Beiträge von dracoma

    ASIN/ISBN: 3550050739

    Klappentext:


    Als in einer Kleinstadt ein Jugendlicher verschwindet, steht der Schuldige schnell fest: Hat Richard seinen Freund Tom im Wald von einer Brücke in den reißenden Fluss gestoßen? Richard wehrt sich gegen die Anschuldigungen, doch er verstrickt sich dabei in Lügen. Niemand glaubt ihm. Dabei ist Toms Abwesenheit so ungeheuerlich, dass Richard selbst kaum noch zu atmen wagt. Seine Suche nach dem Freund führt ihn auf die dunkle Seite von Ballantyne. Dort steht das Nachthaus. Was geschah in jener Nacht?


    Mein Hör-Eindruck:


    Herr Nesbo, Sie treiben da ein irres Spiel mit meinen Vorstellungen von Wirklichkeit!


    Zwei Jungen, einer davon der Ich-Erzähler Richard, treiben Unfug am Telefon und rufen eine willkürlich herausgesuchte Nummer an – und zum Schrecken des Ich-Erzählers und auch des Lesers wird der Freund in den Telefonhörer hineingesogen und verschwindet. Soll man als Leser diese Geschichte glauben? Sicher nicht. Erzählt Nesbo uns hier einen Horror-Roman?


    Ein zweiter Freund verschwindet ebenfalls auf eine unwirkliche Art: er mutiert zum Käfer. Aha, denkt der Leser, das ist eine Kafka-Adaption! Hatte Nesbo nicht vor Jahren bei dem sog. Shakespeare-Projekt mitgemacht und eine geniale Adaption von „Macbeth“ geschrieben? Wo er den düsteren mittelalterlichen Stoff in das genauso düstere zeitgenössische Kriminellen-Milieu von Edinburgh verlegte? Also wäre das hier eine Adaption von Kafkas „Die Verwandlung“? Richard, der Ich-Erzähler schlägt zwar mit einem Kafka-Band nach dem Insekt, aber damit ist diese Parallele schon erschöpft. Keine Adaption. Was dann?


    Ein Jugendroman mit Horror-Elementen? Der Leser gibt die Hoffnung nicht auf, dass sich das Geschehen auf irgendeine Weise real und glaubhaft auflöst. In dieser Hoffnung wird er auch immer wieder vom Erzähler bestärkt – bis der nächste verwirrende Dreher kommt. Was ist denn nun wahr? Kann ich Richards Erzählung glauben? Der Leser erlebt die Handlung ausschließlich aus Richards Sicht, und sogar Richard zweifelt gelegentlich, ob seine Wahrnehmungen der Realität oder Alpträumen entstammen.

    Dazu kommt, dass man meistens in Romanen dieser Art durch die Reaktionen und Handlungen der anderen Figuren eine Fremdperspektive auf den Protagonisten erhält. Und das vermeidet der Autor. Er sorgt dafür, dass der Leser keinerlei Außenperspektive erhält, weder durch Beschreibungen noch durch die Gespräche Richards mit anderen. Damit entfällt ein mögliches Korrektiv, und die Verwirrung des Lesers hält an. Der Leser bleibt quasi gefangen in Richards Kopf und in dessen Wahrnehmung der Wirklichkeit.


    Nesbo spielt hier souverän ein Katz-und-Maus-Spiel mit seinem Leser! Stimmungsvolle Naturbeschreibungen, Aufbau von Spannung, das Erstellen dreidimenionaler Figuren - das alles beherrscht Nesbo, und das setzt er gekonnt ein. Trotzdem: der 3. Teil hat einige Längen, aber immerhin: das Verwirrspiel wird gelöst.


    Der Sprecher David Nathan erzählt diese verwirrende Geschichte sehr ansprechend. Allerdings störte mich häufiger seine Satzmelodie, die am Ende des Satzes nach oben ging, was dem Satz einen unpassenden ironischen Unterton verleiht. Wen das nicht stört, wird Vergnügen haben an der sinnbetonten, temporeichen Lesung.


    08/10 Pkt.

    Ich bin gespannt auf das neue Buch meines Lieblingsautors

    Ich "lese" es auch gerade als Hörbuch.

    Wie gefällt es Dir?

    Ich bin etwas irritiert, aber habe eben erst mit Teil II begonnen.

    Gegruselt habe ich mich bisher noch nicht. Im Gegenteil: am Anfang dachte ich, dass das eine Art Kafka-Adaption ist, weil Nesbo im Rahmen des Shakespeare-Projekts eine (großartige!) Adaption von "Macbeth" geschrieben hatte.


    Ich bin gespannt, wie es Dir gefällt.

    Beim "Sessellift" bin ich noch etwas unentschlossen,

    Dann warten wir mal Dein Urteil ab.

    Wir sehen offensichtlich dieselben Schwachpunkte, wenn man das denn so nennen will. Er hat es als Abschiedswerk entworfen, und diese elegische Grundstimmung, wie sie in dem Bild des Sessellifts Ausdruck findet, hat mir sehr gut gefallen. So gut gefallen, dass ich den Rest verziehen habe :).

    Er ist einfach ein begnadeter Erzähler!

    Ich habe wieder ein Buch für diesen Thread. Mit einem spannenden Thema!

    Im Mittelpunkt steht G.W. Pabst, in der Weimarer Republik einer der berühmtesten Regisseure neben Ernst Lubitsch und Fritz Lang. Nolens - volens hat er sich von den Nationalsozialisten korrumpieren lassen.

    Das erzählt Kehlmann in sehr schönen Bildern.

