Beiträge von dracoma


    Verlagsinformation:


    Im Januar 2003 fand Anne Berests Mutter unter den Neujahrswünschen eine verstörende Postkarte mit nichts als den Namen ihrer vier Angehörigen, die in Auschwitz ermordet wurden; ohne Absender, ohne Unterschrift. Anne fragt nach und die Mutter erzählt ihr die tragische Geschichte der Familie Rabinowicz. Aber erst als ihre kleine Tochter in der Schule Antisemitismus erfährt, beschließt Anne, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Mithilfe eines Privatdetektivs und eines Kriminologen recherchiert sie in alle erdenklichen Richtungen. Das Ergebnis ist dieser Ausnahmeroman. Er zeichnet nicht nur den ungewöhnlichen Weg der Familie nach, sondern fragt auch, ob es gelingen kann, in unserer Zeit als Jüdin ein „ganz normales“ Leben zu führen.

    Anne Berest geht dem Schicksal ihrer eigenen Familie nach – und landete damit einen preisgekrönten literarischen Coup, der seit Erscheinen im Herbst 2021 auf der französischen Bestellerliste steht.


    Mein Hör-Eindruck:


    Ein Requiem der besonderen Art!


    Anne Berest spürt dem Schicksal ihrer Familie nach. Auslöser ist eine Postkarte, die lediglich vier Namen enthält und damit an die vier Mitglieder der Familie erinnert, die interniert, deportiert und schließlich in Auschwitz ermordet wurden. Schon die Mutter der Autorin hatte Nachforschungen zur Familiengeschichte angestellt, die sie im 1. Buch in einem großen Dialog der Tochter Anne erzählt.


    Hier entfaltet sich nun die erschütternde Geschichte einer großbürgerlichen und gebildeten jüdischen Familie, die mit der Flucht der russischen Urgroßeltern nach der Oktoberrevolution beginnt. Sie fliehen nach Riga und schließlich nach Palästina, wo sie sich mehr recht als schlecht als Landwirte durchbringen, bis der Sohn sich zur Ausreise nach Frankreich entschließt, in das Land der Menschenrechte, das Land von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Er ist als selbständiger Ingenieur mit Patenten und eigener Firma erfolgreich und seine Kinder besuchen renommierte Schulen, aber Frankreich verwehrt ihm mehrmals die Einbürgerung. Trotz aller Bemühungen bleibt er so der Unbehauste, und damit und mit dem Schicksal der Familie erinnert er das Bild des Juden Ahasver, der ruhelos umherirrt und keine Heimat findet.


    Voller Vertrauen in seine neue Heimat will er den wachsenden Antisemitismus nicht wahrnehmen und meint, der zunehmenden Entrechtung der Juden dadurch zu entgehen, dass er den Hauptwohnsitz der Familie in sein Landhaus in der Normandie verlegt. Eine Flucht kommt für ihn nicht in Frage, und so zieht sich die Schlinge zu: die beiden jüngeren Kinder werden abgeholt, von den Verwandten aus Polen treffen keine Nachrichten mehr ein, schließlich werden sie selber interniert und deportiert. Einzig Myriam, die ältere Tochter, kann der Vernichtung entkommen.


    Das 2. Buch spielt in der Gegenwart. An die Erzählung der Mutter schließt sich eine Art Krimi an, nämlich die Suche nach dem Absender der Postkarte, die alles ins Rollen gebracht hatte. Mutter und Tochter spüren in unterschiedlichsten Quellen dem Lebenslauf Myriams, der Großmutter nach. Auf Erzählungen der Großmutter können sie nicht zurückgreifen, weil die Großmutter schwieg, um die schrecklichen Erlebnisse nicht erneut zu beleben. Und weil sie, wie so viele andere Überlebende auch, ein schlechtes Gewissen gegenüber den Opfern hatte.

    Wie ein großes Puzzle setzt sich so Stück für Stück das Schicksal der Familie zusammen.


