Beiträge von dracoma

    ASIN/ISBN: 3550202253



     

    Klappentext (amazon):


    Hinter einem Marienaltar im Feld bei Schwalbach wird die Leiche eines jungen Mädchens gefunden. Der Körper ist mit einer Eisschicht überzogen, nachts hatten Temperaturen um die -10° C geherrscht. Die 16-jährige Larissa Jansen wurde erdrosselt. Pia Sander und Oliver von Bodenstein nehmen die Ermittlungen auf.

    Durch eine DNA-Analyse gerät Farwad M. unter Mordverdacht, ein abgelehnter afghanischer Asylbewerber, der erst kürzlich zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Doch er konnte untertauchen, als er nach einer Haftbeschwerde aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Die Öffentlichkeit ist empört. Unbekannte werfen Molotow-Cocktails auf Flüchtlingswohnheime, die Bewohner sind in Todesangst.

    Dann wird auf einer Landstraße im Hintertaunus ein Mann von einem Auto erfasst und getötet. Sein Körper ist übersät mit Bisswunden, sein Gesicht ist entstellt. Aufgrund von Fingerabdrücken kann der Mann identifiziert werden; er hatte fahrlässig eine schwangere Frau getötet und wurde gerade erst aus der Haft entlassen. Wovor ist er geflohen und wer hat ihn so zugerichtet?

    Pia und Bodenstein stoßen auf immer mehr rätselhafte Todes- und Vermisstenfälle. Doch jede Spur führt in eine Sackgasse...


    Mein Hör-Eindruck:


    Der Krimi beginnt ganz klassisch mit einem Mordfall: eine 16jährige wird erdrosselt aufgefunden. Ein afghanischer Asylbewerber gerät unter Verdacht, er wird entführt – und nun weitet sich der Fall aus. Die Autorin hat sich offensichtlich inspirieren lassen von tatsächlichen Ereignissen der jüngeren Vergangenheit, z. B. der Mordserie der NSU.


    Bei der Ausweitung des ursprünglichen Mordfalles zündet sie ein Feuerwerk an Themen, die überwiegend hochaktuell sind: Migrationsprobleme und Flüchtlingspolitik, Übergriffe auf Asylunterkünfte, Missbrauch, Überlastung der Gerichte, Geiselnahme, Lynchjustiz, Missbrauch, Zwangsverheiratungen in türkischen Familien, Rassismus, Korruption in Polizeikreisen und im BND etc.

    Diesen brisanten Themen mengt sie allgemein menschliche Themen bei und verknüpft alles souverän zu einem dichten Krimi-Gewebe. Eine weitere Ergänzung besteht in den Liebesfreuden und -leiden der beiden Hauptermittler, die die Leser der Serie sicher erwarten.


    Nele Neuhaus ist eine Erzählerin, die ihre Leser routiniert durch die Wirren der Erzählung führt. Ständige Wiederholungen und Zusammenfassungen sollen vermutlich das Verständnis des Lesers sichern; mir waren sie allmählich lästig, trotz der gekürzten Hörbuchfassung. Der ursprüngliche Mordfall gerät bei der Fülle an Verwicklungen und Mordfällen ab und an ins Hintertreffen. Durch die enorme und überaus spektakuläre Ausweitung des Falls treten viele Personen auf, die oft nur oberflächlich skizziert werden können.


    Sehr schade fand ich, dass Nele Neuhaus die brisant aktuellen Themen immer wieder ins Unverbindliche manövriert. So wird z. B. die Klage eines Richters über die Probleme bei Jugendstrafverfahren nicht als Problem des Systems vermittelt, sondern als rein persönliches Problem dieses Richters. Hier hätte ich mir etwas mehr Biss bzw. Haltung gewünscht, aber Nele Neuhaus mutet ihren Lesern keine Irritationen zu.


    Ein Vorzug: der Krimi ist auch für Nicht-Leser der Reihe problemlos zu lesen.

    Und das Vorlesen Julia Nachtmann lässt einen über manche Unebenheiten hinwegsehen.


    Daher 07/10 Pkt.

    ASIN/ISBN: B09HGVHXYQ


    Das einzige Buch des Pulitzer-Preisträgers, das ins Deutsche übersetzt wurde; schon ein älteres Buch.


    Der Roman spielt in Irland zur Zeit der furchtbaren Hungersnot Mitte des vorletzten Jahrhunderts, drei Missernsten hintereinander durch die Kartoffelfäule, die die kleinen Pachtbauern der englischen Grundbesitzer buchstäblich aushungerte.

    Wie Lynch das beschreibt, das geht unter die Haut.

    ASIN/ISBN: 3471360514


    Klappentext:


    Ein Jahr ohne Mord haben sich Elizabeth, Joyce, Ron und Ibrahim zu Weihnachten gewünscht, doch nur wenig später ist der fromme Wunsch dahin. Der Antiquitätenhändler Kuldesh Shamar wurde getötet. Wie es scheint, war er in ein Drogengeschäft verstrickt. Aber von dem wertvollen Paket, das er aufbewahren sollte, fehlt jede Spur. Was eine teuflische Brut von Dealern, Betrügern und anderen Ganoven aus ihren Höhlen lockt. Und mittendrin: der Donnerstagsmordclub, entschlossener denn je, den Mörder zu stellen. Woraus sich für die Verdächtigen die Frage ergibt, ob nicht die Hölle doch der angenehmere Ort ist …


    Mein Hör-Eindruck:


    Die Seniorenresidenz „Coopers Chase“ im ländlichen Kent: ein idyllischer Schauplatz für ganz und gar nicht idyllische Handlungen!

    Richard Osman legt hier den 4. Band seiner Reihe „Donnerstagsmordclub“ vor, und auch wenn man wie ich die vorhergehenden Bände nicht gelesen/gehört hat, hat man keinerlei Verständnisschwierigkeiten.