    ASIN/ISBN: 3498003879

    ASIN/ISBN: 3498003879



    Klappentext:


    Einer der Größten des Kinos, vielleicht der größte Regisseur seiner Epoche: Zur Machtergreifung dreht G.W. Pabst in Frankreich; vor den Gräueln des neuen Deutschlands flieht er nach Hollywood. Aber unter der blendenden Sonne Kaliforniens sieht der weltberühmte Regisseur mit einem Mal aus wie ein Zwerg. Nicht einmal Greta Garbo, die er unsterblich gemacht hat, kann ihm helfen. Und so findet Pabst sich, fast wie ohne eigenes Zutun, in seiner Heimat Österreich wieder, die nun Ostmark heißt. Die barbarische Natur des Regimes spürt die heimgekehrte Familie mit aller Deutlichkeit. Doch der Propagandaminister in Berlin will das Filmgenie haben, er kennt keinen Widerspruch, und er verspricht viel. Während Pabst noch glaubt, dass er dem Werben widerstehen, dass er sich keiner Diktatur als der der Kunst fügen wird, ist er schon den ersten Schritt in die rettungslose Verstrickung gegangen. Daniel Kehlmanns Roman über Kunst und Macht, Schönheit und Barbarei zeigt, was Literatur vermag: durch Erfindung die Wahrheit hervortreten zu lassen.


    Mein Hör-Eindruck:


    Darf Kunst alles?


    Welche Möglichkeiten hatte ein Künstler in der Zeit des Nationalsozialismus? Er konnte sich anpassen wie der Bildhauer Arnold Breker. Er konnte freiwillig oder unfreiwillig ins Exil gehen wie so viele. Oder aber er konnte ins sog. innere Exil gehen, d. h. der Künstler war weiterhin tätig, aber ohne die Partei und das Regime zu unterstützen. Zu dieser Gruppe Künstler gehören z. B. der Maler Otto Dix oder der Schriftsteller Hans Fallada.


    Kehlmann widmet sich in seinem Roman dieser Frage und dem Regisseur G. W. Pabst, einem der bekanntesten Filmregisseure der Weimarer Republik, der Entdecker Greta Garbos und Regisseur berühmter Filme wie „Die freudlose Gasse“ oder „Die Büchse der Pandora“, mit denen er international bekannt wurde. Wie stand Pabst zum Nationalsozialismus?


    Dieses Thema fächert Kehlmann vielseitig auf. Pabst befand sich zur Zeit der Machtergreifung in Frankreich und plante die Auswanderung in die USA, weil er den Nationalsozialismus ablehnte. Bei einem Besuch seiner Mutter in der Steiermark verhinderte jedoch der Ausbruch des II. Weltkrieges die geplante Auswanderung. Pabst wurde daher einer der Künstler, die blieben, aber unfreiwillig.

    Kehlmann teilt seinen Roman auf in drei große Einheiten: „Draußen“ – „Drinnen“ – „Danach“. Es ist der Block „Drinnen“, der aufzeigt, wie Pabst von Goebbels in die Kulturpolitik des Reichs verstrickt wurde. Pabst lässt sich verstricken, weil er von der Qualität seiner Arbeiten und seinen Fähigkeiten überzeugt ist und nicht anders kann: er muss Filme machen. Und dafür nimmt er einiges in Kauf: nicht nur persönliche Verwerfungen mit seiner Frau, sondern auch Zensur, kriegsbedingte Einschränkungen, Drohungen und auch das Zu-Kreuze-Kriechen vor Goebbels und anderen Größen des Reichs.


    Kehlmann gestaltet seinen Protagonisten aber nicht zum tragischen Helden, sondern stellt seine Mit-Schuld deutlich heraus. Pabst kann sich eines Tages nicht länger der Herstellung von propagandistischen Durchhaltefilmen entziehen und erklärt sich einverstanden, Bücher des fanatischen Nationalsozialisten Karrasch zu inszenieren, darunter „Der Fall Molander“. Der Film entsteht Ende 1944 in Prag, abseits von der bedrohten Hauptstadt. Die Arbeit an diesem Film wird für Pabst zu einer Obsession: dieser Film soll ihn wieder in die Riege der größten Regisseure heben, er wird ihn unsterblich machen, er wird als Kunstwerk das III. Reich überdauern. Dafür ist ihm alles recht, auch der Einsatz von KZ-Insassen als Statisten, wie er es bei Leni Riefenstahl zuvor gesehen hatte – eine grausige Szene, die seinen Assistenten bis ans Ende seiner Tage traumatisiert.


    Kehlmann hat sichtlich genau recherchiert, aber trotzdem bleiben Lücken, die er mit sehr schönen kleinen Szenen füllt – z. B. mit der anrührenden Szene, als er Greta Garbo – von ihm entdeckt, inzwischen weltbekannt – vergeblich um Hilfe bittet. Andere Szenen wiederum sind komisch und man könnte lachen, wenn das Thema nicht so ernst wäre. So nimmt z. B. Papsts Ehefrau gezwungenermaßen an einem Literaturkränzchen teil, und es gelingt Kehlmann, nur mit dem identischen Satzbau und Wiederholungen die Langeweile der besprochenen Nazi-Literatur indirekt zu spiegeln. Ebenso subtil und ironisch-kritisch gestaltet er die Premiere eines Riefenstahl-Films. Da tritt der Humorist P. G. Wodehouse auf, der als britischer Kriegsgefangener zur Teilnahme gezwungen wird, um Internationalität vorzutäuschen – und der beharrlich und süffisant ständig nachfragt, wo denn nur der nackte Speerwerfer sei.


    Wie weit dürfen Kompromisse gehen und wie weit darf Unterwerfung gehen? Wo ist die Grenze zwischen Korrumpierbarkeit und persönlicher Integrität? Wie weit darf man sich anpassen, wo beginnt der Abbau von ethischen Grundsätzen? Kehlmann liefert keine Antworten, er erzählt nur; die Antworten muss sich der Leser selber geben.


    Das Hörbuch wird eingelesen von Ulrich Noethen - einfach nur perfekt.


    Fazit: „Lichtspiel“ ist nicht nur ein Buch über einen Filmemacher, sondern auch ein überaus packendes Buch über das Spiel von Licht und Dunkel.