    Dabei muss sich der Leser mit zusätzlichen beklemmenden Tatsachen auseinandersetzen. So erfahren wir, sehr verhalten erzählt, wie Franzosen ihre Mitbürger durch Denunziation in die Folterkeller der Gestapo und wie sich die Nachbarn am Eigentum der Familie nach deren Deportation bereichert haben. Der Leser erfährt auch von dem blinden Fleck im französischen Auge, der die Kollaboration vieler Franzosen, z. B. auch der Polizei und Verwaltungsbehörden, mit den Deutschen lange Zeit verschwieg. Und dass erst 1996 die Todesursache „gestorben in der Deportation“ und die Verfolgung aus rassistischen Gründen anerkannt wurde.


    Sehr beklemmend sind auch die Passagen, in denen die Autorin beschreibt, welche Auswirkungen die Tragödie ihrer Familie und ihr (laisiertes) Jüdisch-Sein auf iuhr eigenes Leben hat. Sie erzählt von ihren Ängsten und verleiht dem Phänomen deutliche Konturen, das man inzwischen als transgenerationale Traumaweitergabe bezeichnet.


    Und zusätzliche Aktualität bekommt durch den nicht nur in Frankreich wieder zunehmenden Antisemitismus.


    Wie Anne Berest diese Geschichte erzählt, ist ungemein packend. Das Erzählen der Familiengeschichte wird immer wieder von Fragen unterbrochen und damit immer in die Gegenwart hineingezogen; dazu trägt auch bei, dass die Mutter im Präsens erzählt. Damit gelingt es, die Personen nahe an den Leser heranzurücken, und diese Vermengung von Vergangenheit und Gegenwart macht den Roman so lebendig.


    Das Hörbuch wurde eingelesen von Simone Kabst, die mit ihrer ruhigen, aber lebendigen und warmen Stimme den Erzählton des Romans perfekt trifft.


    10/10 Pkt.


    ASIN/ISBN: 3827014646

    Danke für die Karte! Super! Da habe ich jetzt ein konkretes Bild im Kopf.


    Du hast ganz offensichtlich gründlichst recherchiert, das gefällt mir! Und ich habe den Eindruck, dass Du nicht nur viel Recherche, sondern auch sehr viel Herzblut in diesen Roman gesteckt hast.

    Gotthard - Das Tor zum Süden“ hätte mich eher abgeschreckt

    Geht mir ähnlich! Das wäre mir zu sachlich. Den Titel "Bergleuchten" finde ich spannender.

    Und zum Titel "Bergleuchten" passt es meiner Meinung nach besser, wenn man den hellen, fast strahlenden Berg im Hintergrund sieht. Also ich finde den Ausschnitt gut gewählt.

    Danke für die Karten! Ich hatte mir die Gegend auf einer Straßenkarte angeschaut und wollte noch alte Fotos hervorkramen von eigenen Reisen, weil ich mir das alles genau vorstellen will, aber Deine Postkarten sind prima und reichen mir.


    Wie gefallen euch denn Cover und Titel?

    Mich hat das Cover sehr angesprochen. Mir haben die Farben, die Kontraste und die Linienführung (recht streng und reduziert) sehr gut gefallen! Bei einem anderen Cover hätte ich den Titel "Bergleuchten" als bisschen schnulzig empfunden, aber zusammen mit diesem markigen Cover nicht.

    Ich hätte auch im Buchladen wegen diesem Cover zu dem Buch gegriffen.

    Ich starte mal ...

    :wave

    Zum Prolog:

    Der Prolog setzt mit der Jungfernfahrt ein. Gleich zu Beginn erfahren wir Ort und Zeit. Das mag ich ganz gerne, ich brauche diese Koordinaten, aber das geht vielleicht nicht jedem so.


    Wir erfahren neben Ort und Zeit auch anderes Wichtiges:

    - die Bedeutung des Tunnelbaus als längster Eisenbahntunnel der Welt

    - die Bauzeit

    - die Opfer. Bei der Aufzählung der Opfer kommen die kleinen Leute wie so oft zu kurz. Daher denke ich, dass das ein Thema im Roman sein wird: die Lage der Arbeiter, dieser kleinen Leute, die so oft übersehen werden.


    Wir treffen auch die ersten Personen, die die Handlung vermutlich tragen werden. Da ist vor allem Helene mit ihrem Mann, und weil ihr Mann namenlos bleibt im Unterschied zu den anderen Personen, vermute ich, dass auch das ein Thema sein wird. Der Tunnelbau wird sich, denke ich, mit einer Liebesgeschichte verknüpfen.


