer Kirche, einem Bordell, Männern, Frauen, Kindern, Tieren - bis zum 15. November 1992, dem Tag, an dem die Männer verschwinden. Sie verschwinden nicht einfach so, sondern werden von kommunistischen Guerillakämpfern verschleppt oder sofort getötet, wenn sie sich wehren. Zurück bleibt das Dorf, ausgeraubt, geschändet, ohne Männer, Väter, Freunde, Söhne, Verlobte. Alle männlichen Bewohner, die älter als zwölf Jahre waren, sind fort, und die zurückbleibenden Frauen wissen, dass sie sie nie wiedersehen werden.


    Mariquita versinkt im Elend. Die Dorfbewohnerinnen hungern, die schwarzen Trauerkleider müssen immer wieder geflickt werden, es gibt keine Schule mehr, kein Wasser, keinen Strom. Die Häuser verfallen, Müll und Unrat sind überall. Nach einem Jahr beschließt Rosalba, die Witwe des Polizeisergeanten, dass sie endlich anfangen müssen, sich selbst zu helfen. Sie wird zur Bürgermeisterin ernannt und versucht, die Überlebensstrategien der Witwen zu koordinieren und Sauberkeit und Ordnung wiederherzustellen - mit mäßigem Erfolg. Einige Witwen sind ohne ihre Männer besser dran, doch die jungen, unverheirateten Frauen verzweifeln, weil sie als alte Jungfern sterben müssen und nie Kinder haben werden … Aber wohin sollen sie fortgehen, ungebildete Bauernmädchen, die sie sind?


    Die Episoden über Mariquita werden von kurzen Kapiteln unterbrochen, die aus Männersicht geschrieben sind, von Guerilleros, Söldnern, Kriegsveteranen. Insofern finde ich den Originaltitel passender als den deutschen Titel. Die Geschichten der Frauen und der Männer kommen leichtfüßig daher, sind voller Witz und manchmal so absurd, dass man lachen und sich sagen möchte, das alles sei gar nicht so schlimm, aber es ist schlimm und außerdem hart, brutal, unmenschlich, was da passiert. Da wird gemordet, verstümmelt, vergewaltigt, gebrandschatzt. Doch es gibt auch Hoffnung; die Männergeschichten wandeln sich kaum merklich, gegen Ende gibt es in ihnen nicht mehr nur Gewalt und Brutaltität, sondern auch Ansätze von Gefühlen und Mit-Leidensfähigkeit.


    Und die Frauen? Aus Mariquita wird eines Tages Neu-Mariquita. Nachdem irgendwann die letzte Uhr stehengeblieben und die Zeit verloren gegangen ist, entwickelt Rosalba einen neuen Kalender und eine weibliche Zeit. Sie sucht sich Verbündete und überzeugt die Dorfbewohnerinnen, eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen, in welcher alles geteilt wird, jede nach ihren Fähigkeiten arbeitet und das Beste gibt. Die einstmals gläubigen Katholikinnen kommen wunderbar ohne die Kirche und vor allem ohne den Padre aus, der sich als letzter verbliebener Mann im Ort mehr als eines Verbrechens schuldig gemacht hatte. Doch das Problem, dass Neu-Mariquita eines Tages aussterben wird, bleibt, und daran können auch die sich zart entwickelnden Liebesbeziehungen der Witwen untereinander nichts ändern.


    Ich ordne das Buch in "Zeitgenössisches" ein, auch wenn ungefähr ab der Mitte die Fiktion einer immer idealer werdenden weiblichen Welt überwiegt. Doch die in dem Roman auch beschriebenen Tatsachen der Lebenswirklichkeit in Kolumbien sind für mich zeitgenössisch.


    Dieses Buch verdient es, gelesen zu werden. Es ist grotesk - man denke an die Versuche von Doña Emilia, in einer männerlosen Welt ihr Bordell weiterzuführen! - schonungslos, tiefsinnig, anrührend, liebevoll und, nun ja, weiblich. Es bringt zum Weiterdenken über Lebens- und Gesellschaftsmodelle, über Beziehungsgeflechte und die Frage, was man zum Leben braucht.

    Namibia. Ich war dort. Nicht 1902 bis 1904 wie Nora, als es noch Deutsch Südwestafrika hieß, sondern 2010, und Noras Afrika war noch da: der Farbenrausch in der Savanne, das Meer aus verdorrtem Gras, durchzogen von grünen Bändern dort, wo unterirdische Bachläufe sind, der weite Himmel, das Leuchten, die Wüste, die Stille, die Hitze, der Staub, all das, was Kayla Fleming so wundervoll in diesem Roman beschreibt. Und Deutschland war auch noch da, irgendwie: deutsche Namen, Kässpätzle und Schwarzwälder Kirschtorte in der Speisekarte, der Bahnhof in Windhoek, der so deutsch aussieht, dass er in jeder beliebigen Kleinstadt in Deutschland stehen könnte, Erinnerungen an heldenhafte Siedler und Schutztruppen im Heimatmuseum von Tsumeb, Geschichte zum Anfassen.