    Bei näherer Betrachtung erinnern mich die Vorhaltungen des Lehrers an seine Schülerschaft an meine eigenenSchulzeit;

    Das geht mir auch so; für meine Generation ist dieser Lehrer nicht überzeichnet. Aber heute? Immerhin führt Schachinger den Roman ja ganz nahe an die Jetzt-Zeit heran.

    Vielleicht ist es ja so, wie ich in meinem Lese-Eindruck geschrieben habe: hinter diesen Schul-Mauern ist so allerhand noch möglich. Dazu kommt auch, dass die Eltern sich nicht einmischen, sie überlassen ihre Kinder der Schule und kümmern sich nicht weiter drum.

    Überhaupt gibt es in diesem Roman keine oder wenig fürsorgliche Eltern.


    Du sprichst diese Schlusszene an, wo sein ehemaliger Freund einen eher versöhnlichen Blick zurück wirft - aber er marschiert in Reih und Glied, er ist beim Heer. Till dagegen will Zivildienst machen und empfindet die Schule daher als "Hölle".

    Eine ganz interessante kleine Begegnung, sehr schönes Schlussbild, finde ich!

    Eines steht jedoch für mich fest, und zwar dass "Echtzeitalter" es nicht unter meine Top 5 Bücher in diesem Jahr schaffen wird,

    Ich finde es immer hilfreich und interessant, andere Meinungen zu hören! Das Buch hat von mir nicht die volle Punktzahl bekommen, weil mir die Emotionalisierung gefehlt hat: das Buch hat mich emotional nicht so ergriffen (mir fällt leider keine besseres Wort dafür ein), wie es hätte sein können.

    Aber das ist eine sehr persönliche Wertung, das können andere wiederum anders sehen.

    Der Lehrer Dolinat: ist der nicht überzeichnet? Ich weiß es nicht.

    Salonlöwin , ja, hier gibt es noch einen Eindruck - mir hat das Hörbuch sehr gut gefallen!

    Ich mochte den bissigen, unterkühlten Humor.

    1 Punkt Abzug habe ich gemacht, weil die Entwicklung Tills ab und an hätte deutlicher werden können.


    Mein Hör-Eindruck:



    Altmodisch erzählt, aber nicht altbacken!


    Der 10jährige Till besichtigt mit seiner Mutter seine künftige Schule, ein traditionsreiches Wiener Gymnasium, das stolz auf seine Geschichte und seine Absolventen ist. Die hohe Mauer fällt ihm auf, die das Institut umgibt, aber noch ist er zu jung um zu erkennen, dass diese Mauer Schule und Schüler vom Leben draußen abtrennt.


    Innerhalb dieser Mauern ist nämlich die Welt noch in Ordnung, jedenfalls nach Meinung der Schulleitung: man pflegt die konservativen Werte und lehnt die Sozialdemokratie und andere Verirrungen ab, die sich außerhalb der Mauer breitmachen. „Das Besondere an Wien sind die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade, die weitgehend funktionieren, aber nie von hier wegziehen könnten, weil ihr menschenfeindliches Verhalten in keiner anderen Stadt so wenige Konsequenzen hätte“, heißt es so herrlich sarkastisch im Roman, und einem dieser „Wahnsinnigen“ wird Till ausgesetzt sein: seinem Klassleiter Dolinar. Dolinar hat rückwärtsgewandte pädagogische Konzepte, die auf Unterordnung abzielen, und sein Literatur-Unterricht besteht im Auswendiglernen sinnentleerter Details.


    Till aber rebelliert nicht, sondern er passt sich an, was sich bei Schachinger so liest:

    „Sie sagen Egipten, weil der Dolinar überzeugt ist, dass Ägüpten falsch sei, und als er mit jemandem spricht, der ihn vom Gegenteil überzeugt, und daraufhin festlegt, dass ab jetzt Ägüpten die richtige Aussprache sei, folgen sie ihm, und als der Dolinar nach zwei Wochen zurückrudert und verlauten lässt, dass seine Quelle nicht zuverlässig gewesen sei, sagen sie eben wieder Egipten.


    Till geht den Weg des geringsten Widerstandes, er will lediglich die Schulzeit überleben, was ihn aber nicht vor den willkürlichen Strafaufsätzen des Lehrers Dolinar schützt. Till findet aber eine Fluchtmöglichkeit: er wird Gamer. Er vertieft sich in die Welt eines Echtzeit-Strategiespiels und feiert dort große Erfolge, und dem Leser kommt es so vor, als ob Till in seinem echten Leben einer seiner Spielfiguren gleicht.


    Der chronologisch, also eher altmodisch erzählte Roman begleitet Till bis zum Abitur. Der Tod des Vaters, Freundschaften erste Liebe, Kontakte zu den Reichen, Schönen und Bornierten, Wettbewerbe und die Zeitgeschichte – all das prägt Till. Die Beschreibungen der Spiele sind gelegentlich langatmig, aber trotzdem interessant auch für einen Nicht-Gamer. Ausgesprochen witzig und ironisch-bösartig sind Schachingers Beschreibungen des täglichen Schul-Lebens. Die Schüler gehören alle einer privilegierten Schicht an, der kein Schulverweis und auch keine schlechten Noten etwas anhaben können: ihr Weg nach oben ist von Geburt an vorgezeichnet und gesichert. Alle sind „akademisch mittelmäßig, ambitionslos, aber trotzdem eingebildet“, meint Schachinger, und passen daher hervorragend zu Österreich.