    Und noch ein Thema klingt an: Der Tunnelbau polarisiert die Fuhrhalter. Die einen stemmen sich gegen den Tunnelbau, weil sie vermutlich befürchten, dass er sie brotlos macht; diese Sorge wird im Prolog schon als unbegründet dargestellt, weil die Fuhrhalter jetzt die Touristen fahren. Und dann sind da die anderen (Herger), die sich offenbar mit dem Tunnelbau arrangieren.


    Die Rede des Präsidenten hat mich nachdenklich gemacht. Ich gehe davon aus, dass sie überliefert ist, also tatsächlich so gehalten wurde? Dass er den Tunnelbau mit einem Kriegsereignis vergleicht, dass da einige Arbeiter auf dem "Schlachtfeld der Ehre" umgekommen sind - das ist unserem heutigen Denken doch sehr fremd. Aber es tröstet vielleicht die Angehörigen.


    Kapitel 1 - 8

    Ich habe mir das Hörbuch besorgt, und die Kapitel hören sich sehr leicht und flüssig! Ich muss eher aufpassen, nicht übers Pensum hinauszuhören.


    Was mir besonders Spaß macht, ist die Sprecherin. Sandra Hüller ist Schweizerin und liest perfekt. Aber die Dialoge spricht sie im Schweizer Hochdeutsch mit diesem besonderen Tonfall, und das macht die Geschichte sehr authentisch.

    Gefällt mir gut!


    Wir lernen Helene genauer kennen. Ein ungewöhnliches Mädchen. Sie ist weniger im Haushalt tätig, sondern in der Männderdomäne des Fuhrhalters. Sie fährt mit ihrem Vater mit und kennt das "Handwerk" des Fuhrhalters. Sie würde gerne den Betrieb übernehmen, aber Frauen dürfen keine Fuhrhalterei betreiben.

    Das Beste wäre daher, so die Mutter, Helene würde jemanden heiraten, der den Betrieb dann übernimmt. Der Vater scheint mir gelassener zu sein...?

    Das Ehepaar hat offensichtlich den einzigen Sohn, den Erben verloren; ob wir da mehr erfahren? Unfall?


    Die Fahrt über den Pass setzt Können und Erfahrung voraus. Wir erfahren von den Gefahren der Strecke: schmale Straßen, gefährlicher Nebel, enge Kehren, enge Brücken wie die Teufelsbrücke.

    Helene ist sehr heimatverbunden, und die Naturbeschreibungen haben mir gut gefallen.

    ASIN/ISBN: 3895610798

    Verlagsinformation:


    Sommer 1947. Das an den Klippen Cornwalls malerisch gelegene Hotel Pendizack wird durch einen Felssturz verschüttet, und alle, die sich im Haus befanden, liegen unter den Trümmern begraben. Nur diejenigen, die sich zum Zeitpunkt des Unglücks zu einem Fest am Strand versammelt haben, sind verschont geblieben. Kann das Zufall sein?

    Eine Woche zuvor ist das heruntergekommene Herrenhaus, das die verarmten Pendizacks zum Hotel umfunktioniert haben, um die Ausbildung ihrer Söhne zu finanzieren, noch fast ohne Gäste. Nach und nach treffen Urlauber ein, unterschiedlichste Menschen, die sich ein einziges Badezimmer teilen müssen: die fünfköpfige Familie Gifford mit ihren besonderen Ansprüchen, die kapriziöse Schriftstellerin Anne Lechene und ihr Chauffeur, der furchteinflößende Geistliche Mr Wraxton mit seiner Tochter Evangeline. Ein jeder von ihnen, wie auch die Pendizacks, das lebenskluge Dienstmädchen Nancibel und die anderen Bediensteten, schlägt sich mit geheimen Sorgen herum und hat etwas zu verbergen. Vor der herrlichen Kulisse des offenen Meers bahnen sich Freundschaften, Romanzen, Fehden, Feindschaften an. Alles gipfelt in der Feier am Strand – und in der Frage, wer daran teilgenommen hat, um wie durch ein Wunder der Tragödie zu entgehen.


