Ich mag die neue Grace.
Schon die ersten Seiten werfen so viele Fragen auf. Wieso sind die Eltern fast schon abweisend gegenüber der einen Tochter und himmeln die jüngere Tochter an? War den Eltern nicht von Anfang an klar, dass Grace sie verlassen muss, wenn sie in Hollywood Karriere macht? Die Eltern waren ja einverstanden, oder?
Ich kann Dylan nicht verzeihen, wie er sich Grace gegenüber verhalten hat. Verdammt noch mal, er ist ihr Ehemann, in guten und in schlechten Zeiten, oder? Warum macht er dicht, wenn sie sich ihm gegenüber endlich öffnen will, ihm erzählen will, was Able ihr jahrelang angetan hat. Seine eigene Bequemlichkeit ist ihm wichtiger. Wenn er nichts weiß, muss er nicht reagieren, muss er nicht Able zur Rede stellen.
Nachdem Dylan sich geweigert hat, Grace zuzuhören, zieht Grace die Konsequenzen. Sie verlässt Dylan, sie verlässt Hollywood, zieht sich zurück zu ihren Eltern. Dass Ihre Eltern sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen haben, dass sie Esme, die jüngere Schwester bevorzugen und dass sie Grace alles vorwerfen, ob es nun stimmt oder nicht, ist kaum auszuhalten. Aber Grace hatte ein Jahr Zeit, sich aus der Öffentlichkeit komplett zurückzuziehen. Ihre Rückkehr ist denkbar schwierig. Dylan hat inzwischen eine neue Freundin, ihre ehemalige Assistentin, ihre ehemaligen PR-Berater und Agenten erwarten von ihr, die alte Grace zu sein, aber sie kann nicht zurück, sie weigert sich. Denn dieses Jahr ist nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Sie ist geläutert, auch wenn sie noch unsicher ist, noch mit sich selbst viel zu kämpfen hat.
Aber etwas hat sich nicht geändert. In ihrer Zeit als Teenie-Star und auch jetzt lauern ihr ständig wildfremde Menschen, Verkäufer, Paparazzi, vermeintliche Freunde auf, verfolgen sie, fotografieren sie am liebsten ungeschminkt und verschwitzt, mit einem gehetzten Gesichtsausdruck oder wenn sie sich eine Koksline reinzieht. Auf die britischen Royals wurden auch solche Fotosafaris veranstaltet, wie auf Grace. Ich erinnere nur an Lady Diana, die auch in der Fitnesshalle noch heimlich fotografiert wurde. Genau so ergeht es nun Grace.
Das Verhältnis zu ihrer Schwester Esme ist zuerst angespannt, sie sind sich ja entfremdet, sie müssen erst lernen, wieder Vertrauen zueinander zu fassen. Erst nach und nach kommen sie sich wieder näher, lernen sich schätzen und akzeptieren, so wie sie sind.
Und peu à peu kommt auch ans Tageslicht, was Grace in ihrer Jugendzeit angetan wurde und wie geschickt Able sie manipuliert hat: Er hat Gerüchte über sie gestreut, hat sie in die totale Isolation gedrängt, sie als psychisch labil dargestellt. So hatte sie keine Möglichkeit, sich jemandem zu öffnen, ihr Herz auszuschütten. Wenn man psychischen und sexuellen Missbrauch jahrelang erleiden muss, wird man abhängig von der dominanten Person, glaubt ihm am Ende auch, ist überzeugt, dass seine Behauptungen stimmen. Stockholm Syndrom wird zwar im Zusammenhang mit Entführungen gebraucht, trotzdem drängt sich in diesem Kontext dieser Begriff auch auf.
Wenn die eigenen Eltern sich zurückziehen - es ist ja einfacher, vom Geld der Tochter zu leben als sich ihre Probleme anzuhören -, oder der eigene Ehemann sie abblockt, dann bleibt Grace nichts anderes übrig, als die Reißleine ziehen und für ein Jahr von der Bildoberfläche verschwinden. Was ich nicht verstehe, wieso hat Dylan, der sie ach so liebende Ehemann, sie nicht richtig gesucht? Nicht bei ihren Eltern vorbeigeschaut, nachgefragt, nachgebohrt? Sich eine neue Freundin in Graces Haus zuzulegen, war in der Tat bequemer.
Das gesamte soziale Umfeld hat bei Grace in corpore versagt. Freundinnen hatte Grace am Filmset keine, sie kam ja aus England. Agentin, Impressar, Pressesprecher, alle hatten ihre eigenen Interessen in den Vordergrund gestellt. Die wenigen Lehrer, die Abe ihr am Set zugestand, durften keinen richtigen Kontakt zu ihr aufbauen, damit sie niemandem etwas vom Missbrauch erzählen konnte. Und wenn Grace es doch tat, wurden die Lehrkräfte schnellstens entlassen und Grace wurde gezwungen zu bekennen, das wäre nur ihre Phantasie gewesen, die mit ihr durchging. Abe ließ keine noch so kleinen Schlupflöcher offen.
Doch nun ist Grace wieder da. Abes Frau nimmt sie mit offenen Armen auf, gibt vor, ihre Freundin zu sein, ist aber im Grunde nur darauf bedacht, ihr eigenes, komfortables und luxuriöses Leben fernab von Skandalen oder Scheidung fortführen zu können.
Aber Grace hatte ein Jahr lang Zeit, Kräfte zu sammeln, sich zu läutern und sich dieses Leben nicht mehr gefallen zu lassen. Sie beginnt, ihre junge Schwester zu schützen, und baut eine neue Beziehung zu ihren Eltern auf, denen es langsam dämmert, was sie an ihrer Tochter verbrochen haben.
Grace traut sich, was sie vor einem Jahr nie gewagt hätte: Die neue Grace traut sich Fladenbrot mit Käse und karamellisierten Zwiebeln zu essen und Zucker in den Kaffee zu tun. Und das in Los Angeles. Klingt einfach und normal, oder? Nicht in Hollywood, wo perfektes Aussehen und ewige Jugend ausschlaggebend für den Erfolg sind.
Auf einer großen, medial viel beachteten Preisverleihung offenbart nun Grace alles, macht den jahrelangen Missbrauch publik: “Danke, dass du mir gezeigt hast, auf wie viele unterschiedliche Arten man verletzt werden kann - jeden einzelnen Tag, selbst wenn du nicht einmal in meiner Nähe bist.” (S. 435)
Das Buch entstand in der Zeit als die Me-Too-Bewegung an Fahrt aufnahm und wird zu einem Teil von ihr. Ich finde, die Me-Too-Bewegung hat nicht nur in Hollywood bewirkt, dass das Leben etwas sicherer geworden ist. Dem Macho-Gehabe wurde ein riegel vorgesetzt, in Hollywood und anderswo.