    Vier recht robuste, teilweise recht skurrile Senioren vertreiben sich ihre Zeit mit Mördersuche und bilden ein sehr originelles Ermittlerteam, das mit der örtlichen Polizei mehr oder weniger vertrauensvoll zusammenarbeitet. In dieser Folge wollen sie dafür sorgen, dass der Mörder eines befreundeten Antiquitätenhändlers gefunden wird. Dabei geraten sie in einen Strudel von Kunstfälschungen, Heroinschmuggel, Drogendeal, Antiquitätenschmuggel, polizeilichen Zuständigkeitskollisionen, und – last, but not least – auch Heiratsschwindel. Dieser Strudel bringt es mit sich, dass recht viele, zu viele Leichen den Gang der Handlung pflastern, was aber der guten Stimmung der vier Senioren keinen Abbruch tut.


    Der Roman lebt von dem sprichwörtlichen unterkühlten britischen Humor. Er rutscht aber niemals ins Banale oder Flapsige ab. Dafür sorgt der Autor, wenn er seine Ermittler auch die schweren Seiten des Altwerdens erleben lässt. Die zunehmende Demenz ihres Ehemannes bürdet Elizabeth, einer der Vier, eine schwere Verantwortung auf, die sie schließlich nur mit Hilfe ihrer Freunde tragen kann. Und auch die anderen leiden unter der Einsamkeit nach dem Tod ihrer Partner, dem sie sich immer noch verbunden fühlen. Diese tiefe Verbundenheit hat nichts Kitschiges an sich; sie stellt einen behutsamen Kontrapunkt zu den Liebesirrungen und -wirrungen der jüngeren Handlungsträger dar. So wie der Autor seinen Humor niemals ins Flapsige abrutschen lässt, genauso wahrt er hier den Spagat zwischen Ernst und Heiterkeit.


    Das Hörbuch lebt von seinen beiden Sprechern, und hier vor allem von Johannes Steeck. Die Wandlungsfähigkeit seiner Stimme ist einfach nur phänomenal. Jede Person hat ihre Stimme, ohne dass sich die Sprecher-Stimme verzerrt oder peinlich unnatürlich wird. Ein Vergnügen!


    09/10 Pkt.

    ASIN/ISBN: 385791386X

    Zum Autor (Quelle: Verlag):


    Plinio Martini (1923–1979) wurde in Cavergno als Sohn eines Bäckers in ärmliche Verhältnisse geboren. Er wuchs mit sieben Brüdern im Dorf und im Val Bavona auf. 1942 schloss er das Lehrerseminar in Locarno ab und unterrichtete zeitlebens im Maggiatal, erst in Cavergno und später in Cevio.

    Anfang der 1950er-Jahre erschienen im «Giornale del popolo» erste Erzählungen sowie die Gedichtbände «Paese così» und «Diario forse d’amore». 1970 folgte sein erster Roman «Il fondo del sacco», der vier Jahre später in deutscher Übersetzung unter dem Titel «Nicht Anfang und nicht Ende» erschien. Der Roman erzählt von einem Tessin jenseits der verbreiteten Tessinklischees und gehört längst zu den Klassikern der Tessiner Literatur. Martini starb 1979 im Alter von nur 56 Jahren.


    Klappentext:


    Tante Domenica ist gestorben. Die bigotte alte Jungfer hatte mit dem Pfarrer zusammen über die Moral im Dorf gewacht. An ihrem Totenbett sitzt der angereiste Neffe. Jugenderinnerungen steigen hoch, und im Leichenzug begegnet er Giovanna, seiner ersten Liebe wieder. Aus den Erinnerungen zwischen Zorn und Zärtlichkeit ersteht ein eindrückliches, realistisches Bild des alten Val Bavona, entwickelt sich die Geschichte einer glücklich-unglücklichen Kindheit und Jugend im engen Tal, geprägt von Katholizismus und Tradition. Dann erhält Tante Domenica eine feierliche Totenmesse, wird zu Grab getragen, ein jeder wirft eine Handvoll Erde ins Grab und geht seiner Wege. Libera me, Domine!



    Mein Lese-Eindruck:


    Das untere Maggiatal ist heute touristisch relativ gut erschlossen und fasziniert durch seine dramatischen Landschaften. Je weiter man aber hochwandert Richtung Fusio oder auch wenn man abbiegt ins Seitental der Bavona, umso ursprünglicher, rauer und zivilisationsferner präsentiert sich die Landschaft. Enge, schroffe Täler, kleine zusammengeduckte Siedlungen, enge Häuser aus Granitsteinen, mit Granitplatten gedeckt, unendlich lange und steile Treppen zu den kärglichen Alpwiesen – all das wirkt heute pittoresk, aber es lässt den Wanderer erahnen, wie hart und entbehrungsreich das Leben in diesen Tälern gewesen sein muss.


    Plinio Martini ist in diesem Teil des Tessins aufgewachsen und dort sein Leben lang geblieben. In seinem Roman stellt er uns die Menschen dieses Tals vor, ihre Arbeit, ihr tägliches Leben und einige der Geschichten, die er vermutlich dort gesammelt hat.


    Ein junger Mann, Marco, kehrt zur Beerdigung seiner überfrommen Tante Domenica ins Dorf zurück. Er hat sich Arbeit gesucht in der Schweizer Industrie und ist damit einer die vielen Abwanderer, die aufgrund der wirtschaftlich mehr als prekären Situation das Bavona-Tal verlassen haben. Dennoch wird deutlich, wie sehr er sich seiner Heimat verbunden fühlt, auch wenn seine jungen Jahre aus täglicher harter Arbeit, aus großer Armut, Hunger und Entbehrungen bestanden. Dabei lässt es sich der Autor mit einem augenzwinkernden Sarkasmus nicht nehmen, auch den Machtdünkel der katholischen Kirche ins Visier zu nehmen.


