Beiträge von dracoma

    Ich bin ziemlich zufrieden mit dem diesjährigen Aufräumfasten.

    Gratulation!


    Ich finde die Idee so gut, vielen Dank dafür!


    Mir geht es nicht so gut damit.

    Ich befürchte, ich erreiche nicht die 48.

    Neu ausgemistet:

    1 rote Strickjacke, 1 Pullover, 1 Decke, 1 Kleid ins Sozialkaufhaus, 1 Windspiel in den Müll, 1 Übertopf an die Nachbarin: Insgesamt habe ich jetzt 18 Sachen "gefastet".

    Oh je. Noch 30...

    Ich bin in einer Stadt, an einem Meer, offenbar im Süden, ich teile es nicht genauer mit - aber ich liege auf einem Dach. Mit meiner Waffe. Und ich schieße perfekt. Darauf bin ich stolz. Im Krieg ist das wichtig.


    Zum Autor (Quelle: Verlag):


    Herbert Clyde Lewis (1909 - 1950) wurde als zweiter Sohn russisch-jüdischer Einwanderer im New Yorker Stadtteil Brooklyn geboren. Er führte ein rastloses Leben als Sportreporter in Newark, Berichterstatter in Shanghai und Drehbuchautor in Hollywood. Er schrieb für den Mirror und das Time Magazine in New York und verfasste vier Romane. Sein Debut Gentleman über Bord ist das erste seiner Bücher, das auf Deutsch vorliegt.


    Klappentext:


    Ein wohlsituierter New Yorker Geschäftsmann stürzt urplötzlich in eine mentale Krise. Um zu gesunden, so spürt er, muss er seinen von grauem Erfolg geprägten Alltag hinter sich lassen, und kurzerhand tritt er eine Schiffsreise an. Kaum auf See, stellt sich die erhoffte Erleichterung tatsächlich ein, doch dann ... macht er einen einzigen falschen Schritt und landet mitten im Pazifik, während sein Schiff sich immer weiter von ihm entfernt. Was denkt ein Mensch in solch einer Situation? Woraus schöpft er Hoffnung? Und wie blickt er nun auf sein Leben, dessen er vor Kurzem noch so überdrüssig war? Mit Gentleman über Bord gelang Herbert Clyde Lewis ein tiefgründiges, genial komponiertes Meisterwerk, das fast ein Jahrhundert lang weitgehend unbeachtet blieb und in der vorzüglichen Übersetzung von Klaus Bonn jetzt endlich auf Deutsch vorliegt.


    Mein Lese-Eindruck:

    Der kleine Roman beginnt mit einem Paukenschlag: Henry Preston Standish stürzt kopfüber in den Pazifik. Als Leser erwartet man nun Näheres: wer ist das, wieso stürzt er ins Meer, was geschieht jetzt zu seiner Rettung? Der Erzähler lässt den Leser mit diesen Fragen alleine und wendet sich der Schönheit des Sonnenaufgangs zu. Mit dieser speziellen Form von Humor wird der Leser im Roman immer wieder konfrontiert.

    Standish ist ein New Yorker Börsenmakler und stammt als Nachfahre einer der Pilgrim Fathers aus bester Familie. Er ist verheiratet, wohnt mit Frau und zwei Kindern in bester New Yorker Lage am Central Park. Der Erzähler bezeichnet ihn als „öde“: er erledigt alles, was zu erledigen ist, immer ordentlich, aber ohne jede Emphase. Weil umgekehrt auch ihn alles anödet, unternimmt er eine längere Reise und so landet er auf dem Frachter Arabella und fährt nach Panama. Wo er auf einem Ölfleck ausrutscht und ins Meer stürzt.

    Standish hat zunächst keine Angst, sondern er schämt sich. Ein Mann seiner Erziehung und seiner Gesellschaftsklasse stürzt eben nicht ins Meer, zudem mache das der Schiffsbesatzung Ärger, und auch das gehört sich nicht. Nun plagen ihn die Überlegungen, wie er sich angemessen zu verhalten habe. Er ist sich sicher, dass sein Verschwinden auf dem Schiff bemerkt wird und seine Rettung naht. Er hält bereits Reden an die Reporter, an Freunde und seine Familie, wenn er seine dramatische Rettung und sein Überleben in diesen unendlichen Weiten erzählen wird. Dazu wird es nicht kommen; verschiedene Zufälligkeiten führen dazu, dass sein Verschwinden erst am Abend bemerkt wird.

