Beiträge von Buecherturm

    Ich mag die neue Grace.

    Schon die ersten Seiten werfen so viele Fragen auf. Wieso sind die Eltern fast schon abweisend gegenüber der einen Tochter und himmeln die jüngere Tochter an? War den Eltern nicht von Anfang an klar, dass Grace sie verlassen muss, wenn sie in Hollywood Karriere macht? Die Eltern waren ja einverstanden, oder?


    Ich kann Dylan nicht verzeihen, wie er sich Grace gegenüber verhalten hat. Verdammt noch mal, er ist ihr Ehemann, in guten und in schlechten Zeiten, oder? Warum macht er dicht, wenn sie sich ihm gegenüber endlich öffnen will, ihm erzählen will, was Able ihr jahrelang angetan hat. Seine eigene Bequemlichkeit ist ihm wichtiger. Wenn er nichts weiß, muss er nicht reagieren, muss er nicht Able zur Rede stellen.


    Nachdem Dylan sich geweigert hat, Grace zuzuhören, zieht Grace die Konsequenzen. Sie verlässt Dylan, sie verlässt Hollywood, zieht sich zurück zu ihren Eltern. Dass Ihre Eltern sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen haben, dass sie Esme, die jüngere Schwester bevorzugen und dass sie Grace alles vorwerfen, ob es nun stimmt oder nicht, ist kaum auszuhalten. Aber Grace hatte ein Jahr Zeit, sich aus der Öffentlichkeit komplett zurückzuziehen. Ihre Rückkehr ist denkbar schwierig. Dylan hat inzwischen eine neue Freundin, ihre ehemalige Assistentin, ihre ehemaligen PR-Berater und Agenten erwarten von ihr, die alte Grace zu sein, aber sie kann nicht zurück, sie weigert sich. Denn dieses Jahr ist nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Sie ist geläutert, auch wenn sie noch unsicher ist, noch mit sich selbst viel zu kämpfen hat.


    Aber etwas hat sich nicht geändert. In ihrer Zeit als Teenie-Star und auch jetzt lauern ihr ständig wildfremde Menschen, Verkäufer, Paparazzi, vermeintliche Freunde auf, verfolgen sie, fotografieren sie am liebsten ungeschminkt und verschwitzt, mit einem gehetzten Gesichtsausdruck oder wenn sie sich eine Koksline reinzieht. Auf die britischen Royals wurden auch solche Fotosafaris veranstaltet, wie auf Grace. Ich erinnere nur an Lady Diana, die auch in der Fitnesshalle noch heimlich fotografiert wurde. Genau so ergeht es nun Grace.


    Das Verhältnis zu ihrer Schwester Esme ist zuerst angespannt, sie sind sich ja entfremdet, sie müssen erst lernen, wieder Vertrauen zueinander zu fassen. Erst nach und nach kommen sie sich wieder näher, lernen sich schätzen und akzeptieren, so wie sie sind.

    Und peu à peu kommt auch ans Tageslicht, was Grace in ihrer Jugendzeit angetan wurde und wie geschickt Able sie manipuliert hat: Er hat Gerüchte über sie gestreut, hat sie in die totale Isolation gedrängt, sie als psychisch labil dargestellt. So hatte sie keine Möglichkeit, sich jemandem zu öffnen, ihr Herz auszuschütten. Wenn man psychischen und sexuellen Missbrauch jahrelang erleiden muss, wird man abhängig von der dominanten Person, glaubt ihm am Ende auch, ist überzeugt, dass seine Behauptungen stimmen. Stockholm Syndrom wird zwar im Zusammenhang mit Entführungen gebraucht, trotzdem drängt sich in diesem Kontext dieser Begriff auch auf.

    Wenn die eigenen Eltern sich zurückziehen - es ist ja einfacher, vom Geld der Tochter zu leben als sich ihre Probleme anzuhören -, oder der eigene Ehemann sie abblockt, dann bleibt Grace nichts anderes übrig, als die Reißleine ziehen und für ein Jahr von der Bildoberfläche verschwinden. Was ich nicht verstehe, wieso hat Dylan, der sie ach so liebende Ehemann, sie nicht richtig gesucht? Nicht bei ihren Eltern vorbeigeschaut, nachgefragt, nachgebohrt? Sich eine neue Freundin in Graces Haus zuzulegen, war in der Tat bequemer.


    Das gesamte soziale Umfeld hat bei Grace in corpore versagt. Freundinnen hatte Grace am Filmset keine, sie kam ja aus England. Agentin, Impressar, Pressesprecher, alle hatten ihre eigenen Interessen in den Vordergrund gestellt. Die wenigen Lehrer, die Abe ihr am Set zugestand, durften keinen richtigen Kontakt zu ihr aufbauen, damit sie niemandem etwas vom Missbrauch erzählen konnte. Und wenn Grace es doch tat, wurden die Lehrkräfte schnellstens entlassen und Grace wurde gezwungen zu bekennen, das wäre nur ihre Phantasie gewesen, die mit ihr durchging. Abe ließ keine noch so kleinen Schlupflöcher offen.

    Doch nun ist Grace wieder da. Abes Frau nimmt sie mit offenen Armen auf, gibt vor, ihre Freundin zu sein, ist aber im Grunde nur darauf bedacht, ihr eigenes, komfortables und luxuriöses Leben fernab von Skandalen oder Scheidung fortführen zu können.


    Aber Grace hatte ein Jahr lang Zeit, Kräfte zu sammeln, sich zu läutern und sich dieses Leben nicht mehr gefallen zu lassen. Sie beginnt, ihre junge Schwester zu schützen, und baut eine neue Beziehung zu ihren Eltern auf, denen es langsam dämmert, was sie an ihrer Tochter verbrochen haben.


    Grace traut sich, was sie vor einem Jahr nie gewagt hätte: Die neue Grace traut sich Fladenbrot mit Käse und karamellisierten Zwiebeln zu essen und Zucker in den Kaffee zu tun. Und das in Los Angeles. Klingt einfach und normal, oder? Nicht in Hollywood, wo perfektes Aussehen und ewige Jugend ausschlaggebend für den Erfolg sind.


    Auf einer großen, medial viel beachteten Preisverleihung offenbart nun Grace alles, macht den jahrelangen Missbrauch publik: “Danke, dass du mir gezeigt hast, auf wie viele unterschiedliche Arten man verletzt werden kann - jeden einzelnen Tag, selbst wenn du nicht einmal in meiner Nähe bist.” (S. 435)


    Das Buch entstand in der Zeit als die Me-Too-Bewegung an Fahrt aufnahm und wird zu einem Teil von ihr. Ich finde, die Me-Too-Bewegung hat nicht nur in Hollywood bewirkt, dass das Leben etwas sicherer geworden ist. Dem Macho-Gehabe wurde ein riegel vorgesetzt, in Hollywood und anderswo.

    Der Geruchssinn wird von Menschen oft unterschätzt. Dieses Buch deckt auf, wie wichtig er sein kann.