    Waren das Helden? Sie siedelten sich in einem lebensfeindlichen Landstrich an, träumten von Glück und gutem Auskommen, wollten Bodenschätze abbauen und Eingeborene bekehren. Ich hatte das Gefühl, dass in manchen Südwesterkreisen der deutsche Heldenmythos bis heute äußerst lebendig ist: man hat etwas geschaffen, Heil gebracht, nur wussten es die Schwarzen nicht zu schätzen und wehrten sich, manchmal. Und herbe Verluste gab es auch auf deutscher Seite, bitteschön.


    Kayla Fleming greift das Thema auf, verpackt es in eine grandios erzählte Geschichte, die gegen Ende ein bisschen zu viel Pathos hat, zu viel Heroismus, zu viele Fügungen, und mich trotzdem sehr nachdenklich macht. Es geht um Menschlichkeit und Liebe, um die Liebe zwischen Mann und Frau, Mutter und Kind, und um die Liebe zu einem Land, das wunderschön ist. Mir stiegen beim Lesen einige Male die Tränen in die Augen - nicht gegen Ende, wie gesagt, das war mir ein wenig zu viel von allem, sondern mir wurde das Herz schon mittendrin so weit … Vielleicht liegt es an Namibia. Ich habe bei der Abreise geweint.


    Edit: fehlendes Wort ergänzt

    Ane lebt auf einer der sieben Inseln im Nordmeer. Sie ist fünfzehn und auf sich allein gestellt, denn das Meer hat ihren Vater bei sich behalten und nur sein leeres Fischerboot zurück gelassen, ihre Mutter ist in Kummer und Schweigen versunken und schaut nur noch aufs Meer hinaus, und die alte Frau, die Ane oft in ihrem Haus aus Treibholz an einer Klippe am Meer besucht hat, ist einfach verschwunden und nie zurückgekommen. Ane verdient ihren Lebensunterhalt als Putzmädchen im Wirtshaus, abends geht sie in das Haus der alten Frau und versucht sich in Magie, denn die Alte kannte viele Geheimnisse und hat Ane ein wenig in der Zauberkunst unterrichtet.


    Das Mädchen hasst das Meer. Und ist fasziniert vom Meer, von seiner Macht, seiner Schönheit und vom Reich unter dem Meer, von dem die alte Frau viele Geschichten erzählte. Ane will das Meer verfluchen, damit es niemals mehr etwas wegnehmen kann, was ihm nicht gehört, und sie tut es, indem sie selbstgemachte Hexengespinste ins Meer wirft, zusammen mit einem Fluch, der dem Meer die Magie nehmen soll und zusammen mit einer Botschaft von Kir. Kir, den Sohn des Königs, wollte die alte Frau in ihrer Hütte aufsuchen und traf Ane. Sie ist der erste Mensch, dem er anvertrauen kann, warum er eine so unstillbare Meeressehnsucht hat, dass er am liebsten vom Meer in sich aufgenommen werden möchte. Mit seiner Botschaft ans Meer und mit ihren Hexengespinsten, deren magische Kräfte viel stärker sind, als Ane dachte, beginnen merkwürdige Ereignisse.


    Ein riesiger Seedrache mit einem goldenen Halsband taucht vor der Insel auf, Fischer sehen Meerjungfrauen, hören Gesang und verirren sich in undurchdringlichem Nebel, Geisterschiffe werden gesichtet.


    Ane bekommt all die verworrenen Fäden in die Hand und macht sich daran, sie zu entwirren. Dabei entdeckt sie, dass die meisten Dinge zwei Seiten haben: das Meer, der König, der Seedrache, Kir und sie selbst. Denn sie ist viel mehr als das kleine Putzmädchen mit der unbestimmbaren Haarfarbe und den abgewetzten Kleidern - sie hat Herzenswärme und Verstand und sie kann lieben.


    Mit diesem Buch habe ich einen meiner bisher seltenen Ausflüge in die Fantasy gewagt, weil das Meer so liebe. Das Einzige, was ich an diesem Ausflug bereue, ist, dass meine Englischkenntnisse nicht ausreichen, um das Buch - und weitere der Autorin, mich hat's erwischt - im Original zu lesen. Die phantastische, poetische, bunte Sprache gleitet leider an einigen, zum Glück seltenen Stellen ins Flapsige ab, was ich als sehr unpassend empfand. Im Original heißt die Hauptheldin Periwinkle (danke an eine bestimmte Eule für den Hinweis!), Immergrün, und in der Übersetzung Anemone oder in der Kurzform Ane. Ich kann nicht sagen, ob dadurch etwas vom Meereszauber verloren gegangen ist. Mit der Anemone söhnt mich aus, dass auch sie zwei Seiten hat, sozusagen: es gibt sie an Land als Blume und im Meer als Seeanemone. Und damit passt sie eigentlich wieder ganz gut in die Geschichte.