    Schachingers Freude an humorvollen, ironischen Szenen ist unübersehbar und macht die Lektüre zu einer leichten und vergnüglichen Angelegenheit. Mag sein, dass ein Lehrer wie Dolinar aus der Zeit gefallen ist und überzeichnet ist, aber kann es sich nicht auch so verhalten, dass hinter der abwehrenden Mauer der Schule solche Relikte einer rechtslastigen schwarzen Pädagogik überleben können? Schachingers Erzählung ist einerseits scharfzüngig, pointiert und witzig, aber andererseits zeigt er Mitgefühl mit seinen Figuren und ihren menschlichen Kümmernissen.


    Die Freude am Buch wird gesteigert durch einen perfekten Sprecher, der den Wiener Tonfall wunderbar in sein Vorlesen integriert. Ein ganz großes Vergnügen!


    Fazit: ein absolut lesenswerter/hörenswerter Roman, weniger ein Schul- oder ein Adoslezenz-Roman als ein breit angelegter Gesellschaftsroman.


    09/10 Pkt.

    ASIN/ISBN: B0C33K7W8Y


    Klappentext:

    Ein Hochhaus am Waldrand ist das Zuhause von Nanush und ihrer Urgroßmutter Babulya. Einst hat die Urgroßmutter ihre Urenkelin von Sibirien nach Deutschland getragen, nun deckt Nanush die alte Frau abends mit einer Steppdecke zu. Voller Wärme und Poesie erzählt Birgit Mattausch von einem unzertrennlichen Familienband und einer ganz besonderen Hausgemeinschaft.

    Wenn Babulya sagt, sie seien aus dem Frühling gekommen, weiß Nanush, dass ihre Urgroßmutter nicht nur sie beide damit meint, sondern alle Bewohner*innen des Hauses: Oma Elsa, die weder Hochdeutsch noch Russisch spricht, Felek, die aus Kurdistan geflüchtet ist, Vitali, der sich von seinem Hund beschützen lässt, oder Gregorij, der weiß, wie man Sonnenblumenkerne im Mund schält. Jahrelang war Babulyas Küche der Mittelpunkt all ihrer Geschichten, mit den Tomatenpflänzchen am Fenster und dem Salbei an der Decke. Doch nun ist Babulya so alt, dass sie kaum noch ihr Bett verlässt. Was bedeutet es für die Hausgemeinschaft und was bedeutet es für Nanush, wenn die Hüterin ihrer Erinnerungen eines Tages nicht mehr da ist? Ein Familienroman, der bildstark vom Wurzelnschlagen auf betoniertem Terrain erzählt.


    Mein Lese-Eindruck:

    Babulya, eine Russlanddeutsche, verlässt mit ihrer nur wenige Monate alten Urenkelin ihre Heimat und übersiedelt wie viele andere auch nach Deutschland, der Heimat ihrer Vorfahren. Diese Russlanddeutschen sind keine Flüchtlinge und keine Vertriebenen, auch wenn vielen das Schicksal der Vertreibung durch die Politik Stalins vertraut ist; sie sind Umsiedler bzw. Spätaussiedler, die im Zuge der Ostpolitik vor allem in den 80er Jahren in die Bundesrepublik wechselten.


    Babulyas neue Heimat besteht aus einer Wohnung in einem Hochhaus an der städtischen Peripherie, in der sie zusammen mit anderen Russlanddeutschen lebt. Ihre Küche ist das Zentrum des Zusammenlebens mit ihrer Enkelin Nanush und auch das Zentrum für Begegnungen mit den anderen Bewohnern. Hier werden die Geschichten erzählt, die Babulya bewahrt hat und weitergibt und die mit diesem Buch dem Vergessen entrissen werden.


    Die Geschichten Babulyas beschwören eine Vergangenheit herauf, die von Entbehrungen, Hunger, staatlicher Willkür, Verschleppungen und persönlichen Tragödien gekennzeichnet ist. Ihre Geschichten erzählen aber auch von Geheimnissen, phantastischen und ins Mythische überhöhten Ereignissen, von Traditionen, von Essgewohnheiten, Familienzusammenhalt und Zukunftsträumen.

    Babulya und ihre Ur-Enkelin Nanush sind in fast symbiotischer Liebe miteinander verbunden. Inzwischen ist Babulya alt und pflegebedürftig, sodass sich ihre Rollen vertauschen. Nun ist es Nanush, die sich mit Hingabe um ihre Urgroßmutter kümmert, auch wenn sie dabei immer wieder an ihre Grenzen kommt.


    Durch die Ich-Erzählerin Nanush erfährt der Leser auch die Gegenwart der russlanddeutschen Wohngenmeinschaft, z. B. ihre Puzzle-Bilder an der Wand, die Vorliebe für Plastikblumen, die Liebe zu den traditionellen kleinen Kopftüchern und zu eingelegten Salzgurken, ihren altertümlichen Dialekt, ihre beruflichen Träume und das häufige Platzen dieser Träume.


    Die Autorin wählt für ihren Roman eine Sprache, die den Erzählungen Babulyas angepasst ist. Realität und Traumvorstellungen vermengen sich miteinander; Menschen verwandeln sich, und auch das Haus verwandelt sich zu einem Nadelbaum, der seine Äste in den Himmel streckt. Der Wald wird zu einem Bild des Todes, dem sich Babulya zum Zeitpunkt der Erzählung annähert, und die Krähen, die Todesbotinnen, warten bereits auf sie. Dazu passen auch die poetischen „Beschreibungen“ der Personen, die dem Leser nicht immer Konkretes bieten, aber doch einen Eindruck vermitteln. Vieles bleibt in Andeutungen stehen wie z. B. die Tatsache, dass Nanush bei der Umsiedlung auf die Begleitung ihrer Mutter verzichten musste. Auch die Erzählungen sind oft eher Fragmente und wirken wie schlaglichthafte Erinnerungen. Ein wenig mehr Ausgesprochenes hätte dem Roman mehr Konturen verliehen.