    Der Handlungsort dieses Romans ist Taiwan. Eine kleine Insel, 36.197 km², mit einer Bevölkerungszahl um die 23,5 Millionen. Das Besondere daran ist die Lage: 180 km von der chinesischen Küste und 1721 km Fluglinie von Peking entfernt. Das kommunistische China betrachtet Taiwan als Teil Großchinas und die Bedrohung einer Invasion ist ständig da. Im Falle Tibets hat China nicht viel Federlesens gemacht. Am 01. September 1965 annektierte China Tibet einfach, nannte es zum Schein “Autonomes Gebiet Tibet” und das unabhängige Buddhistische Land Tibet war Geschichte. Oder Hongkong: 1997 wurde Hongkong friedlich von den Briten an China übergeben und wurde zur chinesischen Sonderverwaltungszone unter Beibehaltung einer freien Marktwirtschaft und zugesagter innerer Autonomie. Das blieb in der Tat auch so einige Jahre, doch nach und nach begann China die Autonomie zu reduzieren und die Freiheiten zu beschränken, die Schrauben anzuziehen. An den Schulen wird vor allem chinesischer Patriotismus gelehrt, Proteste sind in Hongkong verboten, Andersdenkende werden verhaftet. Die Kommunistische Partei greift hart durch. Und mit diesen Bildern vor Augen leben die Taiwanesen und sind sich bewusst, China kann sie jederzeit überrollen, wenn nicht die USA und Japan sie unterstützen würden.

    Und trotzdem, in Katniss Hsiaos Buch spürt man nichts davon. Ich hätte da schon zumindest einen Satz, einen halben Satz erwartet, wie die Menschen mit dieser bedrohlichen Situation fertig werden.

    Das Buch ist interessant, mit zwei spannenden Höhepunkten, aber sehr morbide. Weil Yang Ning, von Beruf Tatortreinigerin, der Geruchsinn abhanden gekommen ist, braucht sie den Geruch des Todes, um anschließend mit ihrer sehr feinen Spürnase das Geschehen am Tatort deuten zu können. Das geht so weit, dass sie sich ins Bett neben eine Leiche legt, da, zwischen Maden und Würmern einschläft und erst aufwacht, als die Familie des Opfers und ihre Kollegen vor dem Bett stehen. Mein Kopfkino lief da auf Hochtouren gelaufen, ich hatte Mühe, die Bilder anschließend aus dem Kopf zu kriegen. Ich hoffe, dieses Buch wird nie verfilmt oder wenn doch, dass er in Deutschland nie gezeigt wird.

    Yang Ning gelingt es, nacheinander zwei Serienmörder zu stellen. Beide sind rechtschaffene, aufrechte Menschen, von der Gesellschaft geachtet und respektiert. Der eine mordet, weil er sexuell auf kleine Jungs steht, die er anschließend als potentielle Zeugen töten muss, der andere mordet, weil er sich einredet, das wären von der eigenen Mutter ungeliebte Kinder und sie tot besser dran wären. Den ersten Mörder liefert sie der Polizei aus, den zweiten behält sie für sich und ihre ganz persönliche Rache. Denn das ist der Mörder ihres kleinen Bruders. Was für Gefahren sie sich dabei jedes Mal aussetzt und die Blockbuster reifen Szenen dabei sind sehr spannend geschrieben.

    Würde die handlung des Buches in Macao oder Singapur spielen, würde ich sagen, guter, gediegener Thriller. Aber Taiwan? Da fehlt mir der Bezug zur immanenten Wirklichkeit. Die Bedrohung durch Peking ist real. Aber im Buch wird sie ausgeklammert. Das Werk erinnert mich an Bücher und tatort-Filme aus der DDR. Da wurde auch die BRD ausgeklammert und die russische Besatzungsmacht wurde komplett ausgeklammert, obwohl sie unübersehbar war. Die Mauer mit den Selbstschussanlagen, Minen und Kontrolltürme kamen auch nicht darin vor. Einfach ausgeklammert, also gab es sie nicht. China gib es in Hsiaos “Das Parfüm des Todes” auch nicht.



    ASIN/ISBN: 351847443X


    Natur ist überall

    Gamander López und Una López zeigen, dass Natur uns immer und überall umgibt. Die Aufnahmen sind phänomenal schön. Ich konnte mich nicht sattsehen . Man kann auch eine Fotosafari im eigenen Garten organisieren. Oder im Wald. Wer die Umgebung bewusst wahrnimmt, kann erstaunliches entdecken. Vor allem aber, dass der Mensch ein Teil der Natur ist, auch wenn er sich als ihr Beherrscher aufführt. Gamander López ermahnt uns Menschen auch: “Bei deinen Beobachtungen bist Du stets Gast im Revier der Tiere. Sei immer rücksichtsvoll und halte respektvollen Abstand” (S. 225).

    Die Geschwister Una und Gamander zeigen uns in diesem wundervollen Buch, wie nahe die Natur doch ist: im Garten, im Stadtwald, im Park. Ihre beobachteten Tiere sind Füchse, Eichhörnchen, Mäuse, Haubentaucher, Buchfinken, Kleiber, Gimpel, Spatzen, Meisen, Rotkehlchen, Enten, Hasen, Wildschweine, Käuze, Spitzmäuse, kurz: alles was die heimische Natur so hergibt und was wir leider so oft, viel zu oft, übersehen.

    Die praktischen Tipps sind für Anfänger (und nicht nur) der Tierfotografie von großem Nutzen. Da wir heutzutage aber fast ganz von den Fotoapparaten, sei es analog oder digital abgekommen sind und wir nur noch zum Handy für Naturaufnahmen während unserer Spaziergänge greifen, hätte ich einige Zeilen über Handyfotografie geschätzt. Oder habe ich die Zeilen überlesen? Ich muss zugeben, die Bilder haben mich sofort in ihren Bann gezogen. Zuerst einmal habe ich das Buch “gelesen” wie ein Kleinkind, nur auf die Bilder geschaut, gestaunt und mich daran erfreut und danach erst habe ich es “richtig” gelesen, Text und Aufnahmen zusammen rezipiert. Und beide Male hat mir das Buch ein Hochgefühl hinterlassen.

    Das Buch aktiviert Glückshormone


    ASIN/ISBN: 3440178765

    Die Revolte der Jugend in den 80er Jahren und heutige Klimaaktivisten - gar nicht so unterschiedlich

    Klimaaktivisten? Klimakleber? Waren für mich leicht anders tickende Menschen, die irgendwo weit weg ihre Späße trieben. Bis ich ihre Folgen hautnah spürte, als sie im Dresdner Zwinger sich an einen Originalrahmen eines Cranach Gemäldes klebten. Wir haben den Zwinger erst 2 Tage später besucht und merkten erst an der Nervosität der Museumsangestellten, dass etwas nicht stimmt. Als wir erfuhren, was passiert war, haben wir uns bemüht, keine abrupten Bewegungen zu machen, die geforderte Distanz zu allen Exponaten zu wahren.