    Das Meer, eine der Hauptfiguren in dem Buch, seine Schönheit und sein Zauber sind wundervoll beschrieben. Anes Entwicklung vom widerborstigen Teenager zur jungen Frau mit magischen Kräften hätte gerne mit mehr Tiefgang erzählt werden können und die Herkunft einiger Informationen erscheint mir ein wenig zweifelhaft, aber das hat meinem Lesevergnügen keinen Abbruch getan. Das Buch tut einfach so gut wie ein Bad im Meer an einem heißen Sommertag.

    Kurzbeschreibung (aus dem Buch):
    Der Roman "Das weiße Kamel" entfaltet vor dem düsteren Hintergrund der vierziger Jahre eine märchenhafte Gegenwelt, die in der Verbindung von episch-orientalischer und moderner collagenhaft-assoziativer Erzählweise höchste poetische Ausdruckskraft erreicht. Das Leben und Treiben im Altstadtviertel Bakus, der Hauptstadt Aserbaidshans, beschwört der sich an seine Kindheit erinnernde Alekber als verlorenes Paradies. Für den kleinen Alekber, der beim Anblick eines amerikanischen Füllfederhalters, diesem Wunderding von einem anderen Stern, beschließt, später einmal Bücher zu schreiben, sind die mystischen Geschichten vom weißen Kamel die Quelle seiner unstillbaren Neugierde.


    Über den Autor:
    Elçin, geboren 1943 als Sohn des Schriftstellers Ilyas Efendiyev in Baku, Aserbaidshan, wurde mit Erzählungen, Novellen und literaturkritischen Arbeiten bekannt. Sein erster Erzählband, "Eine von tausend Nächten", erschien 1966. Nach der Veröffentlichung weiterer Erzählungen (u.a. "Der Zug. Picasso. Latour. 1968", "Hotel Bristol", "Ein Autounfall in Paris") erhielt er während der Breschnew-Ära zwei Jahre Schreibverbot. Er übersetzte klassische und moderne Weltliteratur ins Aserbaidschanische. Elçin lebt in Baku.


    Meine Meinung:
    Ein Reisender wanderte auf dem weißen Kamel durch die Wüste. Das Kamel bewegte sich Schritt für Schritt ohne Eile geradeaus und eines Morgens wurde dem Reisenden klar, dass es die Eintönigkeit der Wüste, der Kamelschritte und des Sonnenaufgangs schon vor tausend Jahren gegeben hatte und auch noch in tausend Jahren geben werde. Unzählige Male durchschritt der Reisende mit dem weißen Kamel die Wüste und ging seinen Geschäften nach, bis das Kamel eines Tages verschwand. Der Reisende erkannte, dass es nicht gestohlen sondern davongelaufen war, denn da waren nur die großen Kamelspuren zu sehen, die wie Stempel in den Sand gedrückt waren und sich schließlich am Horizont verloren. Da wurde der Reisende sehr traurig und dachte bei sich: Ach, wäre ich doch nur mit dem weißen Kamel fortgegangen ...


    Solche Geschichten erzählt Balakerim den Kindern des Viertels und blickt mit verträumten Augen in die Ferne. Dann nimmt er seine Flöte aus der Tasche seiner gelben Jacke und spielt Lieder, die nur er kennt. Eines der Kinder ist der kleine Alekber. Er liebt Balakerim und dessen Flöte, den Maulbeerbaum, unter dem Balakerim sitzt, die sechs Söhne der Nachbarin Harim Hala, seine Trommelspielzeuge, die gerösteten Sonnenblumenkerne, die er manchmal geschenkt bekommt, den Waggonduft, der dem Gepäck seines Vaters entströmt, wenn er von einer Reise zurückkehrt und seine schöne Mutter Sona. Das Viertel liegt in der Altstadt von Baku, die Bewohner leben in dörflicher Idylle, helfen einander und kümmern sich zusammen um die Armen und Alten, auch wenn sie selbst nur wenig haben.