    Nun aber beobachtet Marco kampierende Urlauber am Fluss, die sich fremden Tätigkeiten wie Ballspielen hingeben, die jungen Leute wandern aus oder ab ins Unterland wie er, ein Wasserkraftwerk wird gebaut, Spekulanten kaufen den Boden für billiges Geld auf – kurz: die Moderne zieht in diese verlassene Gegend und ändert das Leben ihrer Bewohner von Grund auf.

    Martini beurteilt den Einbruch der Moderne offensichtlich als Niedergang und setzt nicht nur Zia Domenica, sondern der untergehenden bäuerlichen Kultur seiner Heimat mit diesem Roman ein Denkmal.


    Eine schöne Idee des Limmat-Verlages, zum 100. Geburtstag des Autors diesen Roman wieder aufzulegen!

    Eine spritzig-ernste Lektüre für jeden Tessin-Reisenden, weit entfernt von jeder folkloristischen Idylle!


    08/10 Pkt.



    Klappentext:


    Norrland um 1900: Unni, Armod und der kleine Roar mussten überhastet aus Norwegen fliehen. Inmitten der blauen Berge und dunkelgrünen Wälder Hälsinglands finden sie ein neues Zuhause. Doch die brutalen Launen der Natur und des Landbesitzers lassen die kleine Familie kaum Frieden finden. Mehr als 70 Jahre später plant Kåra die Beerdigung ihres Schwiegervaters Roar. Was ist damals wirklich passiert? Und welche Geheimnisse verbinden Kåra und Unni über die Jahrzehnte hinweg?


    Mein Lese-Eindruck:


    Der Roman beginnt mit einer düsteren Szene, die programmatisch ist für den ganzen Roman: eine Beerdigung wird vorbereitet. Roar, Ehemann, Schwiegervater und Großvater, ist tödlich verunglückt und soll beerdigt werden. Dieser Roar ist Dreh- und Angelpunkt des Romans. Zwei Frauenstimmen aus zwei Generationen kommen zu Wort, und in beiden Erzählungen spielt Roar eine zentrale Rolle.


    Die erste Stimme ist die Stimme Unnis, der Mutter Roars. Unni flüchtet mit dem unehelichen kleinen Roar und ihrem Geliebten in die Einsamkeit Norlands. In einer verlassenen Kate kämpfen sie in einer unwirtlichen und rauen Natur um ihr Überleben. Hungerwinter, Bärenangriffe, Dürreperioden, Ernteausfälle, Unfälle, die Abhängigkeit vom Pachtbauern, Elend und Gewalt – die Autorin schildert eindringlich das harte und entbehrungsreiche Leben der jungen Familie.


    Die zweite Stimme gehört Roars Schwiegertochter Kara. Ihre Heirat mit Roars Sohn schützt sie vor der Verbringung in eine sog. Irrenanstalt, insofern kann man auch sie, so wie Unni, als Flüchtling bezeichnen. Kara ist psychisch auffällig und wird von Ängsten, Depressionen und Aggressionen gequält. Ihre Schwiegermutter Bricken, Roars Ehefrau, stellt das Bindeglied dar.


    Stück für Stück werden die beiden Erzählstimmen zusammengeführt, und die grausamen Geheimnisse der Familiengeschichte öffnen sich dem Leser. Dieser Plot bietet eine Fülle von Gestaltungsmöglichkeiten.


    Die Ausgestaltung ist aber derart überfrachtet mit Grausamkeiten aller möglichen Art, dass die Handlungslogik darunter leidet. Ein vierjähriges, zudem ausgehungertes Kind soll in der Lage sein, einen ausgewachsenen Dachs abzubalgen und anschließend einzusalzen? Unni hatte bei ihrer überstürzten Flucht tatsächlich Bettwäsche und Stickgarn dabei, um Monogramme zu sticken? Gelegentlich rutscht dadurch eine Szene bei aller Grausamkeit ins Komische ab, wenn z. B. der Vergewaltiger „die Hose wie ein Fallstrick um seine Knöchel“ einem Kind nachsetzt und es trotz des Fallstricks erwischt und schwer misshandelt. „Gebrochener Arm, zertrümmerte Wangenknochen“: diese schweren Verletzungen halten das Kind jedoch nicht davon ab, den Rest der Nacht schwere körperliche Arbeit zu verrichten.


    Auch die vielen Wiederholungen und die äußerst bildstarke Sprache können die logischen Schwächen der Handlung nicht verdecken, sondern bringen den Text immer wieder sehr nahe an die Herz-Schmerz-Literatur heran („Mit meinen Fingern sang ich ‚ich liebe dich..‘ .“).


    Sehr gekonnt fand ich allerdings die Lebens- und Naturbeschreibungen und das Symbol der Krähe, das die Erzählstränge zusammenbindet und dem Roman seinen Namen gibt: für Unni ist die Krähe eine Vertraute, für Kara hingegen eine Botin ihrer Ängste.


    Wer Romane mit Beschreibungen der nordischen Natur liebt und gerne Familiengeheimnissen auf der Spur ist und dabei logische Brüche in der Handlung nicht so wichtig findet, hat sicher Lesefreude an diesem Roman.


    05/10 Pkt.


    ASIN/ISBN: 3257072619


    ASIN/ISBN:

    ASIN/ISBN: 3498003763



    Klappentext:


    «Hat sie Muscheln am Strand gesammelt, den schreienden Möwen nachgeschaut und im Sand gelegen?» In der Titelgeschichte von Natascha Wodins neuem Buch zieht die Erzählerin eine Spur von Mariupol am Asowschen Meer, an dem ihre Mutter aufwuchs, bis hin zur Regnitz in Franken, dem Fluss, in dem diese sich das Leben nahm. In einer anderen Geschichte beobachtet sie ihre Nachbarin, die in ihrem baufälligen Haus buchstäblich verfault, und andernorts, auf Sri Lanka, begegnet sie extremem sozialen Elend und einer bedrohlichen, alles verschlingenden Natur. Zurück in Deutschland, geht es um das Schicksal eines Unbekannten, der als psychisch kranker Patient entmündigt in einer Klinik im Fichtelgebirge lebt. Dorthin, «in die dunkelsten deutschen Wälder», schickt die Erzählerin ihm eine Nachricht, und es entwickelt sich eine Brieffreundschaft, dann eine Liebe, deren Anker die verbindende, rettende Kraft der Musik ist.