    Standishs Gefühle schwanken zwischen freudiger Zuversicht, Panik, Empörung und Hoffnungslosigkeit. Er tröstet sich zwar und meint, dass das Ertrinken eine vornehme Art des Sterbens sei. Aber er sieht auch, dass die Dinge, die ihn bisher definiert hatten – seine vornehme Herkunft, seine verfeinerten Manieren, seine Lebensart etc. - ihn jetzt im Stich lassen. Zum ersten Mal empfindet er die Kostbarkeit des Lebens und stellt fest, dass alle Wünsche ihm bisher erfüllt worden waren, aber der eine Wunsch nach Überleben ihm versagt werden wird.

    Schon im ersten Satz zeigt sich der ironische Grundton des Textes, mit dem der Erzähler nicht nur den Protagonisten, sondern auch die anderen Figuren betrachtet. Damit erspart der Autor dem Leser die zwangsläufig emotionsbesetzte Identifikation mit dem Protagonisten und erlaubt ihm, dem Schicksal Standishs aus der Distanz zuzuschauen.


    8/10


    ASIN/ISBN: 3866486960

    ASIN/ISBN: 3825153479


    Zur Autorin (Quelle: Verlag):

    Tove Jansson (1914-2001) wuchs in Helsinki als ältestes Kind des Bildhauers Viktor Jansson und der schwedischen Illustratorin Signe Hammarsten Jansson auf. Mit 16 Jahren begann sie ihre Ausbildung als bildende Künstlerin in Stockholm, Helsinki und Paris. Die "Mumin"-Bücher machten sie international berühmt, sie erhielt dafür u.a. die Nils-Holgersson-, die Elsa-Beskow-Plakette und den H.C.-Andersen-Preis. In den letzten beiden Jahrzehnten ihres Lebens schrieb sie Romane, Erzählungen und Kurzgeschichten für Erwachsene.


    Klappentext:


    So wunderbar wie ein Frühling in Paris …

    Ein klarer, neugieriger Blick auf Orte in ganz Europa, auf Frauen und Männer in jedem Lebensalter und in unterschiedlichsten Situationen durchzieht die fünfzehn Erzählungen dieses Bandes. Ob in Paris, Dresden, Helsinki, auf Capri oder in den Schären: Janssons feiner Humor zeichnet so eigenwillige wie liebenswerte Charaktere – einsame Flaneure, frisch Verliebte, junge Künstlerinnen, alternde Autoren – und ja, sogar Hemule und Filifjonken, die wir aus den Mumin-Geschichten kennen. Es ist ein einzigartiger Band, der hier von der Jansson-Forscherin Sirke Happonen zusammengestellt wurde. Die Texte waren bisher nur in finnischen Zeitschriften erschienen: der erste, titelgebende bereits 1934, der letzte 1997. So ergibt sich ein spannender Blick auf das Gesamtwerk Tove Janssons, der einmal mehr ihre Meisterschaft im Genre der Kurzgeschichte und der Erzählung belegt.


    Mein Lese-Eindruck:


    Der kleine Band enthält 17 Geschichten bzw. Texte, die an unterschiedlichen Orten spielen, realen und fiktiven. Auch die handelnden Personen sind unterschiedlich. Wir begegnen dem älteren Herrn Völpel in seiner traurigen Alltäglichkeit, zwei jungen Frauen in Aufbruchsstimmung, einem Paar auf Hochzeitsreise auf Capri, Sommerfrischlern auf einer Schäreninsel, Künstler im Pariser Karneval und natürlich auch einigen Mumins. Viele ihrer Personen sind einsam, auch wenn sie zu zweit sind, einige sind Exzentriker, einige sind Künstler, einige leben am Rande der Gesellschaft, einige sind in finanzieller Bedrängnis.