    Mein Lese-Eindruck:


    Der Roman (erschienen 1950) beginnt mit einem Paukenschlag: Ein Pfarrer soll eine Leichenrede entwerfen für die sieben Opfer eines Felssturzes.


    Was war passiert? Schauplatz des Geschehens ist das Haus Pendizack, an der Steilküste Cornwalls gelegen, direkt am Meer, am Fuß einer mächtigen Klippe. Dieses Haus wird von den verarmten Eigentümern, der Familie Siddal, zu einem behelfsmäßigen Hotel umfunktioniert. Und nun kommen Gäste unterschiedlichster Art. Sie bringen ihre eigenen Probleme und Geheimnisse mit und treten nun untereinander in Interaktion. Die Spannung des Romans rekrutiert sich also nicht aus dem ungewissen Ende, sondern daraus, dass der Leser rätselt, wer die sieben Opfer sind.


    Die Autorin lässt sich einen ausgesprochen originellen erzählerischen Kunstgriff einfallen. Sie verbindet nämlich die kirchliche Lehre der sieben Todsünden mit diesen sieben Opfern, sodass für den Leser das Rätselraten beginnt: Zu welcher Person passt welche Todsünde? Gehört diese Person also zu den Opfern? Ändert sie ihr Verhalten bzw. Denken und gehört damit zu den Überlebenden? Oder eher nicht?

    Zugleich bindet die Autorin die alttestamentarische Geschichte von Lot in ihren Roman ein, der als einzig Gerechter mit seinen Töchtern dem Gottesgericht über die sündige Stadt Sodom entging. Und dem Leser bleibt es nun überlassen, daraus seine Schlüsse zu ziehen.


    Das hört sich nach schwerer Kost an. Dem ist aber nicht so. Die Autorin bietet dieses Thema nämlich in einer wunderbar leichtfüßigen Sprache an, durchmengt mit Wortwitz und dem, was man als britischen Humor bezeichnet. Die Komposition des Romans sorgt für zusätzliche Leichtigkeit, weil Briefe, Tagebucheinträge und innere Monologe die Handlung abwechslungsreich gestalten und zugleich dafür sorgen, dass dem Leser mehrere Perspektiven vorgeführt werden. Damit führt die Autorin ihre Figuren dicht an den Leser heran und nutzt die Möglichkeiten, das Innenleben der Figur zu vermitteln. So gelingt es ihr, trotz der Fülle an handelnden Figuren jeder Person klare Umrisse zu verleihen, und der Leser sieht sich in der Lage, die Frage der sieben Todsünden präziser zu bedenken. Und sich ein bisschen wie Gott am Jüngsten Gericht vorzukommen.


    Einige Szenen (z. B. ein schneller Wortwechsel, bei dem die Dialogpartner aneinander vorbeireden) erinnern an Slapsticks, das mag Geschmackssache sein. Bei anderen wiederum bedient sich die Autorin recht souverän filmischer Mittel, wenn sie z. B. Dialoge parallel montiert. Auch die schnelle Abfolge der Szenen führt dazu, dass der Roman leicht, spritzig und sehr unterhaltsam wirkt.


    Und im Hintergrund steht immer die Zeitgeschichte: das England der Nachkriegszeit, das Kriegsgeschehen rund um London, die Flucht, Verarmung und die Rationierung von Lebensmitteln.


    Meine Lieblingsfigur war Mr. Siddal, der Eigentümer des Hotels Pendizack. Zugegeben: Eigentlich ist er das, was man eine verkrachte Existenz nennt, und ein fauler Strick ist er auch, weil er es seiner Frau überlässt, den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Aber er ist ein Philosoph! Nicht nur, weil er Seneca zitiert. Er ist ein scharfer und intelligenter Beobachter der Menschen um ihn herum und erkennt die Bürde, mit der sie belastet sind. Zudem beobachtet er die Geschehnisse aus einer gewissen inneren Distanz und bringt das Beobachtete kurz und bündig auf den Punkt.


    Das Ende hat mich etwas enttäuscht. Da bleiben einige Erzählfäden in der Luft hängen, und die Rückführung auf den Prolog hätte ich mir deutlicher gewünscht.