    Dann beginnt der zweite Weltkrieg, und bald gibt es keine Familie mehr im Viertel, die nicht einen Vater, Sohn, Bruder oder Bräutigam in den Krieg ziehen lassen muss. Man sagt, wenn das weiße Kamel kommt und sich vor einer Tür zum Schlafen niederlegt, dass es dann jemanden in dem Haus den Tod bringt. Und das weiße Kamel schläft nun oft im Viertel. Alekber trauert und mit ihm trauern der Maulbeerbaum, der Wind und sogar die Pflastersteine. Er möchte Schriftsteller werden und eines Tages aufschreiben, was mit dem Viertel geschah.


    Der erwachsene, fast fünfzigjährige Alekber blickt zurück auf seine Kindheit und auf die Zeit, die so schnell vergangen ist. Er schreibt seine Gedanken und die Geschichten vom weißen Kamel und den Bewohnern des Viertels nieder und lässt eine vergangene Welt auferstehen, die mit Wundern und Zauber, Wehmut und Sehnsucht angefüllt ist und durch den Krieg zerstört wurde. Denn nicht nur die Männer sterben im Krieg, sondern auch das Viertel - der Maulbeerbaum, die Spatzen, die gelbe Katze …


    Elçin hat vermutlich einiges von dem, was dem kleinen Alekber widerfährt, selbst erlebt und erzählt feinfühlig in einer schlichten Sprache über den Alltag und die Menschen des Viertels, über die Träume und Mythen, über die Vergangenheit und Vergänglichkeit und wie wundersam das Älterwerden ist.


    Dieses zarte, stille Buch hat mich berührt und ist für mich eine kleine Entdeckung.


    Edit: Tippfehler korrigiert

    Kurzbeschreibung (von Amazon):
    Eine anatolische Kleinstadt in den fünfziger Jahren. Hier wächst Leyla als jüngstes von fünf Geschwistern auf, im engen Kreis der Familie und der Nachbarschaft, und hegt einen großen Wunsch: Sie will dieser Welt entkommen. Feridun Zaimoglu wendet den Blick zurück auf das Land, aus dem er mit seinen Eltern kam. Ein Land, erstarrt im Kalten Krieg, in dem ein strenger Glaube den Alltag durchdringt, die Familien dem Vater unterstehen, den Frauen ein bescheidener Platz zugewiesen ist – und in dem all das ins Wanken gerät. Er lässt die heranwachsende Leyla ihren Alltag erzählen, von den Vormittagen in der Schule, den Nachmittagen im Kreise der Schwestern, die an ihrer Mitgift sticken, und dem Leben in der Kleinstadt, in der Armut herrscht und jeder sein bescheidenes Auskommen sucht. Leylas Vater hat keinen Erfolg, verliert seine Anstellung als Bahnbeamter und schlägt sich mit immer windigeren Geschäften durch. Die Brüder gehen ihrer Wege, rebellieren gegen den Vater, die Schwestern warten auf den Mann, der für sie ausgesucht wird, und hoffen auf die große Liebe. Leyla erobert sich kleine Freiheiten, die sie wieder verliert, als sie zur Frau wird. Und sie kommt einem dunklen Familiengeheimnis auf die Spur. Erst der Umzug der Familie nach Istanbul eröffnet neue Möglichkeiten: Leyla lernt einen Mann kennen und verliebt sich, doch die beiden haben keine Zukunft in der Türkei. Mit epischer Kraft und einer sinnenfrohen, farbenprächtigen und archaischen Sprache erzählt Feridun Zaimoglu vom Erwachsenwerden eines Mädchens, dem Zerfall einer Familie und von einer fremden Welt, aus der sich viele als Gastarbeiter nach Deutschland aufmachten.


    Über den Autor:
    Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im anatolischen Bolu, lebt in Deutschland. Er studierte Kunst und Humanmedizin in Kiel, wo er seither als Schriftsteller, Drehbuchautor und Journalist arbeitet. Er war Kolumnist für das Zeit-Magazin und schreibt für die Welt, die Frankfurter Rundschau, Die Zeit und die FAZ. 2002 erhielt er den Hebbel-Preis, 2003 den Preis der Jury beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt und 2004 den Adelbert-von-Chamisso-Preis. Im Jahr 2005 war er Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Im selben Jahr erhielt er den Hugo-Ball-Preis.


    Meine Meinung:
    Leyla wächst in den 1950er Jahren mit zwei Brüdern und zwei Schwestern in Anatolien auf. Ihre Mutter erzieht sie streng, aber liebevoll, die älteren Geschwister erziehen sie mit. Und der Vater, den die Ich-Erzählerin nur den Mann ihrer Mutter nennt. Der Vater tyrannisiert die ganze Familie, zwingt allen seinen Willen und seine Grundsätze auf, an die er sich selbst am wenigsten hält, geht dubiosen Geschäften nach und stürzt die Familie mehr als einmal an den Rand des finanziellen Abgrunds.