    Nicht alle Texte erzählen ausschließlich eine Geschichte. Einige Texte wie z. B. das titelgebende „Der Boulevard“ enthalten auch Stimmungsskizzen, in der die Autorin die Besonderheiten der Pariser Boulevards beschreibt. Ein anderer Text befasst sich mit Tove Janssons ureigenem Problem: dem Schreiben von Kinderbüchern. Welche Motivation liegt dem Schreiben von Kinderbüchern zugrunde, fragt sie sich, und kommt zum Ergebnis: letztlich schreibt der Autor für seine eigene Kindlichkeit, was sie als eskapistische Möglichkeit sieht, der Gesellschaft der Erwachsenen zu entfliehen.


    Die Geschichten stammen aus den Jahren 1934 – 1940. In diesen Jahren lebte Tove Jansson für eine Zeit in Paris und unternahm Reisen durch Europa, bevor sie wieder zum Kunststudium nach Helsinki zurückkehrte. Während der Kriegsjahre veröffentlichte sie in verschiedenen Zeitschriften einige Erzählungen, die in diesem Sammelband erstmals zusammen getragen wurden, in chronologischer Ordnung.


    Was allen Texten gemeinsam ist: Tove Jansson hat einen bestechend klaren und ebenso bestechend freundlichen Blick auf ihre Mitmenschen. Sie beobachtet sehr genau, aber sie verurteilt nicht. Stattdessen spiegelt sie ihr Verhalten mit subtiler Ironie und wohlwollendem Humor.

    Und das alles in einer einfach nur wunderbaren poetischen Sprache! Ein Lese-Genuss.


    9/10

    ASIN/ISBN: B0BX76X69D


    Klappentext:


    Die Englischlehrerin Claire Devon lebt glücklich verheiratet mit dem Bauunternehmer Paul und als Mutter der spätpubertären Ashley in einer typischen US-Vorstadt. Eines Nachts beginnt sie, ein summendes Geräusch zu hören, das ihr den Schlaf raubt und sie reizbar macht. Sie ist scheinbar die Einzige, die das akustische Phänomen wahrnimmt. Nach anfänglichem Verständnis gehen Paul und Ashley auf Distanz. Zunehmend in die Isolation getrieben, stellt Claire eines Tages fest, dass auch ihr Schüler Kyle das Summen hören kann. Schnell sind die beiden unzertrennlich.

    Ihre Suche nach dem Ursprung des Geräuschs führt die beiden zu einem Forscherpaar, das seine Villa zum Treffpunkt für Menschen erklärt hat, die "das Summen" hören können. In dieser Gemeinschaft findet Claire eine Ersatzfamilie. Schnell nimmt die Gruppe sektenartige Züge an und die Ereignisse eskalieren.

    In dem hochaktuellen Roman des kanadischen Bestsellerautors Jordan Tannahill geht es um die Suche nach Zugehörigkeit, um das Verstehen des Unverständlichen - und darum, wie leicht charismatische Persönlichkeiten unsere Sehnsucht nach Anschluss ausnutzen können. Das Summen ist ein spekulativer, fesselnder Roman, der die feinen Grenzen zwischen Glaube, Wahn, und Verschwörung auslotet.


    Mein Hör-Eindruck:


    Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag, der das Ende der Geschichte vorwegnimmt. Die Spannung des Lesers bezieht sich daher auf den Weg dorthin: wie kommt es, dass Claire, die Ich-Erzählerin, nachts vor vielen Leuten im Rausch auf der Straße tanzt? Und noch dazu nackt?


    Claire hat sich in ihrem Leben gut eingerichtet. Sie liebt ihren Mann und ihre pubertierende Tochter, sie liebt ihren Beruf als Englischlehrerin, sie ist im Kollegium gut integriert, ihre Familie wohnt in einem eigenen Haus, alle sind gesund, sie haben keine finanziellen Sorgen. Bis sie eines Tages ein tiefes Summen hört, dessen Herkunft sie sich nicht erklären kann. Und dieses Summen ist es, dass ihre Lebensidylle zum Einsturz bringt.