    Trotzdem: ein spritziger Roman, der souverän verschiedene Erzähltechniken kombiniert und in seiner Lebendigkeit und Frische großen Lesespaß bereitet.


    9/10 Pkt.







    doch sieh mal in den zitierten Eröffnungsbeitrag. Dort steht "Die Bedingung für die Teilnahme an der Verlosung ist eure vorliegende Postadresse ...."

    Du hast natürlich Recht. Da hätte ich genauer aufpassen müssen. Ich habe nachgelesen im Thread "Fragen zum gemeinsamen Lesen" und mich daran orientiert.

    Ich bin noch nicht so lange im Forum.

    Also, es bringt Dich hier keiner um das Erlebnis Deiner ersten Leserunde!

    Das ist mir klar.

    Danke für Deine Mühe.

    ASIN/ISBN: B0BQ37XDKG


    Anne Berest, Die Postkarte


    Ich höre das Hörbuch, ungekürzt, sehr schön eingelesen von Simone Kabst.


    Ein faszinierender Roman! Nicht nur vom Inhalt her, sondern auch, WIE er erzählt wird.


    Inzwischen kann ich verstehen, dass der Roman in Frankreich zum Bestseller wurde. Frankreich ist bisher nicht sehr gut im Fach "Vergangenheitsbewältigung" gewesen.

    denn sie sagt genau das aus, was ich über das Buch denke

    Danke für Deine Rückmeldung und Deine Bestätigung!

    Ist doch immer schön, wenn man nicht alleine mit seiner negativen Meinung dasteht.

    Ich habe mich einfach nur noch gelangweilt beim Hören und zunehmend mehr geärgert.


    Normalerweise hätte ich abgebrochen, aber weil ich das Buch von netgalley hatte, wollte ich auch eine

    Rückmeldung geben. Eigentlich hätte ich mir die schenken können...

    ich habe von dir leider keine Postadresse vorliegen und kann dir deshalb kein Freiexemplar zukommen lassen.

    Das finde ich aber sehr schade.

    Ich habe mich schon im Januar angemeldet und hier immer wieder mal nachgeschaut, damit ich nichts verpasse, aber ich habe nirgendwo einen Hinweis gefunden, dass das Vorliegen meiner Adresse Voraussetzung für die Verlosung ist.

    Es wäre meine erste Leserunde hier gewesen.

    Na, dann nicht.

    :(

    ASIN/ISBN: 3869712775


    Klappentext:

    Er galt als »König der Romantik«, brachte Deutschland mit seinen Übersetzungen Shakespeare und Cervantes nahe, war genialer Entdecker, Förderer, Vorleser – doch seine eigenen frühen Erzählungen, in denen er Wahnsinn, Raserei, Furcht und Schrecken literaturfähig macht, gilt es erst noch zu entdecken.

    Schon als Junge war Tieck ein Bücherfresser par excellence. Und seine eigene Phantasie schlug wilde Volten. Der Fremde, Der Psycholog, Liebeszauber, Der Runenberg und ähnlich heißen seine frühen Geschichten, die freilich kaum jemand kennt. Ein großer Fehler, sagen Jörg Bong und Roland Borgards – und liefern zu Tiecks 250. Geburtstag eine brillante Auswahl davon. Sie erzählen zudem in kurzen Zwischentexten vom Genie ihres Erfinders.

    Tiecks Erzählungen haben bis heute nichts von ihrer mitreißenden Intensität verloren. Denn sie haben es in sich: Tieck entwickelt darin Arten des Erzählens, die bis heute bestimmend geblieben sind, von der Literatur über das Kino bis zur Netflix-Serie, im Dreiklang von Comedy, Horror und Fantasy.


    Mein Lese-Eindruck:


    Kaum zu glauben: eine Werksammlung von Ludwig Tieck, dieses begnadeten Romanschreibers, Novellendichters, Lyrikers, Dramaturgen etc. und Übersetzers, steht immer noch aus. Umso schöner, dass Jörg Bong und Roland Borgards sich entschlossen haben, dem Meister ein besonderes Geschenk zu seinem 250. Geburtstag zu machen: die Herausgabe von 11 seiner frühen Geschichten.