    Leyla nimmt uns mit in ihre verwirrende Welt. Da sind die Schwestern, schön, lieb und sittsam, die ihre Träume von der großen Liebe in ihre Handarbeiten für die Aussteuer reicher Mädchen einnähen und den schmalen Lohn an den Vater abgeben müssen. Da sind die Brüder, der eine sensibel und verträumt, der andere immer im Schatten des Vaters, die viel mehr Freiheiten genießen als die Mädchen für den Preis, dass sie sich vorbehaltlos auf die Seite des Vaters stellen sollen. Und da ist die Mutter, eine warmherzige, kluge Frau, gefangen in sich selbst und in ihrem Leben, die oft nur einen harten Brotkanten zum Essen hat, den sie in Wasser taucht. Und der Vater. Was ist das für ein Mann, der so hartherzig und selbstsüchtig ist, der prügelt und grausam bestraft? Der seine Frau dafür verachtet, dass sie geschändet war, als er sie heiratete? Später erfahren wir, dass er Zeuge ihrer Vergewaltigung durch mehrere Männer während des Krieges wurde und das zerrissene Mädchen zur Frau nahm - vielleicht aus Scham, weil er ihr nicht helfen konnte, vielleicht auch aus Liebe. Und da sind Leylas Freundinnen, vor allem Manolya, die aus reichem Hause stammt und vor nichts Angst hat.


    Feridun Zaimoglu fängt die Bilder einer vergangenen Zeit ein, die vielerorts in der Türkei womöglich noch gar nicht vergangen ist, und knüpft daraus einen orientalischen Teppich mit farbenfrohen, wiederkehrenden Mustern. Ich habe das Buch trotz einiger Längen gerne gelesen und mich von Leyla in ihre Welt entführen lassen.


    Leylas Geschichte ist die Geschichte von Zaimoglus Mutter, lesenswert für alle, die sich für das Leben in der Türkei außerhalb der Urlaubsorte interessieren und sich auf eine lange Geschichte einlassen wollen.


    Interessant ist auch dieses Interview zur Entstehung von "Leyla" und zu den entstandenen Plagiatsvorwürfen.


    ASIN/ISBN: 359617621
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    Tolle Sachen macht Ihr!


    Ich bin heute über dieses Buch gestolpert und fand es witzig - Stricken ist zwar überhaupt nicht mein Thema, aber nachdem hier so viele ambitionierte Sockenstrickerinnen posten, stelle ich's einfach mal ein.

    Originaltitel: L'Ilets-aux-Vents


    Kurzbeschreibung (von amazon):
    Siloo Bali ist auf der "Insel der Winde", einem entlegenen französischen Übersee-Departement, zuhause. Er lebt dort mit einem Hund, zwei Brüdern, drei Schwesten und seinen beiden Bäumen, Arbi und Arbo. Ein Leben von paradiesischer Ereignislosigkeit, wären da nicht der Vertreter, der den Eltern eine hochexplosive Enzyklopädie des Wissens andreht, der Lehrer Albercadaire, der so unerwartet aus "Unseremschönenfrankreich" auftaucht, wie er nach Djibouti entschwindet, nicht ohne Siloo Bali zwei beunruhigende Bücher zu hinterlassen, sowie ein Walfischjunges, welches das Jagdfieber der Insulaner weckt - und Siloo Balis Mitgefühl.
    Begag erzählt voll Witz und Poesie von einem, der auszieht, das Leben und das Lesen zu entdecken - und dabei den seinen immer fremder wird. Vom Abenteuer des Alphabets in einer Welt, in der die meisten noch nicht lesen und schreiben können, vom Verlust der Unschuld, vom Gefühl der Verlorenheit, vom Fernweh und der Suche nach den Wurzeln, in den Geschichten, die Siloo Bali in seinem Baumhaus über den Klippen am Meer verschlingt.


    Über den Autor:
    Azouz Begag, 1957 als Sohn von algerischen Einwanderern in Lyon geboren, ist Wirtschaftswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller. Vom 2. Juni 2005 bis zum 5. April 2007 war er beigeordneter Minister für die Förderung der Chancengleichheit. Er hat zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht.
    Ausführliche Informationen gibt es hier.


    Meine Meinung:
    Insel der Winde ist ein Dorf auf der Insel der Winde, wo es mitten im Sonnenschein unverhoffte Wolkenbrüche gibt und ansonsten nicht viel passiert. Die Bewohner von Insel der Winde sind einfache Leute. Sie leben in Großfamilien in armseligen Hütten, halten Hühner und Ziegen, arbeiten als Straßenkehrer oder Mechaniker in der Inselhauptstadt Saint-Arnaud und haben zu tun, ihre Kinder satt zu bekommen.