    Nach den großen Romanerfolgen «Sie kam aus Mariupol» und «Nastjas Tränen» - Natascha Wodin erzählt in fünf Geschichten meisterhaft und mit großer Dringlichkeit vom Gefühl des Fremdseins im eigenen Leben und schenkt ihren Figuren eine Heimat in der Literatur.


    Mein Hör-Eindruck:


    Natascha Wodin legt hier fünf Erzählungen vor, die für diese Ausgabe eigens überarbeitet wurden. Alle Erzählungen haben Gemeinsames. Immer ist es eine ältere Ich-Erzählerin, die erzählt und die ohne Zweifel das Alter Ego der Autorin ist. Denn immer sind es autobiografisch gefärbte Geschichten, die mit ihrer chronologischen Anordnung Wodins Biografie folgen. Und immer thematisieren die Erzählungen ein schwer traumatisiertes Leben, es geht um gesellschaftliche Außenseiter und um das Gefühl der Fremdheit und Abgespaltenheit.


    Die Titelgeschichte „Der Fluss und das Meer“ greift auf Wodins Erfolgsroman „Sie kam aus Mariupol“ zurück und reflektiert das Schicksal ihrer Mutter. Dabei verbindet die Autorin das Asowsche Meer, die ursprüngliche Heimat ihrer Mutter, mit dem Fluss Regnitz, in dessen Nähe die Mutter wohnte und in dem sie sich auch das Leben nahm. Wodins Mutter ist in den Diktaturen ihrer Zeit aufgerieben worden: Stalins Terror, der Holodomor in den 30er Jahren und schließlich die Verschleppung als Zwangsarbeiterin nach Deutschland. Würde ihre Mutter das heutige zerbombte Mariupol wieder sehen, „wäre das wie ein dritter Mordversuch an meiner Mutter“. Die Autorin tröstet sich mit der Vorstellung, dass die Wasser der Regnitz irgendwann, über einige Umwege, in das Schwarze und dann das Asowsche Meer fließen, um ihrer Mutter Heimat zu bieten.


    Eine solche Heimat sucht die Ich-Erzählerin in allen Geschichten. In einer Geschichte besteht die Suche nach einer Heimat aus der Hoffnung auf eine enge Bindung an einen ehemaligen Jugendfreund, der Patient in einer psychiatrischen Anstalt ist. Beide lieben Musik, und der Freund verfügt – sagt er - über die erstaunliche Fähigkeit, jedes, aber auch jedes Musikstück in seinem Kopf ablaufen zu lassen. Bei dieser Erzählung überlegt man als Leser zum ersten Mal (und leider nicht zum letzten Mal), inwieweit Wodin hier mit den Möglichkeiten eines unzuverlässigen Erzählers spielt. Ein Krankensaal mit 30 Betten? Ein psychiatrisches Krankenhaus ohne therapeutisches Konzept? Angelegt auf Unterordnung? Patienten als billige Arbeitskräfte? Psychiater als unmenschliche Automaten? Der Versuch einer Bindung misslingt, und zwar beiderseits.


    Alle Erzählungen sind für die Autorin eine Art „Exorzismus“, mit dem sie ihre inneren Dämonen versucht in Schach zu halten. Ihr Schreiben ist aber nicht nur Therapie, sondern auch ihre einzig mögliche Brücke zur Außenwelt. In der letzten Erzählung schildert sie quälend eindringlich ihre Ängste und ihre krisenhaften Zustände, die ihr das Weiterleben erschweren. Wodin schont sich dabei nicht, und sie schont auch nicht ihre Leser. Sie legt ihre Wunden bloß: nach wie vor sei sie verachtet “als slawischer Untermensch“, sie gehöre nicht dazu, weil sie über andere Erfahrungen verfüge, sie beschreibt ihre Entwurzelung, ihre Heimatlosigkeit, ihre traumatische Kindheit mit dem gewalttätigen Vater und dem Suizid der Mutter, ihr Anders-Sein und immer wieder ihr Fremdsein und ihre Heimatlosigkeit. Die melancholisch-elegische Stimme von Martina Gedeck passt hervorragend zum Erzählton.

    Wodin klagt an. Sie klagt Deutschland an, das die Augen verschlossen habe vor dem Schicksal der Zwangsarbeiterkinder. Sie klagt aber auch ihre Eltern an, die ihr Schicksal und ihre Opferrolle vor ihren Kindern aus Scham verschwiegen hätten. Das Ergebnis dieser generationenübergreifenden Traumatisierung seien massive psychische Probleme, die häufig in psychiatrischen Krankenhäusern bzw. in Gefängnissen ende.


    Auch wenn einige der Behauptungen bzw. Erzählelemente Widerspruch hervorrufen und/oder sich nicht mit eigenen Wahrnehmungen decken: Wodin gibt einer Gruppe unserer Mitbürger eine Stimme, und diese Stimme verdient es gehört zu werden.


    5/10 Pkt.

    ASIN/ISBN: B0C2ZHBJS1


    Ein trauriges Buch, aber sprachlich so schön geschrieben, dass man mit dem Lesen gar nicht aufhören möchte...

    Die Autorin hat 1935 mit nur 24 Jahren den Pulitzerpreis für diesen Roman bekommen, und obwohl der Roman schon so alt ist, hat er mich unvermittelt angesprochen. Eine Familie wird gebeutelt durch die große Depression und kämpft auf einer abgewirtschafteten Farm täglich aufs Neue ums Überleben.

    Das erzählt die Autorin bildstark und ohne jede Larmoyanz.

    Mich hat es sehr beeindruckt, wie sie beschreibt, was die wirtschaftliche Lage mit einer Familie und mit einem Menschen macht.