    Die stets lyrische Sprache hat durchaus ihren Reiz. Sie wird verstärkt durch eingeschobene rechtsbündige Texte, durch eine Vielzahl von Metaphern und eigenwillige Satzstrukturen. Aber nicht alle Ereignisse sind wohl dazu geeignet, in einem poetischen Schwebezustand gehalten zu werden. Wenn z. B. der Junge Vitali, auf Aufforderung seiner Mutter hin, ein anderes Kind so zusammenschlägt, „bis der Boden vor unserem Haus rot war von Blut“, dann kommt die Poetik an ihre Grenzen. „Und Momes Wald. Reh Wolf Bär unsre Freunde. Das Licht uns golden im Haar“ – solche staccato-artigen Sätze und auch der Einsatz vieler stilistischer Mittel sind unbestritten kunstvoll, aber die Häufung wirkte auf mich nur maniriert und zu gewollt.


    Bei aller Liebe zur Lyrik: mir war es zuviel.


    6/10 Pkt.

    ASIN/ISBN: 346205080X



    Klappentext:


    Ein einsames Haus in den Bergen und eine Naturkatastrophe, nach der ein Schweizer Kanton sich plötzlich lossagt von unserer Gegenwart: Sinkende Sterne ist ein virtuoser, schwebend-abgründiger Roman, in dem eine scheinbare Idylle zur Bedrohung wird und der uns tief hineinführt in die Welt der Literatur selbst.

    Thomas Hettche erzählt, wie er nach dem Tod seiner Eltern in die Schweiz reist, um das Ferienhaus zu verkaufen, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Doch was realistisch beginnt, wird schnell zu einer fantastischen, märchen-haften Geschichte, in der nichts ist, was es zu sein scheint. Ein Bergsturz hat das Rhonetal in einen riesigen See verwandelt und das Wallis zurück in eine mittelalterliche, bedrohliche Welt. Sindbad und Odysseus haben ihren Auftritt, Sagen vom Zug der Toten Seelen über die Gipfel, eine unheimliche Bischöfin und Fragen nach Gender und Sexus, Sommertage auf der Alp und eine Jugendliebe des Erzählers.

    Grandios schildert Hettche die alpine Natur und vergessene Lebensformen ihrer Bewohner, denen in unserer von Identitätsfragen und Umweltzerstörung verunsicherten Gegenwart neue Bedeutung zukommt. Im Kern aber kreist die musikalische Prosa dieses großen Erzählers um die Fragen, welcher Trost im Erzählen liegt und was es in den Umbrüchen unserer Zeit zu verteidigen gilt.


    Mein Lese-Eindruck:


    Eine Naturkatastrophe größeren Ausmaßes steht am Beginn dieses Buches: ein Bergsturz im unteren Wallis hat das Tal verschüttet, die Rhone wurde zurückgestaut und bildet nun einen gewaltigen See, der die Dörfer des Tals in sich begräbt. Der Autor hält sich nicht auf mit Erläuterungen oder Hinweisen zu den vermutlichen Ursachen des Bergsturzes. Kein Wort über Dauerregen, Gletscherschmelzen, Klima und dergleichen, sondern er kommt sofort zu seinen eigentlichen Themen.


    Der Protagonist, namensidentisch mit dem Autor, ein alternder und beruflich gestrandeter Literat, reist nun in das Tal, um nach dem Tod seiner Eltern sein Elternhaus zu verkaufen. Und da beginnt schon das Irritierende: er kommt in seine Heimat und ist dort ein unerwünschter Fremder.


    Der gewaltige Erdrutsch hat nicht nur die Dörfer zerstört, sondern hat auch die bisherigen gesellschaftlichen Strukturen, die Zivilisation, die Neuzeit im Element Wasser begraben. Ein gewaltiges Totenreich ist hier entstanden, eingerahmt von den mächtigen und unzugänglichen Bergen der Hochalpen. Die überlebende Bevölkerung schließt sich ab und installiert eine restriktive feudale Ordnung. Hier kann sich der Autor einige diskrete Seitenhiebe auf das rückwärtsgewandte bürokratische Selbstverständnis der Schweizer und ihren ausgeprägten Geschäftssinn nicht verkneifen. Der unheimlich dunkle See kann mit einer Fähre überquert werden, und hier gelingen dem Auto sehr eindringliche und archaische Bilder, die an griechische Mythen erinnern und die Motive der Vergänglichkeit und des Todes noch verstärken.


    Durch den Untergang des Jetzigen tauchen die alten, vorschriftlichen Mythen und Sagen wieder aus der Versenkung auf, und der Leser lauscht mit dem Protagonisten den Sagen von Hungersnöten, von Totenwanderungen über die Gebirgskämme, von todbringenden Schneewehen, von den heimatlos umherirrenden Armen Seelen und ihren gefährlich verlockenden Lichtern. Der Autor schafft hier eine düstere und unheimliche Atmosphäre, der sich der Leser nicht entziehen kann – und die verstärkt und gleichzeitig verschönt wird durch die einfach nur grandiosen Beschreibungen des unwirtlichen, stürmischen Wetters und der Natur.


    An diesem Punkt zweigen sich Hettches andere Themen ab. In breit angelegten Reflexionssträngen sinniert sein Protagonist über die vielschichtigen und existenziellen Themen Tod und Vergänglichkeit und vor allem um die Möglichkeiten, beides zu überwinden. Hier zeigt sich ein Walliser Mythos als Hoffnungsschimmer: weit oben im Gletscher befinde sich eine blühende Landschaft, in der die Sonne scheine, in der Kirsch- und Zwetschgenbäume wachsen und in der jeder Irrende und Suchende seine Heimat finden könne. Wo ist dieses Paradies, das den Tod überwindet? Die Antwort auf diese Frage hebt sich den Autor für den Schluss auf...