    Siloo ist ein Junge, der seine Eltern und Geschwister und den Hund Morleut und die Ziege Bichette lieb hat, aber er ist einsam. Die Freundschaft zum Nachbarsjungen Samy ging in die Brüche und seine besten Freunde sind Arbi und Arbo, zwei Bäume auf einer Klippe, von der aus man weit aufs Meer hinaus schauen kann. Und das Meer fasziniert ihn. Er hat Tag- und Nachtträume von Walen und der Unterwasserwelt und er hat Hemingways "Der alte Mann und das Meer" schon achtmal in seinem Baumhaus gelesen und achtmal geweint. Was stimmt nicht mit Siloo? Die anderen sagen, er sei nicht richtig im Kopf. Er bleibt für sich. Eines Tages bekommt die Schule einen neuen Lehrer (sie hat nur einen), Albercadaire. Zu ihm bekommt Siloo eine besondere Verbindung und lernt viel, zum Beispiel, wie wichtig Wurzeln sind - klar, ohne Wurzeln würden Arbi und Arbo sich nicht auf der Klippe halten können. Albercadaire ist auch einsam und irgendwie entwurzelt und plötzlich verschwindet er, geht einfach fort. Was bleibt, ist ein Päckchen, das Siloo später per Post von ihm bekommt.


    Eines Tages verirrt sich ein Wal in die Gewässer vor der Insel der Winde. Ein riesiggroßer, wunderschöner, majestätischer Wal! Ein Grund mehr, sich aufs Meer hinaus zu träumen.


    Dieses Büchlein erzählt auf anrührend-komische Weise und dabei voller Poesie von einem Jungen in großer Einsamkeit, der voller Verzweiflung versucht, der Insel der Winde zu entkommen. Dabei ist das ein idyllischer Ort - manchmal. Wenn er allein in seinem Baumhaus dem Flüstern der Blätter lauscht und das Salz in der Luft riechen kann. Aber da ist auch das harte Leben, der Gegensatz zu den Menschen in der Hauptstadt und, schlimmer noch, der zu den Touristen, die in den feinen Hotels absteigen.


    Auf der Insel der Winde gibt es Touristen? Und große Hotels? Ja, denn die Insel ist gar nicht so klein, wie man anfangs vermutet. Und vielleicht ist es auch gar keine richtige Insel, kein von Wasser umgebenes Land, sondern einfach ein Ort, an dem die Menschen von der übrigen Welt abgeschottet sind, ein Symbol. Und wenn man den Lebenshintergrund des Autors berücksichtigt, dann kann man interpretieren, dass es um die Randgebiete von französischen Großstädten geht, um Immigranten, die in Unsermschönenfrankreich (so heißt das Land in dem Buch) nicht richtig ankommen sondern eher auf der Durchreise nach Irgendwo sind.


    Aber man kann das Buch auch als Geschichte über einen Jungen auf einer Insel irgendwo im Ozean lesen, der auf der Suche nach sich selbst ist. Und alle, die das Meer lieben, können sich in der Geschichte wiederfinden.


    Schön geschrieben, grotesk und traurig, nachdenkenswert.

    "Nieve" bedeutet "Schnee", und genauso wenig wie Schnee in die Karibik passt das Mädchen Nieve ins Kuba der 1970er und 1980er Jahre. Ihre Mutter ist Künstlerin und Radiomoderatorin, unangepasst, ein bisschen hippiemäßig, Freunde und Künstlerkollegen gehen ein und aus. Dieses Umfeld, die vielen Umzüge und die schlimmen Erlebnisse als Kind, die im ersten Teil des Buches als "Tagebuch der Kindheit" verarbeitet sind, lassen Nieve zu einer jungen Frau heranwachsen, die meist außerhalb steht. Die einzige Konstante in Nieves Leben ist ihr Tagebuch, und im zweiten Teil, dem "Tagebuch der Jugend", notiert sie (Zitat S. 132): "Es ist die Zeit des kalten Krieges, des Krieges jugendlichen Schweigens. Wenn du nicht Teil der Gruppe bist, hast du keinen Freund … du wirst zu jemandem, der nicht zählt … Sie können es nicht ertragen, dass du deine eigene Welt hast, und ich ertrage es nicht, dass sie mich zurückweisen."