    Die Rezension habe ich gerade eingestellt.

    Zur Autorin:


    Josephine W. Johnson (1910–1990) erhielt für ihren Debütroman »Die November-Schwestern« mit 24 Jahren den Pulitzer-Preis und war die bis dahin jüngste Preisträgerin der prestigereichen Auszeichnung. Sie studierte an der Washington University und schrieb insgesamt elf Bücher, darunter den Bestseller „The Inland Island“ (1969). Aus heutiger Sicht kann sie als Feministin und Umweltschützerin gelten, die geprägt war durch eine Welt der Ungleichheit und Ausbeutung, auf die sie uns mit ihren Werken aufmerksam macht.


    Klappentext:


    Die Anstellung eines jungen Mannes auf der elterlichen Farm bringt das Leben der drei Haldmarne-Schwestern durcheinander, das im fragilen Gleichgewicht der Jahreszeiten verläuft. Als dann der Regen ausbleibt und damit die Ernte im Herbst, wird der November zu einem Ende und zugleich zu einem Anfang. Nicht nur Margets Blick auf die älteste Schwester Kerrin verändert sich grundlegend, nachhaltig verändert ist ihr Blick auf das eigene Leben und die Chancen, die es zu ergreifen gilt.

    Mit gerade einmal 24 Jahren erhielt Josephine Johnson für ihren Debütroman »Die November-Schwestern« den Pulitzer-Preis. Aktuell wird sie international neu entdeckt – dank ihres einzigartigen Sounds und der Themen, mit denen sie ihrer Zeit weit voraus war.


    Mein Lese-Eindruck:


    Josephine Johnson versetzt uns in ihre Zeit und in ihr Land: in das Amerika der 30er Jahre, das durch die Große Depression gebeutelt wird. Ihr erster Satz „Jetzt im November sehe ich unsere Jahre im Ganzen. “ zeigt nicht nur das Erzählen aus dem Rückblick, sondern vor allem schon die elegische Grundstimmung, die über dem ganzen Roman liegt.


    Im Mittelpunkt steht die Familie Haldmarne: Vater, Mutter, drei Töchter, wobei die mittlere die Ich-Erzählerin ist. Der Vater hat seine Arbeitsstelle und sein Geld verloren und versucht nun, als mittelloser Farmer auf einer vernachlässigten Farm über die Runden zu kommen. Er ist glücklos und oft verzweifelt und dem ständigen Kampf gegen die Tücken des Wetters kaum gewachsen. Die Angst vor dem drohenden Bankrott, die Abhängigkeit von den Marktbedingungen und die Aussichtslosigkeit seiner Lage machen ihn zu einem launischen und mürrischen Menschen.


    Darunter leidet vor allem die ältere Tochter Kerrin. Im Unterschied zu ihren Schwestern entzieht sie sich immer wieder der harten Arbeit auf der Farm und auch dem familiären Miteinander. Sie macht ihren glücklosen Vater für die Situation der Familie und vor allem für den Verlust ihrer Zukunftsträume verantwortlich, aber sie findet keine Möglichkeit, ihre Situation zu ändern. Die Anstellung eines Knechts wirkt in dieser gespannten Situation wie ein Katalysator, der unterdrückte Aggressionen freisetzt.


    Der Blick der jungen Autorin auf ihre Zeit und die aktuellen Lebensbedingungen ist erstaunlich scharf, trotz ihrer Jugend. Sie schlägt deutliche sozialkritische Töne an, wenn sie zeigt, wie die wirtschaftlichen Bedingungen die Entfaltungsmöglichkeiten eines jungen Menschen verhindern und was der ständige Kampf ums Überleben mit dem inneren Gefüge einer Familie macht.

    Dazu kommt, dass die Familie Haldmarne kein Einzelfall ist. Auch ihre Nachbarn befinden sich in einer ähnlichen Situation.

    Die Lage verschärft sich durch Steuerforderungen, für deren Begleichung die Familie den halben Rinderbestand verkaufen muss und damit weiter in eine Armut rutscht, aus der sie sich kaum mehr selber befreien kann. Die Nachbarn versuchen sich gegenseitig zu helfen, aber ihre Mittel sind beschränkt und wirken nur kurzfristig. Eine grundlegende Hilfe ist nicht in Sicht, im Gegenteil: der Kapitalismus blüht, indem die Landbesitzer immer reicher werden und ihre Pächter ums Überleben kämpfen müssen. Mit eindringlichen Bildern vermittelt Johnson ihrem Leser einerseits die Schönheit der Natur, aber andererseits vor allem die Not der Zeit, die Ausweglosigkeit der Lage, das entbehrungsreiche Leben und den Fatalismus ihrer Zeitgenossen.


    Passend zum bäuerlichen Leben organisiert Johnson ihren Roman wie den Kreislauf eines Bauernjahres: ein schöner Kunstgriff!


    Im Unterschied zu ihren eher wortkargen Figuren kann sie erzählen und Emotionen vermitteln, sie kann wortgewaltig dramatische Naturereignisse wie Dürre, Sturm und Feuer beschreiben, und so spricht der Roman über die fast hundert Jahre hinweg seine Leser eindringlich und unvermittelt an.


    Fazit: ein lesenswerter Roman, traurig und aufrüttelnd, aber schön.

    10/10 Pkt.


    ASIN/ISBN: 9783404161218

    Klappentext:


    Am 8. Juni 1924 nimmt der britische Abenteurer und Bergsteiger George Mallory zum dritten Mal Anlauf, als erster Mensch den höchsten Berg der Welt zu besteigen. Er kehrte nie zurück, seine Leiche blieb verschwunden. Was ist passiert? Hat er den Gipfel tatsächlich erreicht? Ist er abgestürzt, und wenn ja, wo?