    Hier schließt sich ein poetologischer Diskurs an, in dem Hettche gedankenreich und durchaus spannend Homers Ilias und die Sagen um Sindbad, den Seefahrer bemüht. Was für ein schöner Gedanke: Morgenland und Abendland treffen sich in ihrer phantasievollen Erzählfreude! Beiden Helden fühlt sich der Protagonist ähnlich: sie sind vaterlos und heimatlos wie er, Suchende und Irrende auf dem Wasser. Aber es geht um das Erzählen, um die Macht des Erzählens, das Konstrukt einer fiktiven Realität und das Verhältnis von Realität/Wahrheit und Fiktion.


    Homer konnte seine Welt, also die Welt des Odysses, noch als Sinnganzes begreifen, und so begreift sie auch Odysseus: er glaubt "an die Welt, so wie sie ist".

    Das geht heute nicht mehr, sinniert der Protagonist. Unsere Wirklichkeit ist dekonstruiert, d. h. sie ist in Einzelwahrnehmungen zersplittert, und das Sinnganze existiert nicht mehr bzw. kann nicht mehr gesehen werden. Dichter und Leser sind nicht mehr durch ein gemeinsames Weltverständnis miteinander verbunden.


    Und das verändert auch das Erzählen. Die Dichtung, meint der Protagonist, führt den Dichter und den Leser aus seiner Welt heraus, anders als bei Homer. Dichtung versucht, die Welt zu erreichen, aber es bleibt bei dem Versuch; Dichtung ist immer eine Konstruktion in dem Sinn, dass sie die subjektive Wahrheit des Dichters wiedergibt, aber nicht wie bei Homer die der Welt.

    Die Folge ist, dass Literatur und Sprache eine eigene Dynamik entfalten, die Figuren werden quasi selbstständig und bestimmen selber ihr Leben. Die Begriffe Realität und Wahrheit sind nicht mehr fest umrissen, sondern taumeln wie „sinkende Sterne“, ihrer festen Konturen beraubt.


    Am Schluss des Romans wird die Frage nach dem Paradies beantwortet, und hier schließen sich alle Themen des Buches nahtlos und ungemein elegant zusammen.

    Das Paradies ist die Überwindung der Zeit und der Vergänglichkeit, und die gelingt in der Kunst. Und die Kunst kann eine Wahrheit bieten, die die tatsächliche Wirklichkeit nicht bieten kann.


    Fazit: ein vielschichtiges Buch über Dichtung und Wahrheit und über existenzielle Fragen wie Vergänglichkeit und Tod und v. a. die Frage nach der Überwindung der Vergänglichkeit, sprachlich beeindruckend schön und mit grandiosen Beschreibungen der Natur.



    10/10 Pkt.

    ASIN/ISBN: B0CH3SWSHQ



    Klappentext (gekürzt):


    Neujahrsmorgen 1910: Franz Marc zerstört ein Gemälde, an dem er monatelang gearbeitet hat, das seinem kritischen Blick aber nicht standhält. Wie sehr er darum ringt, das Pferd nicht bloß abzubilden, sondern über eine neuartige Farbgebung die Welt gleichsam aus den Augen des Tieres zu zeigen! Doch Marcs Kunst ist dem Publikum unverständlich, sein unverwechselbarer Stil zu modern. Kaum einer versteht, dass es dem begnadeten Maler darum geht, hinter die Fassade zu schauen, um dort das Wahrhaftige zu erblicken. So sind die erhofften Erfolge bislang ausgeblieben, es steht nicht gut um Marc.


    Da lernt er August Macke kennen und über ihn einen zahlungskräftigen Mäzen. Zudem findet Marc Anschluss an den Künstlerkreis um Wassily Kandinsky. Mit dem Russen begründet er den „Blauen Reiter“, mit dem die beiden die Kunst erneuern. Ein wichtiger Weggefährte Marcs wird Paul Klee, eine besondere Verbindung entsteht mit der Dichterin Else Lasker-Schüler. In der freien Landschaft Oberbayerns findet der naturverbundene Marc seine bevorzugten Sujets. Immer häufiger sind seine blauen Pferde, roten Rehe und gelben Kühe in namhaften Ausstellungen zu sehen. Ein Lebenstraum erfüllt sich gar, als der Maler und seine Frau Maria eine Villa südlich von München erstehen. Doch ihr Glück währt nicht lange: Im August 1914 wird Marc zum Kriegsdienst eingezogen ...


    Mein Lese-Eindruck:


    „Das reine Blau steht für ... stark, herb, durchgeistigt.“



    Der Autor nimmt fünf Jahre des kurzen Lebens von Franz Marc ins Visier: die Jahre 1910 bis zu seinem frühen Tod im März 1916.


    Das Jahr 1910 ist gut gewählt. Es ist das Jahr, in dem Marc mit seiner Lebensgefährtin und späteren Ehefrau Maria Franck aufs Land zieht, und zwar nach Sindelsdorf im Pfaffenwinkel, einem landschaftlichen schönen Eck im bayerischen Oberland. Das Leben auf dem Lande kommt Marc entgegen, er ist kein Stadtmensch. 1910 ist aber auch das Jahr, in dem er die Vettern Macke kennenlernt, und mit August Macke verbindet ihn schnell eine tiefe Freundschaft. August Macke ist es auch, der Franz Marc mit dem Sammler und Mäzen Bernhard Koehler bekanntmacht und Marcs extrem angespannte finanzielle Situation mildert. 1910 ist auch das Jahr, in dem Marc seine erste, positiv aufgenommene Einzelausstellung in München hatte und in dem er mit Kandinsky und der revolutionären Neuen Künstlervereinigung zusammentraf, von der sich Marc wesentliche Impulse für sein künstlerisches Schaffen erhoffte.