    Wir wohnen in einer kleinen fränkischen Stadt. Bei uns gibt es keine Straßenkleber. Die gibt es nur in Berlin, dachte ich. Katrin Burseg zeigt, Klimaaktivisten und -kleber kann es überall geben, auch im beschaulich-touristischen Lübeck hoch im Norden. Lübeck? Marzipan, Thomas Mann, Treppengiebel, Holstentor, Hansestadt.Und eben Straßenkleber. Es beginnt alles so harmlos. Ruhig schildert die Autorin den normalen Montagmorgen einer Papierhändlerin. Als ein junges Mädchen den Laden betritt, ändert sich alles schlagartig. Die Klimaaktivistin bringt Leben und Aufregung in den Alltag der Frau und in Lübeck den ganzen Verkehr zum Erliegen. Dass sich die Händlerin mit Luzie solidarisiert und sich auch auf die Straße setzt, um sie vor einem zudringlichen Autofahrer zu schützen, konnte ich noch verstehen. Aber dass Anika Luzie nach Hamburg folgt, sie dort nicht aus den Augen lässt, sie auf Schritt und Tritt bewacht, bei der großen Demo komplett ausrastet und die Kontrolle verliert und verhaftet wird, da dachte ich mir, das geht über das Gebaren einer braven Hausfrau und Händlerin hinaus. Da muss etwas dahinter stecken. Anikas Kette von Kurzschlussreaktionen sind zuerst unverständlich. Erst als Anika peu à peu ihre Vorgeschichte enthüllt, beginnen sich die Puzzleteile zusammenzufügen und die Romanhandlung zieht uns in ihren Bann. Die junge Luzie und die mitten im Leben stehende Anika ergänzen sich, die eine sorgt für die andere, hilft ihr, wenn sie nicht mehr weiter kann. Für Anika ist Luzie einerseits die Tochter, die sie nie haben konnte, und gleichzeitig Milena, Anikas Freundin aus der Jugendzeit. Mit dem Unterschied, dass Luzie ihr nicht die Liebe ihres Lebens ausspannen will.

    Katrin Burseg beschreibt meisterhaft, wie Anika die Aufarbeitung der dramatischen Ereignisse aus ihrer Jugend vollbringt. Sie hat das dreißig Jahre lang verdrängt und nun lässt sie Stück für Stück alles hervordringen, bringt die quälenden Gedanken zur Ruhe und dem Leser eine Erklärung für Anikas Handeln einst und jetzt.

    Hausbesetzer von damals und Klimaaktivisten von heute: beide Gruppen kämpften gegen das System.

    Sorry, Rosenstolz, ich habe nur das Buch gelesen. Versuche zwar an das Hörbuch auch heranzukommen, hat bis dato aber nicht geklappt. Ich schätze Sabin Tambrea sowohl als Autor als auch Schauspieler sehr. So bin ich am Hörbuch sehr interessiert. Wenn ich es mal haben sollte, werde ich auch das Hörbuch rezensieren.

    Der Untergang einer Diktatur

    Sabin Tambrea legt uns hier ein vielschichtiges Werk vor: Zuerst ist seine Reise aus Rumänien, der alten Heimat und der Großfamilie, nach Deutschland, zur kleinen Familie: Eltern und die große Schwester. Wie der Vater während einer Auslandstournee nach Deutschland floh und nach zwei Jahren die Familienzusammenführung schaffte. Die Schikanen, denen die Mutter in Tîrgu Mures bis zur Ausreise ausgesetzt war, die Repressionen, denen die anderen Mitglieder der Großfamilie ebenfalls ausgesetzt waren. Tambrea lässt nichts aus, was "Vaterlandsverrätern", die das “heiß geliebte Rumänien", nicht zu schätzen wussten. passierte.

    Zweitens ist die erste Zeit in Deutschland, wie die Eltern beruflich Fuß fassten, in diversen Orchestern ihren Beruf ausüben konnten und wie die beiden Kinder in Schule, beziehungsweise Kindergarten Anschluss fanden. Alina wird zu einer begnadeten Violinistin während für Sabin die Geige zum ungeliebten Zwangsinstrument wird.

    Drittens sind die aufgeschriebenen Memoiren von Sabins Großvater mütterlicherseits aus der langen und schrecklichen Zeit als politischer Gefangener des terroristischen kommunistischen Regimes. Folterungen, Schläge, Aushungern, menschenunwürdige Haftbedingungen, die Securitate ließ nichts aus, um die Gefangenen und deren Familien gefügig zu machen. Genau wie die Nazis galt auch für die Kommunisten Sippenhaft. Wurde ein Mitglied der Familie für schuldig befunden, galt die ganze Familie auch als schuldig und hatte zu leiden. Mir fiel auf, dass der Großvater akribisch die Namen all seiner Mithäftlinge samt deren Herkunftsort und Beruf aufschrieb. Er tat das, falls ihn Angehörige dieser Mithäftlinge jemals kontaktieren sollten, er ihnen gewissenhaft Auskunft geben konnte, was er über deren Verbleib wusste. Das war in dem gefährlichen “dunklen Jahrzehnt”, wie die Zeit Ende der 40er bis Anfang der 60er Jahre in Rumänien hieß, oft die einzige Möglichkeit der Familie, etwas über den Gefangenen zu erfahren.

    Viertens beschreibt Sabin Tambrea die Zeit nach der Wende, nach Ceausescus Tod, wie die Großfamilie in Rumänien sich in der neu erlangten Freiheit zurechtfindet, wie Familie Tambrea, also die Eltern und die beiden Kinder, jeden Sommer beladen mit Geschenken nach Rumänien fährt und das Wiedersehen mit allen wärmstens feiert.

    Fünfter Teil des Buches beschreibt wie die kurze Zeit der Öffnung Rumäniens nach Westen aber auch im Inneren immer stärker reduziert wurde, wie die Securitate wieder erstarkte, Intellektuelle von der Zensur immer mehr mundtot gemacht wurden. Und Ende der 70er Jahre begann die Lebensmittelknappheit, wie sie nach dem Krieg nie bestanden hatte. 5 Eier, 0,75 l Öl pro Mensch und Monat, 3 mal im Jahr Fleisch: rund um die nationalen Feiertage 01. Mai, Tag der Arbeit, 23 August Tag der Waffenwende gegen Nazi-Deutschland, 30. Dezember Tag der Republik. Das bedeutete aber nicht, dass diese Lebensmittel tatsächlich zur Verfügung standen. Meistens war nicht genug da und die Mehrzahl der Menschen ging leer aus. Der Verkehr war auch streng reguliert. Sonntags durften die Autos nur im Wechsel fahren, einen Sonntag die mit gerader Zahl und nächsten Sonntag die mit ungerader Zahl im Nummernschild fahren. Aber bei 30 l Benzin, die pro Auto monatlich betankbar waren, hielt man meistens das Benzin für Notfälle und blieb sonntags zu Hause. Krankenwagen rückten nur noch für schwangere Frauen und arbeitende Menschen aus. Wenn ein Rentner einen Krankenwagen brauchte, gaben die Angehörigen meistens ein jüngeres Alter an, denn die Aussage war klar: Für Rentner sparen wir uns das Benzin für den Krankenwagen.