    Nieve wächst in einer Welt heran, in der man aufpassen muss, was man sagt, mit wem man spricht, welche Bücher man liest, welche Konzerte man besucht, welche Gemälde man betrachtet, mit wem man befreundet ist, und ihre Mutter und damit auch Nieve haben Zugang zu vielen Dingen, die verboten sind. Das Mädchen hat oft das Gefühl, die Mutter beschützen zu müssen. Über alldem steht der Wunsch, das Land zu verlassen, so, wie es jeder tut, der die Möglichkeit dazu bekommt. Doch Nieve kann nicht gehen, dazu braucht sie die Einwilligung ihres Vaters - aber der ist nach Miami gegangen. Nach und nach leert streicht sie immer mehr Telefonnummern von Bekannten aus ihrem Notizbuch. Alle gehen fort, auch Nieves erster Freund, ein Maler. Er geht nach Paris, Nieve soll nachkommen, doch er vergisst sie im Laufe der Zeit. Sie ist unglücklich und orientierungslos, nur das Tagebuch bleibt. Nieve lässt sich treiben.


    Mit zwanzig verliebt sie sich in Antonio. Er liest das Tagebuch und versucht ihr zu erklären, dass sie ein Teil der Welt ist und setzt ihre Jugendzeit in Bezug zum Weltgeschehen. In der Sowjetunion ist Perestroika, in Deutschland fällt die Mauer - was bedeutet das für Kuba? Sie kann ihn nicht mehr fragen, auch Antonio geht fort, wenn auch anders als die vielen anderen. Nieve harrt aus.


    Der wohl stark autobiographisch geprägte Tagebuchroman (an einer Stelle nennt sich die Erzählerin Nieve Guerra) erzählt hautnah und im Ton trotzdem distanziert über das Leben in Kuba. Ich habe mich darüber gewundert, dass ein solches Buch entstehen konnte, denn die Autorin lebt und arbeitet in Havanna und beschreibt sehr kritisch, wie die Politik immer wieder Einfluss auf das Privatleben nimmt. Das Buch erschien in Spanien; ich habe nichts darüber gefunden, dass es auch in Kuba erhältlich ist. Beim Tagebuch der Kindheit war ich gespannt, ob Nieve es schafft, sich aus dem gewalttätigen Umfeld zu befreien; das Tagebuch der Jugend hat mich auf eine andere Art, die ich gar nicht genau beschreiben kann, in den Bann gezogen. Nieve scheint meist in melancholischer Stimmung zu sein, vieles nimmt sie einfach hin. Kann oder will sie keine eigenen Entscheidungen treffen? Ich habe immer darauf gewartet, dass sie sich irgendwie befreit. Insofern passt für mich der Schluss:



    Ich habe das Buch gern gelesen und ich denke, dass ich irgendwann beim Wiederlesen noch interessante Details entdecken werde.

    Originaltitel: Sorry


    Klappentext:
    Perdita wächst bei ihrer wahnsinnigen Mutter und ihrem verbitterten Vater in der australischen Wildnis heran, in einer Hütte voller Zeitungsausschnitte über den Zweiten Weltkrieg und vermodernder Bücher, in denen Schlangen hausen. Die Shakespeare-Zitate der Mutter bilden die Grundlage von Perditas spärlicher Bildung. Verwildert und frei, sucht sie Liebe bei dem taubstummen Sohn der Nachbarn und in dem Aborigine-Hausmädchen Mary. Perdita scheint zufrieden mit ihrem Leben in diesem gottverlassenen Winkel der Erde bis zu dem Tag, an dem ihr Vater erstochen aufgefunden wird. Mary bekennt sich schuldig und wird verhaftet, Perdita verliert das Gedächtnis und kann fortan nur noch flüstern und stottern. Erst als sie die wahren Umstände des Mordes zu erinnern gezwungen ist, findet sie auch ihre Sprache wieder ... Gail Jones verwebt die Biografien ihrer Figuren über Generationen und Kontinente hinweg. Shakespeares Dramen und Sonette, Joseph Conrad, Emily Dickinson und andere bilden die literarische Kulisse dieser Geschichte über Erinnern und Vergessen, Verlust und Sprache, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit. Perdita ist Gail Jones Beitrag zur Debatte um die Entschuldigung der australischen Regierung für ihre unmenschliche Behandlung der Aborigines.


    Über die Autorin:
    Gail Jones, geboren 1955 in Westaustralien, unterrichtete Englisch, Kommunikation und Kulturwissenschaft an der University of Western Australia, heute lebt und arbeitet sie in Sydney. Ihre Bücher sind im englischsprachigen Original sämtlich mehrfach ausgezeichnet. "Perdita" stand 2008 auf der Short List des Miles Franklin Award und auf der Long List des Orange Prize.


    Meine Meinung:
    Perditas Mutter Stella träumt in ihrem neuen Land oft den Schneetraum: Große weiße Flocken fallen sanft und scheinen sich in Luft aufzulösen, sie erzeugen ein Gefühl des Schwebens und löschen Erinnerungen aus.