    Der deutsche Alpinhistoriker und Geologe Jochen Hemmleb beschäftigt sich seit seiner Kindheit mit der Geschichte Mallorys und organisierte eine Suche nach den Spuren der Bergbesteigung. Tatsächlich gelingt es Hemmleb, die Leiche des Bergsteigers zu orten. Hemmleb erzählt von der aufregenden Spurensuche in den Höhen des Mount Everest.

    Mein Hör-Eindruck:


    Ein faszinierendes Unternehmen: die Erstbesteigung des höchsten Berges der Welt! Die britischen Bergsteiger Mallory und Irvine versuchen es mehrfach, und bei der 3. Expedition versuchen sie im Alleingang bei ungünstigem Wetter endlich den Gipfel zu bezwingen. Sie werden zuletzt gesehen, wie sie in einer Nebelwolke verschwinden. Ihre Leichen werden nicht gefunden, und nach wie vor ist es unklar, ob sie tatsächlich den Gipfel erreicht haben.


    Das ist ein Thema, das nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene interessiert. Das Hörspiel konzentriert sich auf die Suche nach Mallorys und Irvines Leiche, und eines der großen Bergsteigerrätsel ist gelöst, als 1999 Mallorys Leiche gefunden wird.


    Das Hörspiel ist kindgerecht aufbereitet und sorgt mit mehreren Sprechern für eine kurzweilige und ausgesprochen spannende Präsentation. Ein besonderer Clou ist es, dass Hemmleb, der in jahrelanger akribischer Recherchearbeit Mallorys Verbleib errechnete, als Sprecher mitwirkt.


    Das dazugehörige Booklet bietet übersichtliche Karten, Fotos und jede Menge Zusatzinformationen.


    Für mich gibt es nur einen Kritikpunkt: die ständige Musik-Berieselung. Muss das sein?


    Trotz dieser Einschränkung: ein spannendes, faktenreiches Hörspiel mit einem hervorragend aufbereiteten Booklet.


    9/10 P.


    ASIN/ISBN: 978393488497

    Wo bitte kann ich Deine Rezension sehen?

    Du hast sie gefunden, sehe ich!

    Das Buch gefällt nicht jedem, und es ist auch nicht so einfach zu lesen, weil Zadie Smith die ganze Geschichte zerhackstückt und zwischen Personen, Zeiten und Schauplätzen hin- und herspringt. Aber gerade dadurch wurde mir klar, dass das kein historischer Roman ist, sondern sie auf unsere Gegenwart zeigt.

    Trotz Verhackstückung: spannend zu lesen, auch witzig! Wunderbar, wie sie Fake News und Trumpisierung zeigt. Muss man erst mal können!

    Viel Spaß beim Lesen!

    Zadie Smith - Betrug

    Das Buch ist eine Lesewucht, es könnte Dir gefallen.

    Es ist allerdings kein historischer Roman, auch wenn das auf dem Umschlag draufsteht. Die historischen Ereignisse sind nur der Anlass. Und das ist es, was mich an dem Roman so fasziniert hat: wie Zadie Smith die Geschichte in die Gegenwart hineinhebt, wie sie Vergangenes verlebendigt und damit die faulen Stellen der jetzigen Gesellschaft aufzeigt. Ohne rabiat oder aufdringlich zu werden.

    Ich habe mir gerade einen Lese-Eindruck abgerungen.


    ASIN/ISBN: 3462005448


    Klappentext:


    Ein Hochstapler wird im viktorianischen London zum Medienstar – und zur Galionsfigur für die Unterprivilegierten. In ihrem ersten historischen Roman erzählt Zadie Smith von einem der bekanntesten Gerichtsfälle Englands, der Arm und Reich gegeneinander aufbrachte.


    Mein Lese-Eindruck:


    „Lethe heißt der Strom des Vergessens – und genau das ist der gefährlichste Strom“, sagte Florian Illies in seiner Preisrede zur Verleihung des Ehrenpreises des Bayerischen Ministerpräsidenten. Es sei für jede Generation wichtig, in die „Stromschnellen der Geschichte“ einzutauchen, auch wenn sie unübersichtlich sind, denn jede Gegenwart sei zugleich „eine Ruine der Zukunft“. Er mahnte die Erinnerung an, weil alle Zeiten miteinander verwoben sind und warnte vor der Geschichtsvergessenheit. Wie Recht er hat!


    Und genau das, das Eintauchen in die Stromschnellen der Geschichte und das Verweben der Zeiten, genau das gelingt Zadie Smith in diesem Roman auf eine unglaublich leichte und unterhaltsame Art und Weise. Sie holt Vergangenes nach oben, sie belebt die Geschichte und legt damit den Finger auf die fauligen Stellen der Gegenwart.


    Ein historischer Roman? Das ist dieser Roman nur vordergründig. Es geht um einen historischen Prozess, der 1866 im viktorianischen Zeitalter Englands spielt: ja, das schon. Aber dieser Prozess ist eigentlich nur das Kaleidoskop, durch das die Autorin gesellschaftliche Entwicklungen und Bewegungen heranzoomt, die bis heute wirksam und nicht abgeschlossen sind.


    Das Cover und auch der Titel geben schon Hinweise. Zwei Männer stehen zwischen silbernen Löffeln. Der eine – Tichborne - wurde schon mit dem sprichwörtlichen silbernen Löffel im Mund geboren, und der andere eben nicht. Und dieser andere ist es, der seinen Teil vom Kuchen einfordert und dabei auch zum Mittel des Betruges greift. Tichborne, Sohn aus altem englischen Adel, war vor Jahren wegen einer inakzeptablen Liebesgeschichte mit seiner Kusine zum Kolonialbesitz der Familie nach Jamaika geschickt worden. Er war nie angekommen; vermutlich war er bei einem Schiffsunglück umgekommen.

    Der Mann, der nun behauptet, Tichborne zu sein und sein Erbe einfordert, hat keinerlei Ähnlichkeit mit dem gebildeten jungen Engländer, aber er hat einen Zeugen, der seine Identität bestätigt. Dieser Zeuge Andrew Bogle wird zu einer der Hauptfiguren des Romans: ein freigelassener Sklave aus den Zuckerrohrplantagen Jamaikas, der die Schrecklichkeiten der Rechtlosigkeit kennt, aber immer ruhig und beeindruckend würdevoll auftritt.