    Thomas Kunze schrieb ein gut dokumentiertes Buch über den Lebensweg von Nicolae Ceausescu und seiner Frau Elena. Tambrea nimmt Bezug auf dieses Werk. Ich habe es auch gelesen und finde, Tambrea hat den Bezug zu Kunzes Buch sehr gut rübergebracht. Nicolae und ELena Ceausescu schafften es vom Schulabbrecher und Schuster- und Textilweberinlehre (auch nicht beendet) Karriere zu machen. Sie erkannten schnell das Potenzial, das ihnen die RKP bot. Sie erklommen politische Posten innerhalb der Partei ohne je wieder einen Tag zu arbeiten, bis in die höchsten Ebenen der rumänischen Politik. Elena Ceausescu, die nicht die Grundschule abgeschlossen hatte, wurde Doktor der Chemie, Präsidentin der rumänischen Akademie der Wissenschaften und wertete dadurch das Ansehen der Akademie gehörig runter. Ein Staatsbesuch in China und Nordkorea der beiden Genossen und die Idee des Persönlichkeitskultes fasste Fuß und war aus dem öffentlichen Leben in Rumänien nicht mehr wegzudenken.

    Tambreas Stil ist jeweils dem Geschehen im Buch angepasst. Der Autor beschreibt die Abfahrt aus Rumänien, die Ankunft in Deutschland und die sommerlichen Besuche in Rumänien nach der Wende aus der Sicht eines Kindes inklusive humorvolle Episoden wie das Hüpfen auf dem Bett oder der Vater der heimlich die Katze im Hof füttert. Ernst und fast schon grausam sind die Memoiren des Großvaters Sava im Gefängnis oder die letzten Jahre der Ceausescu-Diktatur. Über Schläge und Zwangsarbeit oder Strom-, Wasser und Wärmeausfall kann man nicht lachen.

    Sabin Tambreas Buch ist sehr empfehlenswert. Er gibt einen sensiblen Überblick, was es heißt, ein Vaterland zu verlassen und in der Fremde sich in ein neues Vaterland einzufinden und heimisch zu fühlen. Das Entstehen und den Untergang der rumänischen Diktatur führt Tambrea dem Leser sehr eindringlich vor Augen.


    Fazit: Vielschichtiges und sehr sensibel geschriebenes Buch


    ASIN/ISBN:
    ISBN 9783989410008

    Noblesse oblige


    Ein Pilot der britischen Air Force und eine alte Lady. Wunderschöne Ausgangssituation für einen spannenden Roman, der allem Anschein nach auf Tatsachen beruht. Das Buch führt uns in die Atmosphäre einer norddeutschen Hallig gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, genauer, Ende des letzten Kriegssommers in Deutschland. Es war die Zeit, in der der gesunde Menschenverstand die Hitler-Hysterie abzulösen begann, als in einigen Menschen Zweifel über den Endsieg wach wurden, als nicht nur in den zerbombten Großstädten Fragen aufkamen. Irma Nelles aber stellt die Bewohner dieser norddeutschen Gegend als allesamt der deutschen Résistance angehörend dar, nur ein paar Männer laufen vereinzelt mit zackig gehobenen Arm und versuchen die „Deutsche Ordnung‘“ mittels Erschießungskommandos aufrecht zu erhalten. Das kommt mir schwer zu glauben. Es ist wie in Wien, als nach dem Zusammenbruch niemand Hitler beim Einmarsch zugejubelt hat, die Straßen Wiens waren quasi leer, keine Euphorie und Hysterie zu sehen. Es klingt nicht plausibel. Ich kann das nicht nachvollziehen. Weder Wien, noch Norddeutschland.

    Mit Feingefühl und stilsicherer Feder zeichnet Nelles den Eingang des britischen Piloten John Philip Gunter in diesen fast schon geschlossenen idyllischen Kreis von Menschen auf der Hallig. Misstrauen schlägt einem anfangs entgegen von beiden Seiten, jedoch ist es für die Gräfin von Reventlow-Criminil und ihr Entourage nie die Frage den Piloten den Behörden zu übergeben. Langsam fassen sie Zutrauen zueinander, kommen sich näher. Gespräche, Blicke, Gesten vermitteln uns den Eindruck, dabei zu sein. Der Stil ist fast schon filigran zu bezeichnen. Die Dialoge, mal in Deutsch, mal in Plattdeutsch, aber nie so, dass bayrische oder schwäbische Leser nicht mitkommen könnten, lässt die Szenen lebendiger und wirklichkeitsnah wirken.

    Das Ende des Buches ist quasi offen, endet eigentlich ziemlich abrupt mit einem höflichen Handkuss. Als ob Nelles die Seiten ausgegangen wären oder der Verlag ihr nicht mehr gestattete, oder die Druckerei das letzte Kapitel unterschlagen hätte. Schwer zu glauben. Nur aus dem Prolog können wir erahnen, dass jemand die Hallig verlassen wird in einem Flugzeug.

    Schade, ich hätte gerne mehr und weiter gelesen, wie es zum Abflug ins sichere Ausland dann letztendlich kam.

    Ich liebe Liebesgeschichten! Aber diese war schwach.


    Die Isle of Skye ist nicht irgendeine Insel im britischen Archipel. Sie ist wesentlicher Teil der

    schottischen Geschichte und Legenden. Danke, liebe Elliot Fletcher, dass Du Skye als

    Schauplatz für Deine Geschichte gewählt hast. Leider wird im Buch Skye nur eine

    unscheinbare Kulisse sein, kein Wort zur Magie oder Schönheit der Insel oder ihre

    Bedeutung für die schottische Seele. Schade.


    Übrigens die Schlachtszene in der Küche ist an Humor nicht zu überbieten. (Ein Pluspunktmuss die Geschichte ja auch haben). Ich musste dabei kichern. In meinen Augen ist das eine der besten im ganzen Buch.

    Und wie in allen Liebesgeschichten, in denen die Autoren sonst viel zu schnell zum Ende kommen würden, handeln auch hier die Protagonisten entgegen ihren Überzeugungen, sehen und interpretieren in allem, was der andere sagt, ganz andere Sachen, dass man ihnen am liebsten zurufen würde, sie sollen doch mit dem Blödsinn aufhören und die Liebe als solche anerkennen. Aber wie gesagt, der auktoriale Wille geht vor, Fletcher kann und wird die Handlung strecken und dehnen, bis zum geht nicht mehr.