    Der Weg Marcs wird sorgsam nachgezeichnet, und dem Leser werden in Szenen und Gesprächen die Maler und Malerinnen vorgestellt, mit denen Marc zu tun hat und die seinen Weg beeinflussen. Da ist der etwas dominante Kandinsky mit seiner Gefährtin Gabriele Münter, die gebildete russische Gräfin Marianne Werefkin und ihr skandalfreudiger Liebhaber Jawlensky, dazu Paul Klee, Erich Heckel und andere, mit denen er um neue Formen und neue Gestaltungsweisen ringt. Im Unterschied zu Kandinsky entscheidet sich Marc gegen die Abstraktion, aber kunsttheoretisch sind sie sich einig: das Sujet sollte nicht aus der äußeren Realität entnommen werden, sondern vollständig aus dem Inneren des Künstlers stammen. Diese vergeistigte Kunst sollte ein neues Zeitalter der Kunst begründen, in dem Farbe und Form einen eigenen, teils auch symbolischen Stellenwert erhalten. Zugleich wird der Kunst eine wesentliche Aufgabe zugewiesen: sie soll der Menschheit zu einer besseren, harmonischen und naturverbundenen Welt verhelfen.


    Der Autor zeichnet Marcs kunsttheoretische Überlegungen sorgfältig nach, und so erklärt er plausibel die Trennung von der Neuen Künstlervereinigung sowie die emphatische Gründung des Blauen Reiter. Es wird auch deutlich, dass Marc, wie so viele seiner Zeitgenossen, den Krieg als Mittel der Reinigung, als Purgatorium begrüßte, verbunden mit der Zuversicht, dass nach dieser Reinigung Europa wie der Phönix aus der Asche geläutert wieder auferstehen würde.


    Sehr ausführlich stellt der Autor heraus, was Marc dazu bewegte, sich der Tiermalerei zuzuwenden. Marc liebte Tiere schon als Kind. Er ist fasziniert von dem von Grund auf natürlichen Lebensgefühl des Tieres, seinem Eins-Sein mit der umgebenden Natur und seiner harmonischen Einbindung in die Schöpfung. Den Menschen dagegen sieht Marc als von der Natur entfremdet an. Lindenhahn betrachtet dankenswerterweise auch die oft eigentümlichen Perspektiven, die Marc gelegentlich wählt und mit der er den Betrachter quasi ins Bild versetzt, damit dieser den Blickwinkel des Tieres einnimmt.

    Der Autor bemüht sich sichtlich, den kunsttheoretischen Überlegungen Lebendigkeit zu verleihen, z. B. durch innere Monologe oder Gespräche. Das gelingt ihm nur bedingt; die Gespräche wirken oft recht hölzern und dienen deutlich nur der Information des Lesers.


    Besonders schade ist es, dass das Buch keine farbigen Drucke zu den vorgestellten Bildern anbietet. Immerhin: das Cover zeigt das beeindruckende monumentale Bild Turm der blauen Pferde, das wohl am eindrücklichsten Marcs Kunst, vielleicht sogar die des Expressionismus, zeigt: vier Pferde in der Symbolfarbe des Geistigen, entmaterialisiert, kristallin, in Kathedralstruktur angeordnet und sich einem geistigen Bereich zuwendend.
    Das Bild befand sich – dies als Ergänzung – zuletzt im Besitz Hermann Görings und ist seitdem verschollen.


    Das Buch wird ergänzt durch eine ausführliche Bibliografie, Nachrufe, Zeittafeln und Quellennachweise.


    Fazit: ein interessanter, kenntnisreicher Einblick in die fruchtbarsten Jahre Franz Marcs.


    08/10 Pkt.



    ASIN/ISBN: 3492071988


    Klappentext:


    Verlieren Sie Ihr Herz an Ella und Ilsabé!


    Das Mädchen Ella Blau aus Bad Tölz träumt 1911 von eigenen Schuhen aus Leder, die ihr den Weg in ein unabhängiges Leben ermöglichen sollen. Jahrzehnte später liest die junge Londoner Übersetzerin Gwen die roten Hefte, die Ella bis 1938 mit ihren Erinnerungen gefüllt hat. Ellas Aufzeichnungen führen Gwen auf das legendäre Hotel Schloss Elmau, zu einem Gutshof bei Köslin und in das Berlin der 1920er-Jahre. Ellas Schicksalsfreundin Ilsabé, Gwens inzwischen 94-jährige und reichlich kapriziöse Großmutter, scheint ihr Wichtiges aus der Vergangenheit zu verschweigen. Geht es nur um verlorene Bilder oder doch um viel größere Verluste? Auf ihrer Reise in die aufwühlende Geschichte ihrer Familie versucht Gwen, das Geheimnis zu entschlüsseln.


    Eindrucksvoll und ergreifend gelesen von Elisabeth Günther.


    Mein Hör-Eindruck:


    Im Jahre 2004 wurde der Elisabeth-Sandmann-Verlag gegründet, der sich unter dem Motto „Schöne Bücher für kluge Frauen“ einer Literatur widmet, die u. a. starke Frauenpersönlichkeiten in den Mittelpunkt stellt. Schon ein Jahr nach der Gründung landete Elisabeth Sandmann einen Bestseller mit Stephan Bollmanns Buch „Frauen, die lesen, sind gefährlich“.


    Elisabeth Sandmanns erster Roman, ein opulenter und komplexer Familienroman, passt zum Motto ihres Verlages. Auch hier wird die Handlung ebenfalls von kraftvollen Frauen getragen.


    Gwen Farleigh, eine junge Engländerin, wird von ihrer Tante Lily zu einer Reise in den ehemals deutschen Osten überredet. Lily will ihre alte Heimat wiedersehen und das Gut in Pommern besuchen, auf dem sie und ihre Geschwister aufgewachsen sind. Gwen lässt sich überreden, und nun beginnt eine Reise in die Familienvergangenheit.


    Auf zwei Zeitebenen und in drei Generationen entrollen sich dramatische Konflikte, Geschichten um Freundschaft, Liebe und Liebesschmerz, um Verrat, Betrug und vor allem um Lügen und Geheimnisse. Diese familiären Dinge werden eingebettet in die Ereignisse der Zeitgeschichte, es geht also auch um die beiden Weltkriege, um Inflation, um Kunstraub, um Vertreibung, Judenverfolgung, Exil und die Nachkriegszeit. Trotz der vielen Rückblicke innerhalb der Zeitebenen gelingt es noch, den Überblick zu wahren.