    Wieso lügt Bogle? Der Prozess fand enormen Widerhall in den unteren Klassen. Wieso engagieren sich die unteren Schichten so leidenschaftlich für einen offensichtlichen Betrüger?


    Dieser Frage geht Zadie Smith mit einem bunten Figurenreigen nach, aus denen zwei herausstechen. Einmal ist das die reale Figur des Schriftstellers William Ainsworth, der nach großen Anfangserfolgen in trivialen historischen Romanen versinkt – genau das, was die Autorin eben nicht will. Neben ihm steht seine Kusine Eliza, eine freiheitsliebende Schottin, die bei aller Aufgeschlossenheit immer im Denken ihrer Klasse gefangen bleibt und aus deren Sicht wir die Komödie des Prozesses erleben.


    Es geht hauptsächlich um die Frage der Gerechtigkeit, daher auch das Thema eines Gerichtsverfahrens. Diese Frage wird verknüpft mit dem Problem der persönlichen Unfreiheit, und auch dieses Thema wird mehrfach aufgefächert in Abolitionismus, in weibliche Selbstbestimmung u. a. Einen zweiten wichtigen Verknüpfungspunkt sehe ich in dem, was wir heute Pauperismus nennen: der unverschuldeten Armut, die der Betroffene nicht selber ändern kann. Auch diesen Punkt fächert die Autorin auf und lässt in der Handlung verschiedene soziale Unruhen der Vergangenheit und der erzählten Zeit anklingen und Gesetze, die die Reichen reicher und die Armen weiter ärmer gemacht haben.


    Sie klagt niemals an, sie berichtet nur, aber dennoch wird die nach wie vor ungebrochene Macht der alten privilegierten Schichten deutlich.


    Und genau hier liegt auch der eigentliche Grund für den Prozess: da fordert einer der dauerhaft und chancenlos Entrechteten Gerechtigkeit ein. Der Versuch misslingt, der „Überbau“, wie Marx es nennen würde, ist mächtiger. Er wird wegen Betrug verurteilt.


    Der Betrug liegt aber nicht im Betrugsversuch eines Einzelnen, sondern hier sind ganze Generationen betrogen worden: um ihre persönliche Freiheit, um den wirtschaftlichen Lohn ihrer Arbeit und um beides.


    Das Buch ist nicht leicht zu lesen. Die Autorin zerhackt die Handlung in unzählige kleinere Kapitel Vermutlich will sie damit die Erscheinungsweise der viktorianischen Romane als Fortsetzungsromane imitieren. Aber diese ständigen Sprünge zwischen den Zeiten, den Personen und den Schauplätzen, die Vielzahl an Querverbindungen fordern den Leser heraus. Auf der anderen Seite verleiht die Autorin den erzählten Fragen damit aktuelles Leben. Ob das der zementierte Gegensatz Arm-Reich ist, Ausbeutung im weitesten Sinn, Menschenrechte, Frauenbild, Rollenzuschreibungen, Fake News, Populismus etc. – alles hat einen Bezug zu heute.


    Und der Leser erkennt, dass die erzählten Probleme nicht in den gefährlichen Fluss Lethe gefallen sind, sondern nach wie vor existieren. Und Zadie Smith legt leicht und elegant ihren Finger darauf.


    09/10 P.


    ASIN/ISBN: 3462005448

    werde es auf jeden Fall probieren.

    Dann bin ich gespannt auf Dein Urteil!

    Typisch für die Nesbo-Bücher ist es aber auf gar keinen Fall. Also: wenn es Dir nicht gefällt, dann verdamme nicht gleich den gesamten Autor!


    eine Mischung aus Horror und Jugendbuch.

    Ich mag keine Horror-Bücher, aber hier habe ich mich gar nicht gruseln müssen. Ich hatte immer die feste Überzeugung, dass sich die Sache irgendwie auf eine reale und nachvollziehbare Weise lösen wird; da habe ich mich auf Nesbo verlassen.

    ASIN/ISBN: B0C26V3SF6


    Klappentext:


    Kein deutscher Maler löst solche Emotionen aus wie Caspar David Friedrich: Seine abendlichen Himmel sind bis heute Ikonen der Sehnsucht, er inspirierte Samuel Beckett zu "Warten auf Godot" und Walt Disney zu "Bambi" - Goethe jedoch machte die rätselhafte Melancholie seiner Bilder so wütend, dass er sie auf der Tischkante zerschlagen wollte.In seiner groß angelegten Reise durch die Zeiten erzählt Florian Illies erstmals die Geschichte der Bilder Friedrichs: Zahllose seiner schönsten Gemälde sind verbrannt, erst in seinem Geburtshaus und dann im Zweiten Weltkrieg, andere, wie der "Kreidefelsen auf Rügen" tauchen hundert Jahre nach Friedrichs Tod aus dem Nebel der Geschichte auf. Illies erzählt, wie Friedrichs Bilder am russischen Zarenhof landen, zwischen den Winterreifen in einer Autowerkstatt der Mafia und in der Küche einer hessischen Sozialwohnung. Von Hitler so verehrt wie von Heinrich von Kleist, von Stalin so gehasst wie von den 68ern - am Beispiel von Friedrich werden 250 Jahre deutsche Geschichte sichtbar.


    Mein Lese-Eindruck:


    „Auf dem Segler“: ein junges Paar auf einem Segler, der Wind bläht die Segel, das Paar hält sich an den Händen und schaut in die Fahrtrichtung, wo das Ziel dieser gemeinsamen Reise liegt: eine Stadtsilhouette zeigt sich in irrisierendem Licht. Mit diesem Bild des Covers führt der Autor seine Leser sofort mitten in die Malerei Caspar David Friedrichs ein.