    Tieck war ca. 20 Jahre alt, als er diese Geschichten schrieb und hatte sich nach Studienabbrüchen dazu entschlossen, das Schreiben zu seinem Beruf zu machen und davon zu leben. Liest man diese frühen Geschichten, mag man weder das junge Alter des Schreibers glauben noch das Alter der Geschichten: diese Erzählungen sind wunderbar erfunden und sie lesen sich schwungvoll und frisch.

    Die Herausgeber haben unterschiedliche Geschichten hier versammelt, die ich mit größtem Vergnügen gelesen habe.

    Schon diese frühen Erzählungen spiegeln die ganze Bandbreite von Tiecks Erzählkunst wieder. So lässt er einige seiner Geschichten alltäglich beginnen, z. B. ein Mann macht eine Reise und kommt in einer Stadt an, und in dieses Alltäglich-Bürgerliche schleicht sich nun das Fantastische. Eine kleine Beobachtung von etwas Merkwürdigem und Ungewöhnlichen kann das Einfallstor für Unheimliches und Schauerliches sein. Andere Geschichten wiederum vermengen die Realität mit Elementen einer Anderwelt, in der sich Raum und Zeit aufheben und neue Gegebenheiten schaffen.


    Sehr originell, fast schon modern, ist auch Tiecks Technik des mehrperspektivischen Erzählens, das er an einer Geschichte vorführt. Hier spricht einerseits ein verliebter, aber etwas linkischer Beamter, und auf der anderen Seite spricht eine lebenlustige junge Frau, der er den Hof macht und sie mit seiner Unterhaltung zu Tränen langweilt, die er aber wiederum für Tränen der Rührung hält. Mit dieser unterschiedlichen Sicht auf ein- und dasselbe Vorkommnis irritiert Tieck den Leser, der sich vor Widersprüche gestellt sieht und plötzlich die Relativität der Wahrheit erkennt.


    Besonders beeindruckend sind Tiecks Naturbeschreibungen, die sich nicht in der reinen Beschreibung erschöpfen, sondern immer ein Spiegelbild der seelischen Befindlichkeiten sind und Stimmungen wie Freude, aber auch Angst und Wahnsinn spiegeln. Tiecks Natur ist eine symbolische Seelenlandschaft. Die Wiedergabe von Gefühlen und Stimmungen zieht sich durch die ganzen Geschichten hindurch, und hier zieht Tieck alle Register: von Freude und Übermut angefangen bis hin zu Angst, Zweifel an der Realität, Schwindel, Wahnsinn, Grausen und Selbstverlust.


    Der Band ist originell gegliedert, indem auf jede Geschichte ein Kapitel der Herausgeber folgt, überschrieben mit „Tieck lesen“. In diesen kurzen Zwischenkapiteln weisen die Herausgeber auf literaturgeschichtliche Zusammenhänge hin (z. B. Tiecks Loslösung vom erbaulichen Erzählen der Aufklärung), sie erläutern Schreibtechniken Tiecks, sie bieten Interpretationsansätze an und verbinden die Geschichten miteinander.


    Ein großes Lesevergnügen!


    10/10 P.

    ASIN/ISBN: B0C2PYF8YM



    Klappentext:


    Für diesen Club gilt: Wer einmal drin ist, kommt nie wieder raus!

    Ellery Lloyds Thriller »Der Club. Dabeisein ist tödlich« dreht sich um ein verruchtes Luxus-Resort, jede Menge schmutzige Geheimnisse - und Mord.

    Auf einer vergessenen Insel vor der britischen Küste herrscht seit kurzem der Gipfel des Luxus: Nur die wahrhaft Reichen, Schönen und Berühmten haben Zugang zum elitären Private Member Club »Island Home«, wo sie geschützt vor neugierigen Augen ausgiebig feiern - und andere Dinge tun - können.

    Um bei der drei Tage dauernden Eröffnungsparty des Clubs dabei zu sein, würde so mancher Prominente sein Leben geben. Und mindestens einer tut das auch: Als sich am dritten Abend alle im spektakulären Unterwasser-Restaurant versammeln, wird ein Land Rover gesichtet. Unter der Wasseroberfläche. Und mit einer Leiche darin ...