    Die Sexszenen sind da, explizit und etwas überstrapaziert, will sagen, man kann das Buch nicht der 90 jährigen Oma in die Hand drücken, sie würde den Herzkasper kriegen ob all der Erinnerungen wie sie so in jungen Jahren geliebt hat.

    .

    Leider ist mir nicht ganz klar geworden, wieso es zum Zerwürfnis zwischen April und ihrem

    Mentor in London gekommen ist, wahrscheinlich fiel der Autorin kein richtig plausibler Grund

    ein.

    Fazit: Einmal lesen und ab ins nächste Bücher Tauschregal.


    ASIN/ISBN: 3365008403

    Selbst ist die Frau

    Titel, Klappentext und Titelbild lassen auf einen humorvollen Roman schließen. Aber dem ist

    nicht so. Corona hat Gewalt gegen Frauen und Kinder durch den strengen Lockdown

    verstärkt. Zwar leider schon immer präsent im Leben vieler Familien, tritt sie nun ungehemmt zu Tage, erzwungen durch das enge Beisammensein. „In Großbritannien kommt im Schnitt alle drei Tage eine Frau durch einen Mann zu Tode; beim Großteil der Fälle handelt es sich um den gegenwärtigen oder ehemaligen Lebenspartner. Im Corona-Lockdown verdoppelte sich diese Anzahl: In den ersten drei Wochen kamen vierzehn Frauen um, bei denen ein Mann der Tat verdächtigt oder angeklagt wurde.“ (S. 392)

    Kein Wunder, dass einige Frauen sich nun endlich wehren. Es ist pure Notwehr, die die eine

    zur gusseisernen Pfanne und die andere zum Gift greifen lässt, um ihre Teenager Tochter vor einer Zwangsheirat mit einem viel älteren Mann zu schützen.. Und die dritte ihr weinendes Baby beschützen muss. Meine Damen, das war längst fällig und die gewalttätigen Ehemänner haben ihren Tod selbst verschuldet..


    Die Situation ist absolut verstörend. Aber wie die Frauen die Morde innerlich verarbeiten und

    sich gegenseitig beistehen, ist genial. Sie versuchen an alles zu denken, jedes kleinste

    Detail vorauszusehen, zu planen, alle Risiken abzudecken, den Fragen und Nachforschungen der Polizei glaubhaft entgegenzusteuern, alles ist meisterhaft geschrieben. Der Zusammenhalt der Frauen reicht über Generationen hinweg: „Ihre Generation hat einfach keinen Respekt mehr vor Älteren. Als wären Sie die ersten Frauen, die je dieses Problem hatten...“ (S. 390) sagt die strenge ältere Nachbarin und schließt sich der Gruppe einfach an.

    Das brachliegende Grundstück in der Nachbarschaft der einen Frau wird zum Dreh- und Angelpunkt des Romans und gleichzeitig zum heimlichen Friedhof der zu entsorgenden Ehemännern. Die Frauen beantragen bei der Stadtverwaltung das Recht, das Grundstück in eine kleine öffentliche Grünanlage umzuwandeln, mit Blumen und Sträuchern und einem Birnbaum. Ein Kirschbaum steht ja schon darauf. Der Antrag wird bewilligt und die Damen können – natürlich mit gebührendem Abstand – loslegen mit dem Umgraben für das Blumenbeet. Zum Glück überprüft niemand, wieso dieses Beet solch tief eingegrabenen Untergrund hat. Der Kirschbaum wird auch noch eine Rolle spielen, sozusagen als Vorreiter.

    „Der Club der heimlichen Witwen“ ist nun komplett und bedarf hoffentlich keiner Fortsetzung… Aber leider hört die Gewalt gegen Frauen nie auf.

    Mit Schwester Holiday gäbe es vielleicht weniger Kirchenaustritte!


    Schwester Holiday ist eine katholische Schwester ganz nach meinem Geschmack. Ihr Kloster mit der Eliteschule ist mitten in New Orleans. Allein die Location macht diesen Krimi schon interessant. Als nun das erste Feuer ausbricht und die Polizei im Dunkeln tappt, hilft Schwester Holiday den Ermittlern immer wieder auf die Sprünge, liefert ihnen Indizien und Beweisstücke, die bei der Bestandsaufnahme übersehen wurden.

    Interessant ist, es tauchen immer wieder kompromittierende Teile auf, die auf Schwester Holiday selbst als Täterin hinweisen. Der die das Mörder (wir wollen ja niemanden benachteiligen) handelt aus religiös-fanatischen Gründen, geht aber sehr methodisch und überlegt vor. Auch wie immer wieder die Schuld auf Schwester Holiday gelenkt wird, ist verstörend. Der Leser weiß zwar, dass sie nicht Schuld sein kann, weil wir sie ja jeden Augenblick der Handlung begleiten, aber wir fürchten um sie. Die Polizisten Decker und Grogan würden nur zu gern jemanden verhaften, um endlich einen Schuldigen zu haben, ob wahr oder nicht. Die Einzige, die zu ihr hält, ist die Polizistin Riveaux, mit der Holiday während der Untersuchungen zusammen arbeitet. (Und den Grundstein für einen Folgekrimi legt.)

    Die Dialoge im Buch sind oft sarkastisch, ironisch, aber immer treffend. Da redet niemand um den heißen Brei herum. Die Vorlieben und Antipathien unter den wenigen Lehrern dieser Schule, ob weltlich oder Ordensfrauen, werden auch klar ausgedrückt. Schwester Honoria kann Schwester Holiday nicht ausstehen, brummt ihr die schwersten Strafarbeiten auf, wie das mühselige Putzen der Hinterglasmalereien. Aber für die junge Nonne ist das keine Strafarbeit, sondern tiefste Meditation und eine Möglichkeit zur inneren Ruhe zu kommen.

    Das Coverbild, mit der rauchenden Nonne auf Hinterglasmalerei, ist ein Stilbruch in der katholischen Tradition, aber der Hingucker schlechthin.


    ASIN/ISBN: 3351051298

    Familienbande in Kriegs- und in Friedenszeiten

    Hitler und Göring und die deutsche Luftwaffe führten einen gnadenlosen Krieg gegen England. Zahlreiche Städte wurden niedergebrannt. Familien, die es konnten, schickten ihre Kinder in Sicherheit, nach Übersee. Leider begnügte sich die deutsche Marine nicht nur Schiffe aus den USA nach Großbritannien zu torpedieren, die ja Truppen, Kriegsausrüstung und Verpflegung für die Armee transportierten, sondern auch Schiffe, die aus England Richtung USA ausliefern, mit Kindern an Bord.

    In dem wunderschön geschriebenen Roman wird solch eine Verschickung beschrieben. Aus der Sicht der Eltern, des elfjährigen Mädchens und aus der Sicht der Mitglieder der Gastfamilie in den USA. Dieser ständige Perspektivenwechsel macht deutlich, wie die einzelnen Familienmitglieder, die aus England und aus den USA, mit der neuen Situation zurechtkommen. Am schwersten war es wohl für Beatrix, die plötzlich aus ihrer Familie und ihrem Umkreis herausgerissen wurde. Auf der Überfahrt freundet sie sich mit den anderen Mädchen auf dem Schiff an, nur um sie nach 2 Wochen wieder zu verlassen und von der Gastfamilie abgeholt zu werden. Wieder ein neuer Lebensabschnitt für Beatrix, der fünf Jahre dauern wird.