    Ein liebendes Paar auf seiner Lebensreise, umgeben von den Elementen Wind und Wasser, das Element Erde als Ziel vor ihren Blicken: das ist der Maler mit seiner jungen Frau Caroline auf dem Weg von Greifswald, Friedrichs Heimatstadt, zurück nach Dresden. Das vierte Element, das des Feuers, verortet Illies in Friedrichs glühender Liebe zu seiner Frau. D a knirscht der Bezug zwar etwas, und solche kurzen Knirscher wird es immer wieder geben, aber immerhin: Illies hat ein Ordnungsprinzip für sein Buch gefunden, nämlich die vier Elemente.


    Das erste Kapitel „Feuer“ bricht unverhofft mit der Idylle des Coverbildes und beschreibt den Brand des Glaspalastes 1931 in München, dem unter anderem neun Werke von Friedrich zum Opfer fallen. Dieser gewaltige Brand ist nicht der einzige Brand, der Gemälde unrettbar vernichtet, es folgen kriegsbedingte und andere Brände, z. B. in der väterlichen Kerzenzieherei, der Brand im Dresdner Taschenberg.-Palais oder der Brand im Bunker Friedrichshain am Ende des II. Weltkriegs. Und allmählich versteht man als Leser, wieso C. D. Friedrich so lange Zeit in Vergessenheit geraten konnte: zu viele Bilder waren zerstört worden, und die erhaltenen waren wegen der fehlenden Signatur nicht zuzuordnen.


    Schon im 1. Kapitel zeigt sich Illies Vorgehen. Er verzichtet auf die Chronologie, sondern konzentriert sich auf durchgängige Erscheinungen. Er beschreibt z. B. einige Bilder, zunächst eher vordergründig, aber geht dann der Geschichte dieser Bilder durch die Jahrhunderte nach und erzählt von abenteuerlichen Diebstählen, von raffinierten Kunsthändlern und Museumsdirektoren, von Einflüssen und Querverbindungen.


    Die ungeheure Recherchearbeit des Autors ist nicht zu übersehen. Das Buch hat aber keinerlei Schwere. Illies bringt seine Kenntnisse und diese unglaublich vielen Zusammenhänge eher plaudernd und auch mit persönlichen Kommentaren an den Leser heran. Der Leser holpert also nicht schwerfällig in einem wissenschaftlichen Karren einen steinigen Weg entlang, sondern er unternimmt mit dem Autor eine, wie es der Untertitel schon sagt, eine temporeiche und kurzweilige Reise durch die Zeiten.


    Alles lernt der Leser schließlich kennen: den künstlerischen Werdegang, seine Traumatisierung durch den Tod des Bruders, der ihn vor dem Ertrinken rettete, seine lebenslange Schwermut, seine tief religiöse Grundhaltung, seine Familie, seinen Dresdner Freundeskreis, seine Ablehnung des klassischen Kunstideals („Erinnerungen, nichts als kalte, tote Erinnerungen“), sein schwieriges Verhältnis zu Goethe, sein Verhältnis zur Natur, seine Kunstauffassung, seine Montage-Technik, seine finanzielle Not, sein Wesen und so fort.


    Die Reise geht aber weiter z. B. zu Friedrichs Einfluss auf Walt Disney und dessen „Bambi“-Film, aber immer wieder stockt sie in der Zeit des Nationalsozialismus. Caspar David Friedrich war ein Mensch, der zutiefst seine Heimat liebte („Erde“) und der in der Zeit der napoleonischen Besatzung mit den Waffen kämpfte, die er zur Verfügung hatten nämlich seiner Kunst: er malte Hünengräber und Landschaften mit mächtigen Eichen, d. h. er beschwor die „Kräfte der Vergangenheit“, wie Illies es nennt. Und genau das dient den Nationalsozialisten zum Vorwand, diesen schwermütigen, traumverlorenen Maler zu einem germanischen Helden umzustilisieren.


    Sehr ausführlich widmet sich Illies besonders zwei Bildern. „Gescheiterte Hoffnung“ (1842) ist das eine, und Illies hebt deutlich den persönlichen Hintergrund des Malers hervor, dessen Hoffnung auf eine besser bezahlte Stelle eines Ordentlichen Professors in Dresden sich zerschlagen hatte. Seine Bilder seien „zu trübsinnig“. Das andere ist das radikalste und wohl modernste Bild: „Mönch am Meer“. Ein Bild, das einen Menschen in seiner Verlorenheit vor der mächtigen Natur zeigt und Kleist zu der Bemerkung veranlasste, es sei, als ob einem die Augenlider weggeschnitten seien. Kleist erschoss sich wenige Tage später.


    Illies‘ Begeisterung für den Maler springt auf den Leser über. Was mir aber über alle Maßen gut gefällt, ist die Tatsache, dass Illies den Maler aus seiner Vergangenheit herausholt und in unsere Zeit stellt. Vergangenheit und Gegenwart werden durch die vielen Bezüge miteinander verflochten.


    Illies lässt die Bilder Caspar David Friedrichs über die Jahrhunderte hinweg zu uns sprechen. Und eine solche Belebung der Geschichte finde ich in den aktuellen Zeiten von Geschichtsvergessenheit wichtiger denn je.


    10/10 Pkt.

    dass der Roman bei uns als Krimi vermarktet wird, nur weil der Autor sonst vorwiegend Krimis schreibt. Kein Wunder, dass dann einiger Leser enttäuscht sind, wenn sie nicht das bekommen was drauf steht.

    Auf dem Cover steht sogar "Thriller" drauf. Das finde ich auch irreführend.


    Nachdem ich meinen Lese-/Hör-Eindruck geschrieben habe, habe ich mir einige Rezensionen angesehen - die sind sehr gemischt, vielleicht wegen der von Dir angesprochenen Enttäuschung. Allerdings finde ich, dass sich ein Leser dann durchaus ein bisschen bewegen kann, um dem Roman gerecht zu werden.