    Stella fühlt sich in der Schwebe, seit sie von ihrem Mann aus London nach Australien verschleppt wurde, wo er bahnbrechende Entdeckungen als Anthropologe machen will. Es ist keine Liebe zwischen ihnen, die Hochzeit sollte ihre bescheidenen Leben mit Sinn erfüllen. Die Behausung im Busch irgendwo bei Broome ist armselig, eine windschiefe Hütte ohne Strom und Wasser, die Mitglieder einer Farmerfamilie sind die einzigen Weißen in der Nachbarschaft. Stellas Halt und Antwort auf alle Fragen ist Shakespeare; sie liebt und rezitiert vor allem die Tragödien. Für Stella ist völlig unbegreiflich, wie in dieser feindlichen Welt menschliches Leben entstehen kann, und sie hat keinerlei Muttergefühle für ihre Tochter Perdita.


    Perdita wächst weitab von der Zivilisation auf. Sie ist allein, bis sie sich mit dem taubstummen Nachbarssohn Billy anfreundet, der sie wortlos versteht. Sie wird von ihrer Mutter unterrichtet, ohne Plan, ohne Struktur und mit Shakespeare als Hauptfach, und sie bekommt ein verdrehtes Halbwissen über die Welt. Bei ihren Streifzügen mit Billy erahnt sie, dass Shakespeare nicht die Antwort auf alle Fragen weiß. Sie bekommt eine ältere Schwester, als Mary in ihr Leben tritt. Mary ist die Tochter eines Weißen und einer Eingeborenen, wurde ihrer Mutter weggenommen und in ein Waisenhaus gesteckt. Nun soll sie Perditas Familie unterstützen, während Stella in eine Klinik muss, weil ihr Geist sich immer weiter von ihrem Körper entfernt.


    Die drei Kinder haben eine glückliche Zeit, vor allem dann, wenn Perditas Vater nicht zu Hause ist. Mary zeigt Perdita und Billy die Geheimnisse des Busches und nimmt sie mit zu einer Sippe von Eingeborenen. Sie lesen viel, erzählen Geschichten und sind wie eine kleine, zerbrechliche Familie. Währenddessen tobt der zweite Weltkrieg; der Vater verfolgt das Kriegsgeschehen und tapeziert die Hütte mit Zeitungsartikeln über das Kriegsgeschehen.


    Perdita begreift nicht, was manchmal nachts geschieht, wenn ihr Vater Mary wehtut. Mary bleibt auch, als Stella wieder nach Hause kommt, und hilft im Haushalt.


    Das Familienleben findet ein schreckliches Ende. Perditas Vater wird erstochen, als er Mary vergewaltigt. Marys Kleid ist voller Blut des Ermordeten, Stella, Perdita und Billy werden Zeugen des Mordes. Mary gesteht ihre Schuld und wird eingesperrt.


    An diesem Tag verliert Perdita ihre Sprache. Sie beginnt zu stottern, ihr Mund kann keine Worte mehr bilden und Billy fällt es schwer, ihr von den Lippen abzulesen. Über den Tod des Vaters wird nicht gesprochen. Aufgrund der Kriegsereignisse, die nun auch Australien erreichen, müssen Stella und ihre Mutter nach Perth flüchten, und so verliert Perdita auch noch Billy. Sie muss sich um ihre Mutter kümmern, ist isoliert in ihrer Sprachlosigkeit, fühlt sich wertlos und beschädigt.


    Sprechen ist ein wichtiges Thema des Romans, beinahe noch wichtiger ist das Nicht-Sprechen. Was passiert, wenn das, was geschieht, nicht in Worte gefasst werden kann? Wenn Gedanken unausgesprochen bleiben? Perdita wird übersehen, fühlt sich unwichtig und immer kleiner. Sie hat Angst, eines Tages ganz zu verschwinden. Erst als sie zu einer Pflegefamilie kommt, weil ihre Mutter psychisch und physisch immer mehr zerfällt, erhält sie die Chance, die Sprache wiederzufinden und damit auch die Erinnerungen, die in den Flocken des Schneetraums verschwommen waren.


    "Perdita" ist ein leises Buch über ein traumatisiertes Kind, über die Suche nach Liebe, nach Antworten, nach Halt, über das Staunen, über das Sichtbare und das Unsichtbare, über soziale Probleme im Australien der 1930er und 1940er Jahre. Die Geschichte ist verknüpft mit dem zweiten Weltkrieg - Menschen sind Ereignissen ausgeliefert; Kinder den Erwachsenen. Perdita erzählt im Rückblick; sie spricht von sich und den anderen meist in der dritten Person. Vieles erkennt sie erst, als sie selbst erwachsen ist. Einige wenige Passagen als Ich-Erzählerin lassen die Geschichte real erscheinen. Wundervoll geschrieben, tiefsinnig, lesenswert.