    Die Idee zu dieser Verschickung hat Beatrix Vater, Reginald. Aber um in den Augen seiner Tochter besser dazustehen, erklärt er ihr, das wäre die Idee ihrer Mutter gewesen. Damit treibt er einen Keil zwischen Mutter und Tochter, der erst viele Jahre später heilen wird. Es ist eine spontane Eingebung Reginalds, die weitreichende Folgen haben wird.

    Die Lücke, die Beatrix bei ihren Eltern hinterlässt, und Reginalds Lüge treibt auch die Eheleute auseinander. Sie werden beide aktiv aber getrennt in der Kriegshilfe, Lösch- und Räumkommandos der Vater, Buchhalterin in mehreren Geschäften und Krankenwagenfahrerin Millie.

    Die amerikanische Gastfamilie besteht aus Vater Ethan, Lehrer, Nancy ist Hausfrau und die treibende Kraft der Familie, die Söhne William und Gerald. Beatrix ist altersmäßig zwischen den Söhnen, sie passt genau in diese Familie, trotz ihrer anfänglichen Angst und Scheu. Und ohne es zu merken, gewichtet sie die Familie um: “Doch Bea hat, ohne es zu ahnen, alles durchgerüttelt. Es ist, als hätte ihre Gegenwart das Gleichgewicht innerhalb der Familie verändert. Selbst Ethan hat sie ins Herz geschlossen.” (S. 63)

    Die fünf Jahre, die Beatrix in den Staaten verbringt sind eigentlich ihre formativen Jahre. Als sie als 17jährige zurückkehrt, als junger Mensch, lässt sie einen Teil ihrer Seele in den Staaten. Sie wird William 1951 erklären: “Meine Lieblingsmannschaft? Die Red Sox. Mein Lieblingsort? Maine. Mein Lieblingsessen? Die Muffins von deiner Mutter. Trotzdem bin ich hier. Das ist mein Zuhause. Meine Mutter ist hier. Ich gehöre hierher, und dennoch hänge ich in der Luft, zwischen zwei Welten. Irgendwie komme ich nirgends richtig an.” (S. 194). Doch letzten Endes entscheidet sie sich für Gerald und den USA, denn “das hier fühlt sich wie mein Zuhause an, egal, was ich mir einrede oder wie sehr ich mich bemühe, mir drüben [in England] ein Zuhause zu schaffen.Das was ich bin, bin ich hier geworden.” (S. 351)

    Mit viel Feingefühl und Sensibilität beschreibt Spence-Ash die Situation, in der sich alle Beteiligten befinden: Beatrix wird entwurzelt, findet eine neue Heimat in den USA, um nach fünf Jahren gezwungen zu sein, in London wieder eine Heimat zu finden. Reginald und Millie, die zurückgebliebenen Eltern, die an diesem Verlust des einzigen Kindes fast zerbrechen und in den Kriegsanstrengungen ihres Landes aufgehen. Ethan und Nancy, die Gasteltern und die beiden Söhne, die Beatrix von ganzem Herzen willkommen heißen, sich so herzlich bemühen, den Einstieg des Mädchens in das neue Leben so einfach wie möglich zu machen. Die Empathie, die einem auf jeder Seite des Buches entgegenschlägt, ohne je ins Sentimentale abzudriften, die Sensitivität und das Verständnis, die alle Beatrix entgegenbringen, unaufdringlich aber ständig präsent, all dies und die interessante Geschichte, eigentlich schon ein Stück Zeitgeschichte, machen das Buch so lesenswert.


    ASIN/ISBN:

    ISBN:9783866487024

    Nomen est omen

    Ist das ein Spoiler, wenn ich sage, die "größte Zicke" steigt tatsächlich mit drei Bodyguards in die Kiste? Kopfkino läuft von Anfang an auf Hochtouren.

    .Vom Schreibstil her gibt es natürlich die üblichen und zu erwartenden trivialen Gemeinplätze, markantes Gesicht, Vollbart der trotzdem Kinn und sinnlichen Mund verrät, zierliche wunderschöne Heldin, aber was soll's! Dieses Buch hat eh keine hohen literarischen Ansprüche, also Schwamm drüber.

    Auf jeden Fall, die treiben’s wie die Karnickel, rammeln in allen nur erdenklichen Positionen. Irgendwann war’s TMI für mich (= too much information). Dass Briar nur in den Ohren noch Jungfrau ist, war wohl klar, den Pas de Quatre hätte es nicht mehr gebraucht. Die Handlung wird zur Nebensache, obwohl gerade die Handlung nicht mal so uninteressant ist. Ein Stalker der die drei ach so aufmerksamen Bodyguards austrickst, eine zwielichtige Agentin, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist um dann nur mit einem Klaps aufs Händchen davon zu kommen, dies alles hätte gerne etwas ausgebaut werden können. Aber nein, das Schnackseln und Gefummele hatte leider Vorrang. Wenigstens weiß ich jetzt, was “Why Choose Romance” bedeutet.

    Mädels, wenn Ihr mal zu viel Zeit übrig habt, lest es und hakt es unter Kapitel Unnützes Wissen ab.


    ASIN/ISBN: 395818801X

    Die Ängste der Vorfahren leben in den folgenden Generationen fort


    Zweitausend Jahre Anfeindung, Hass, Verfolgung und Pogrome hinterlassen deutliche Spuren in einem Volk. Überlegen wir mal, was allein ein Bürgerkrieg in der Seele eines Volkes für Schaden anrichtet, bis das Volk wieder zusammenfindet und das Trauma überwindet. Sei es der Sezessionskrieg in den USA, der Krieg zwischen Bolschewiki und Weißgardisten in Russland, General Francos Krieg gegen seine Landsleute, Pinochets Krieg in Chile gegen Salvador Allende, oder vor ein paar Jahren der syrische Bürgerkrieg, der bis heute andauert. Die Zäsuren die da entstehen sind gewaltig und schwer zu überwinden.