    Verwirrender ist die Fülle an Personen, die den Überblick zunehmend schwieriger macht. Das Anfertigen eines Stammbaums erwies sich nur kurz als hilfreich, da auch Nachbarn, Freunde u. ä. in die Handlung mit einbezogen wurden. Wer war Anton – Phil – und wer nochmal Antje???


    Dazu kommt, dass die Figuren eher blass und konturlos erscheinen. Der Leser erfährt jede Menge Details über Speisefolgen und darüber, ob jetzt Sancerre oder Barolo getrunken wird. Auch das Wann, Wie und Wo des Tee-Trinkens wird ausführlich erzählt. Und vor allem erfährt der Leser jede Menge Details zu der Kleidung der Damen. Bei dieser Detailfülle kommt die Charakteristik der Figuren gelegentlich zu kurz und macht oberflächlichen Aussagen Platz. So wird z. B. Ella „eine natürliche Anmut“ attestiert, eine andere weibliche Figur (wer??) „sah in der ihr eigenen Art bezaubernd aus“, und Männer haben meist „sensible Hände“. Damit lädt die Autorin ihre Leser zwar zu einer problemlosen Identifikation mit ihren Figuren ein, aber diese Trivialität macht die Figuren auch austauschbar.


    Auch die Protagonistin Gwen verliert immer wieder den Überblick, aber praktischerweise findet sich dann wieder ein vergessener Koffer (2 x) und, ebenfalls zwei Mal, ein geheimes Versteck, eine Dokumentenmappe u. ä., so dass die Spurensuche wieder in Gang kommt. Die Geheimnisse, die ans Tageslicht gezerrt werden, sind teilweise durchaus dramatisch, aber zum großen Teil eher banal und verdienen das Wort „Familiengeheimnis“ nicht.


    Insgesamt hätte dem Roman eine Kürzung und die Fokussierung auf stringente Handlungsabläufe gutgetan. Wie so oft gilt: weniger ist mehr.


    Die Sprecherin Elisabeth Günther bemüht sich nach Kräften, den vielen Figuren ihre eigene Stimme zu geben. Das gelingt nicht immer, v. a. bei den älteren Männern senkt sie ihre Stimme zu einem phlegmatischen Dunkel herab, um dann bei einigen der Frauenfiguren schrill, fast schneidend zu werden. In den reinen Erzählpassagen kann man ihre geschulte und klare Stimme entspannt genießen.


    Fazit: eine verworrene Familiengeschichte, die mich eher enttäuscht zurückließ.


    Und wenn ich an das Verlagsmotto denke, darf ich mich jetzt entscheiden: Ist das kein "schönes Buch" oder bin ich keine "kluge Frau"?

    3/10 Pkt.

    Klappentext (gekürzt):


    DER VERWECHSLING ist ein sagenhaftes Märchen aus Bornholm. Das magische Bilderbuch erzählt die Geschichte von Vilmar, einem Jungen, der bei dem älteren Pärchen Per und Tove in einem kleinen, buckligen Häuschen am Ende des Murmelpfads auf einer Insel lebt. Doch Vilmar ist nicht wie die anderen. Das spürt er. Und trotzdem lebt er unter ihnen. Bis er eines Tages ein altes Buch in die Hand bekommt, in dem er eine Geschichte liest, die ihn nicht mehr in Ruhe lässt. Diese Geschichte ist spannender als jede, die Vilmar je gelesen hat. Vor allem aber, ist es auch seine eigene Geschichte. Die Geschichte eines Verwechslings ...


    Mein/Unser Lese-Eindruck:


    Der Verlag empfiehlt das Buch für Leser ab 6 Jahren, und also habe ich es K., unserem 7jährigen Enkelliebchen, vorgelesen und ihm auch die Beurteilung überlassen.


    K. hat gespannt zugehört, und besonders gut hat ihm die Szene gefallen, wie Vilmar sich im Schoß der Oma zusammenkuschelt und sich so richtig gut aufgehoben fühlt. Mit Vilmar konnte sich K. sogar identifizieren, weil Vilmar dasselbe Hobby wie er hat: die beiden schnitzen gerne. Die Tatsache, dass Vilmar nicht mehr wächst und nicht spricht, fand er allerdings unheimlich und stellte sofort Vermutungen über den Grund an.


    Aber: „Oma, was ist ein Verwechsling?“ Hm... Er hat es sich so zurechtgelegt, dass die Menschen das Kind verwechseln mit einem echten Menschenkind, und dass manche wachsen und sprechen so wie Hendrik, und andere eben nicht, so wie Vilmar. „Und was sind Unterirdische?“ „Kommt Vilmar aus dem Meer? Geht er wieder ins Meer?“ Die Geschichte lässt also Raum für die eigene Phantasie.


    Die Sprache ist grundsätzlich altersangemessen, auch wenn der Begriff „Vegetationsgrenze“ erläutert werden muss. Sehr schön wird mit Worten und Wortspielereien eine märchenhafte Atmosphäre geschaffen. Der Märchenton wird nicht konsequent durchgezogen (z. B. der Ausdruck „altersgerecht“), was aber nur kurzfristig stört.


    Die Märchenhaftigkeit wird unterstützt durch die wunderschönen Bilder von Emilia Dziubak, die wegen ihrer klaren Konturen und ihrer Farbgebung von Enkel und Oma sehr geschätzt wurden. Der nach Art der Mangas übergroße Kopf des kleinen Verwechslings störte den kindlichen Leser nicht.


    Wir waren uns einig: ein wunderschönes Winterbuch.


    08/10 Pkt.


    ASIN/ISBN: 3845853883