    Zu den Autoren:


    Ellery Lloyd ist das Pseudonym des Ehepaars und Autorenteams Collette Lyons und Paul Vlitos. Collette ist Journalistin und Herausgeberin, arbeitete unter anderem für Elle, Stylist, Soho House, und schreibt regelmäßig für den Guardian, den Telegraph und die Daily Mail. Paul hat bereits zwei Romane veröffentlicht und lehrt an der University of Surrey Englische Literatur und Creative Writing. Die beiden leben mit ihrer kleinen Tochter in London.


    Mein Hör-Eindruck:


    Das Setting erinnert an einen Agatha-Christie-Roman: eine Insel als „locked room“, auf der sich auf eine Einladung hin einige Menschen versammeln, ein Mord geschieht, und Abgründe tun sich auf.

    Dieses Muster übernimmt das Autorenduo in den wesentlichen Zügen, aber baut es zu einem Roman von immerhin über 11 Stunden Vorlesezeit aus.


    Auf einer Insel soll ein Resort eingeweiht werden: ein Resort, das die ganze Insel umfasst und das mit allem erdenklichen Luxus ausgestattet ist. Zur Einweihung gibt der Eigentümer ein opulentes Fest für geladene Gäste. Diese Gäste sind die Reichen und Schönen dieser Welt und stammen überwiegend aus dem Show-Business. Mit großer Liebe zum Detail erfährt der Leser Einzelheiten zu ihrer Kleidung, ihrer Frisur, ihrem Make-up, zu den Inhalten ihres Kleiderschranks und ihres Kühlschranks, er wird informiert über ihre Vorlieben und ihre Marotten. Auch ihr privates Leben wird thematisiert, und auch ihre Probleme: ob sie noch 40% Rabatt bei Hermès bekommen? Wo denn ihre Einladung zur Met-Gala bleibt? Und wieso antwortet Karl Lagerfeld nicht auf ihren tweet? Ihr ganzes Denken scheint um ihre Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit zu kreisen. Offensichtlich wird beim Leser ein großes Interesse an der Welt der Promis und Celebrities – diesen wichtigen Unterschied erläutert der Roman auch - vorausgesetzt.


    Für die Gäste sorgt ein riesiger Trupp an dienstbaren Geistern, und aus diesem Trupp rekrutieren sich die Erzähler der Geschichte, deren Erzählungen ergänzt werden mit Artikeln aus Vanity Fair. Alle vier Erzähler sind in leitenden Positionen tätig und haben teils erstaunliche Karrieren hinter sich. Wer schafft es schon, vom schlecht bezahlten Garderobenmädchen ohne jede Ausbildung mit einem Satz zur persönlichen Assistentin des Chefs eines Imperiums aufzusteigen? In diesem Roman geht das.


    Die Handlung entfaltet sich sehr gemächlich und nimmt erst langsam Fahrt auf, und auch dann wird sie immer ausgebremst durch unnötige Wiederholungen. Eine multiperspektivische Erzählung kann durchaus ihren Reiz haben, sie bietet z. B. immer die Möglichkeit, das Innenleben einer Figur genau auszuleuchten. Diese Möglichkeit nutzt das Autorenduo jedoch so extensiv aus, dass es immer wieder zu Überdehnungen und unnötigen Redundanzen kommt und der Roman zu lange auf der Stelle tritt.


    Ansatzweise entsteht Spannung, wenn den Reichen und Schönen ihre Masken weggezogen werden und sich ihre Abgründe in Form von Drogen, Alkohol, Ehebruch und dergleichen auftun, aber diese Spannung verflacht sehr schnell durch die unnötigen Wiederholungen. Über die Bezeichnung „Thriller“ kann man sich daher streiten.

    Und über die Tatsache, dass der Roman ein Bestseller der New York Times ist, kann ich mich nur wundern.


    Der Roman ist vielleicht interessant für Leser, die sich für die glamouröse Welt der Schönen und Reichen interessieren, wie sie die Regenbogenpresse anbietet.


    Das Hörbuch wurde eingelesen von Christiane Marx. Ihrer angenehmen Stimme habe ich gerne zugehört.


    4/10 Pkt.