    Aber wenn ein ganzes Volk fast zweitausend Jahre unausgesetzt dem Hass der Mitmenschen ausgesetzt ist, wie kann der einzelne Angehörige dieses Volkes das verkraften? Dieses Volk durfte nie sesshaft werden, es musste ständig bereit sein zu fliehen, oft mit dem nackten Leben nur davonkommen. Ende des 13 Jahrhundert wurden die Juden aus England vertrieben, 1492 wurden sie aus Spanien expulsiert, In anderen Ländern durften sie zwar bleiben, waren aber ständig Pogromen, ausgesetzt und mussten sehr hohe Steuern und Abgaben zahlen, um bleiben zu dürfen, so in den deutschen Ländern, Portugal, Russland, Polen, Frankreich, usw. In den meisten Städten durften sie nur in eigenen Vierteln leben, die bei Nacht abgesperrt wurden und die Juden durften sie bei Todesstrafe nicht verlassen, die Ghettos gehen auf diese Viertel zurück. Sie durften nur einige wenige Berufe ausüben, die meisten der Handwerkstätigkeiten waren ihnen untersagt. ,

    Und dann kam das 20. Jahrhundert. Hitlers Schergen starteten eine noch nie dagewesene Kampagne der Judenverfolgung und Deportierung. Zu Millionen wurden sie aus ganz Europa zusammen gekarrt und in Viehwaggons in die KZs und Todesfabriken gebracht.

    Die Überlebenden und ihre Kindeskinder haben das bis heute noch nicht überwunden. Leider ist das Thema der Judenverfolgung wieder - oder noch immer - so aktuell wie zur Zeit der ersten Pogrome in Nürnberg 1298 oder in Köln 1349.

    Ich wiederhole meine Frage: wie kann ein gesamtes Volk, und jeder einzelne Angehörige dieses Volkes das überwinden?

    Micha Lewinsky setzt uns mit Benjamin Oppenheim einen einzelnen Vertreter des jüdischen Volkes vor. Der aktuelle Krieg in Europa beunruhigt ihn, lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Aus einem Impuls heraus und als Folge von zwei Kriegsnachrichten flieht er mit Martina und den Kindern nach Brasilien. Ben Oppenheim ist labil, ängstlich, immer bereit zur Flucht, unentschlossen, ich-zentriert, ständig zaudernd und überlegend, voller Angst, das Falsche zu sagen, um dann doch kein Fettnäpfchen auszulassen. So will er seiner Frau Marina mal eine persönliche Frage stellen, nicht weil er wirklich neugierig wäre, sondern um ihr das Gefühl zu geben, gesehen zu werden. Und nach langen Überlegungen, während Martina darauf wartet, ‘Ben beschloss, aufs Ganze zu gehen. Er musste die Frage stellen, die ihm wirklich auf dem Herzen lag: “Wie findest du meine Drehbuchidee?” ‘ (S. 179). Er schafft es einfach nicht, sich auf andere Menschen wirklich einzustellen, sei es Martina, sei es seine Geliebte Julia oder seine Eltern. Er betrachtet alles nur von seiner Sicht aus und welchen Impakt die Taten und Meinungen der anderen auf ihn haben. Manchmal hätte ich ihn schütteln und ihm zurufen können, er solle mit der Nabelschau aufhören und wirklich auf andere Menschen zugehen, die Nähe zulassen. Er will mit seiner Geliebten Julia Schluss machen, aber als sie einwilligt und keine Einwände hat, sondern lapidar sagt: “Dann machen wir halt Schluss” (S. 209) und auflegt, ist er beleidigt. und schreibt ihr eine lange E-mail, “Julia, ich bin traurig und enttäuscht…” (S. 210), weil sie ihn als Trostpflaster instrumentalisiert hatte.

    Ben ist ewig auf der Flucht, vor politischen Regressionen, dabei lebt er in der Schweiz, eines der sichersten Länder Europas und vor seinen Mitmenschen. Er steht sich selbst im Weg, kann einen einmal gefassten Entschluss nicht halten, überlegt, verwirft, ändert, tritt die Flucht nach vorn oder nach hinten an. Aber er kann nicht auf der Stelle bleiben.

    Sein Sohn Moritz hat nächtliche Alpträume mit Monstern, obwohl er nie welche gesehen hat oder je in bedrohliche Situationen geraten war. Ich frage mich, was von den vielen Phobien des Vaters da auf den Sohn vererbt wurde? Bens Verhalten verstört Moritz: ’ “Ich habe Angst", sagte Moritz. Ben strich ihm übers Haar. “Du hattest doch immer schon Angst.” “Aber nur vor Monstern”, sagte Moritz. “Jetzt habe ich auch Angst vor Menschen.” ‘ (S. 262).

    Als der Atomkrieg ausbleibt, beenden Ben und Martina mit den Kindern das brasilianische Abenteuer und kehren in die Schweiz zurück.

    Bens Faszination für Stefan Zweig, über den er ein Drehbuch schreiben wollte, findet in Petropolis, in Zweigs Haus sein Ende: “Was suchte er hier eigentlich” (S. 276)

    Salcia Landmann hat ein unübertroffenes Buch über den jüdischen Humor geschrieben und darin auch erklärt, wie und welche tiefen Wurzeln dieser besondere Humor hat. Lewinsky wirft ab und zu Pointen und Bemerkungen ins Buch, die Paradebeispiele des jüdischen Witzes sind: ‘Ein Museumswärter kam auf Ben zu. Er schien etwas sagen zu wollen. Vielleicht eine Botschaft des Hausherren? Ein letztes Geheimnis? Er sagte: “É proibido fumar!” ‘ (S. 276)


    ASIN/ISBN: 3257073151

    Gibt es gerechte Kriege?


    Clara Maria Bagus schreibt so leicht, fast oberflächlich und gleichzeitig erschütternd über den Krieg, dass es mir den Atem verschlagen hat. Zunächst glaubt Lew der Propaganda, belächelt seine Mutter und erst nach zahlreichen Einsätzen und endlich aufkeimenden Fragen merkt er im Gespräch mit seinem Kopiloten, wofür er sich eigentlich hergibt. Lew wird das auch nicht mehr lange mitmachen, er wird aktiv gefangene Kinder retten und sich in Gefahr im eigenen Land bringen. Denn ein unzurechnungsfähiger und machtgieriger Präsident hat auch genau solche Wasserträger, die blind seinen Befehlen gehorchen. Der Traum vom einstigen Reich, die eingebildete Schmach, das eigene Streben nach immer mehr Macht, und die Motive und Hintergründe für einen ungerechten Angriffskrieg sind da.

    Der Gegenspieler von Lew ist Ana, lange Zeit ein richtiges Mauerblümchen. In der Kindheit und Jugend von Mutter und Schwester drangsaliert und unterdrückt, wird ihre achtjährige Beziehung zu Mika auch immer mehr zu einem Gefängnis. Langsam, sehr langsam, findet sie aus dieser seelischen Gefangenschaft heraus, begegnet anderen Menschen, öffnet sich in Gesprächen mit Margret, der Leiterin eines Waisenhauses im Urlaubsort von Ana. Nun blüht Ana auf, arbeitet im Waisenhaus mit und bringt sich da voll ein.

