In meiner Familie hatte man viel zu wenig Zeit, um mir so oft und intensiv vorzulesen, wie ich es gern gewollt hätte. Vor allem weigerte man sich, mir immer und immer wieder die gleichen Märchen vorzulesen, oder den wöchentlichen "Mecki" in der Hörzu. Mit fünf konnte ich es kaum erwarten, endlich unabhängig zu werden. Ostern wurde ich eingeschult, Weihnachten mühte ich mich schon mit dem ersten Mecki. Welch ein Triumph! Ich kann mich heute noch erinnern, wie sich mir ganz allmählich und mühevoll über die Feiertage der Sinn der Buchstaben dieser kurzen Geschichte erschloss.
Wenig später bekam ich mein erstes eigenes Buch geschenkt, eines das mir ganz allein gehörte, das niemand anrühren durfte! - und damit war ich verloren. Zum Glück ließ mich meine Familie ab dem Zeitpunkt absolut in Ruhe, wenn meine Nase in einem Buch steckte. Ich brauchte den Rasen nicht zu mähen, nicht abzutrocknen, nicht zu stricken, :-]... Ich glaube, ich bin das einzige Kind auf der Welt, das gern zum Zahnarzt ging, obwohl er oft bohrte. Als Belohnung bekam ich nämlich jedes Mal ein Buch geschenkt. Erst "Nesthäkchen", dann "Pucki" (diese Bände liest gerade meine Enkelin mit Begeisterung - das hätte ich niemals für möglich gehalten, weil sie doch hoffnungslos veraltet sind), dann "Karl May" und schließlich "Hanni und Nanni"...
Außerdem stand mir (bis auf eine gewisse Abteilung) der Bücherschrank meiner Eltern offen. Natürlich war ich Stammgast in der Stadtbücherei, aber das hatte zwei gewaltige Haken: Erstens, die Bücher rochen so komisch, und zweitens, ich musste sie wieder zurückgeben, auch wenn sie mir noch so gut gefielen.
Mir geht es heute auch so, dass ich vom Stadtbummel nur mit Büchertüten zurückkomme. Fremde Städte erarbeite ich mir über die dortigen Buchhandlungen. So habe ich, als ich vor Jahren vollkommen fremd und einsam in New York aufschlug, ganz schnell bei Barnes and Noble eine Heimat gefunden. Und den "Vorleser" von Schlink entdeckte ich in einer kleinen Buchhandlung in Dublin, ein halbes Jahr, bevor hierzulande der Hype begann.
Ach, tausend Geschichten fallen mir ein... Lesen ist etwas Herrliches, und deshalb bin ich über Harry Potter so glücklich, weil er die Kinder und Jugendlichen "anfixt". Denn wer einmal beim Lesen die Welt vergessen hat, der wird sein Leben lang auf der Suche nach einer Wiederholung sein und reich beschenkt werden.