    Das Buch zerfällt in zwei Teile, die abwechselnd zu Wort kommen. Lews Teil liest sich mit Spannung, ist brisant, weil wir den Krieg in der Nachbarschaft erkennen und den Aggressor verachten. Die Sprache ist unverblümt, direkt, reißt uns mit. Lews Gedankengänge und Schlussfolgerungen sind direkt nachvollziehbar und einleuchtend. Auch seine schwere Zeit im Gefängnis, die dermaßen an die Ära des KGB und an das berüchtigte Lubjanka erinnert, dass es mir Schauer über den Rücken gejagt hat,.Aber es stehen nicht alle hinter dem psychopathischen Präsidenten. Plötzlich hören Lews Misshandlungen und Schläge auf. Der brutalste und gefährlichste aller Wärter nimmt ihn unter seine Fittiche, weil ein Freund ihn darum bittet. Es ist diese stillschweigende und verborgene, aber selbstverständliche Solidarität, die an den unglaublichsten Stellen in Erscheinung tritt, die uns Hoffnung macht, dass dieses wunderbare Land und seine offenherzigen und ehrlichen Menschen doch noch zu einem zivilisierten und mitfühlenden Leben fähig sind.

    Bei den Kapiteln über und mit Ana musste ich schwer arbeiten, um nicht einzuschlafen, um weiterzulesen, ohne direkt zu Lew weiterzublättern. Erst später, als sie aktiv im Waisenhaus mitarbeitet und sie sich um gerettete Kinder kümmert, wurde es wieder interessant. Für meinen Geschmack hat Bagus viel zu viele alte, ausgelutschte Gemeinplätze da verwendet, solche philosophischen Platituden zu Papier gebracht, dass sie kaum tragbar für das Buch sind. Diese Gedanken, die sich um die gleiche Mitte drehen, egal ob Ana oder Margaret, sie äußern, kratzen hart am Oberflächlichen vorbei. Da muss ich leider einen Punkt abziehen. (und an mich vergeben, weil ich trotz Gähnen und nervösen Fingerzucken zum nächsten Kapitel zu blättern, drangeblieben bin). “Wir alle müssen uns auf den Weg machen. Ganz gleich, wie lang er ist und wohin er uns schiebt” (S. 100) oder “Wir leben nur einmal. Wir haben nur dieses eine Leben…” (S. 176) oder: “Sie ist endlich zurück in ihrem eigenen Leben, zu ihren eigenen Bedingungen.” (S 194) “Niedrige Erwartungen zu haben, ist die glücklichere Variante. Dann wird man nicht so oft enttäuscht…. Das Schicksal formt uns, unsere Persönlichkeit, unseren Charakter. Niemand weiß, wie man lebt. Leben ist ein Ausprobieren. Versuch und Irrtum” (S. 197). Unter uns Pastorentöchter gesagt, was ist der genaue Unterschied zwischen Persönlichkeit und Charakter?

    Das Buch hat ein versöhnliches Ende. Der Wahnsinnspräsident verliert an allen Fronten und muss seine Niederlage eingestehen. “Sein (des Präsidenten) Gesicht ist verhärtet, grau und müde - wie rissiger Granit -, als er abgeführt wird. Abgeführt von der Bühne einer Welt, die er schlechter gemacht hat, als sie vor seiner Präsidentschaft war” (S. 403)

    Aber Ana und Lew finden zueinander. Als Lew nach langen Haft bei Kriegsende endlich aus dem Gefängnis entlassen wird, sind alle 37 von ihm geretteten Kinder - davon einige mittlerweile erwachsen geworden - zur Stelle, um ihn zu begrüßen, ihre Dankbarkeit zu zeigen. Zusammen mit Ana sind sie alle gekommen. Ana und Lew lassen einander nicht mehr los. Zu kostbar ist das Leben um getrennt zu sein.

    Das Buch hat ein paar Szenen, die richtig zu Herzen gehen, ohne kitschig zu sein: als 36 Kinder in Fallschirmen über der norddeutschen Halbinsel in Fallschirmen zu Boden gehen und die Menschen aus der Umgebung sofort zu Hilfe eilen, oder die Szene, als Ana bei Lews Prozess auftaucht und sie sich erkennen. Die nächste bewegende Szene ist Lews Entlassung aus der Haft und schließlich die letzte Szene im Buch. Sie ist die logische Schlussfolgerung von Anas und Lews Geschichte.


    ASIN/ISBN: 3492072976

    Töchter und Mütter - seit jeher ein zwiespältiges Verhältnis, Und so wird die Fahrt nach Graceland auch zu einer Fahrt und zum Verhältnis zwischen Mutter und Tochter. Die Tochter - Grace - wirft der Mutter vor, sie nicht in Schutz gegen den abusiven Vater genommen zu haben. Die Mutter hat sich in ihre Verehrung für Elvis Presley gestürzt, hat alles andere ausgeblendet und Memorabilia und Nippesfiguren von Elvis gesammelt. Dies alles kommt peu à peu während der Reise zur Sprache. Kristen Mei Chase lässt diese Erinnerungen sehr geschickt einfließen, so dass wir auf dem Weg der beiden zu Elvis und zu ihren Erinnerungen mitverfolgen können. Für beide wird es aber auch ein Weg in ein neues Leben, trotz schwerer Erkrankung der älteren und Scheidung der jüngeren.

    Ich frage mich, was für einen Impakt Elvis Presley auf seine Fans gehabt haben muss, wenn heute noch, so lange Jahre nach seinem Tod, alles aus Elvis' Leben noch so bedeutungsvoll ist. Tupelo, sein Geburtsort, da pilgern Fans hin, gehen in die kleine Kirche, in die seine Familie ging, essen in dem Lokal und am liebsten an dem Tisch, an dem er einst als Jugendlicher saß, sogar der Supermarkt, wo seine Mutter einst arbeitete ist von Bedeutung. Wieviel Privatsphäre war dem Mann wohl vergönnt?

    Im vorliegenden Roman wird Elvis Mittel zum Zweck. Auf der Fahrt zu den Stationen seines Lebens finden Mutter und Tochter wieder zueinander und bauen ihre verlorene Vertrautheit wieder auf. Je mehr sie in die Elvis Sphäre eindringen, umso mehr scheint die Mutter von ihrer Besessenheit abzukommen und wird wieder zur Mutter von Grace. Grace selbst beginnt ihre Ängste abzubauen, wird innerlich ruhiger, ihre Panikattacken verschwinden. Loralynn, die Mutter, zieht zur Tochter von El Paso nach Chicago. Gemeinsam meistern sie den Alltag. Dieser versöhnliche Ausklang des Romans klingt weder kitschig noch seicht oder an den Haaren herbeigeholt. Es ist einfach das logische Ende einer langen Reise quer durch die USA.

    Eine gute Prise Humor und treffende Bemerkungen lockern den Stil auf und machen das Buch zu einem richtigen Lesegenuß.

    Mädels, aufgepasst: Falls Ihr noch offene Streitpunkte mit Euren Müttern habt, unternehmt eine Reise mit ihnen. Muss ja nicht gleich ein lilafarbenes Cabrio sein. Das Leben ist zu kurz und zu schön, um mit der eigenen Mutter im Streit zu liegen.


    ASIN/ISBN: 3365005889