    Zusammen mit einem ebenfalls betroffenen Schüler recherchiert sie, indem sie Frequenzen misst, und beide stellen fest, dass sie keine konkrete Geräuschquelle ausmachen können. Im Lauf der Zeit finden sich einige Leute zusammen, die ebenfalls das Summen hören und wie sie unter Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen leiden, und so entwickelt sich ein Kreis, der sich zunächst wöchentlich, schließlich täglich trifft. Es bleibt offen, wie die Mitglieder das mit ihren Berufen verbinden können. Die Gruppe beschließt, das Summen nicht mehr als Störung, sondern als Bereicherung zu betrachten. Mit Hilfe von Meditation wollen sie sich dem „großen Mysterium“ nähern, sich gemeinsam in das Summen einschwingen, sich eins fühlen mit dem Universum und in einen Energieaustausch mit der Erde treten. Die Belohnung für das Einschwingen sei, so die Leiterin, ein zehnminütiger Orgasmus. Offenbar hat sie ihn gestoppt 😊?


    Claires Zugehörigkeit zu diesem sektiererischen Zirkel artet in eine Obsession aus und führt schließlich zum Verlust ihrer Arbeitsstelle, ihres Freundeskreises und ihrer Familie. All das ersetzt nun der Zirkel. Damit wird ein interessantes Thema angeschlagen: es geht um das Anders-Sein, um gesellschaftliche Isolation und Zugehörigkeit.


    Schade, dass es an zu vielen Stellen in diesem Roman ziemlich knirscht. So droht die Tochter z. B. schon sehr früh mit Auszug und Trennung, weil die Mutter in der Schule unkonzentriert sei. Das allmähliche Auseinanderbrechen der Familie hätte diffiziler erzählt werden können. Recht ermüdend waren für mich die langen Gespräche im Zirkel, die thematisch mäandern und in Zeitdeckung wiedergegeben werden, ebenso die genauen Beschreibungen des Interieurs (Tisch aus Mangoholz, Bildbände etc.) ohne jeden Handlungsbezug, und auch das Gespräch über Claires Sex-Träume und ihre ausführliche Beschreibung ihrer mehr oder weniger geglückten sexuellen Freuden mit ihrem Mann bringen die Handlung nicht voran.


    Der Roman wird aus der Ich-Perspektive erzählt, die auch meistens konsequent durchgehalten wird. Umso störender sind die Passagen, in denen die Ich-Erzählerin Dinge erzählt, die sie gar nicht wissen kann, z. B. beim ersten Treffen Charaktereigenschaften der anderen Mitglieder oder Ereignisse während ihrer psychotischen Phase.


    Der Roman spricht sicher Leser an, die offen sind für esoterische Betrachtungsweisen.


    Trotzdem: mir hat das Thema des Romans gefallen. Er zeigt, wie sich jemand mit kleinen Schritten aus dem gesellschaftlichen Konsens löst und ins Abseits gerät.

    Die Sprecherin Marion Elskis spricht sehr deutlich, sehr pointiert und sehr langsam. Auch hier wäre, wie beim Roman selbst, eine Beschleunigung gut gewesen.


    6/10


    ASIN/ISBN: B0BWFLFM3X

    Klappentext:


    Jens Sparschuh unternimmt in seinem neuen Roman eine faszinierende Abenteuerreise ins Zwischenreich von Realität, Erinnerung und Imagination und begibt sich auf die Spuren eines vergessenen Philosophen: Hans Vaihinger.


    »Die Wahrheit ist nur der zweckmäßigste Irrtum.« So behauptete es Vaihinger in seinem Hauptwerk »Die Philosophie des Als ob«. Hundert Jahre später fragt sich Dr. Anton Lichtenau, Privatdozent für Philosophie, aus wie vielen zweckmäßigen Irrtümern sein eigenes Leben bestanden hat. Ein unvorhergesehenes Ereignis auf dem Weg zur Vorlesung hat ihn völlig durcheinandergebracht. Während die Studierenden sich in der Abschlussklausur an einer Interpretation von Vaihingers Thesen versuchen, richtet er den Blick zurück. War es Zufall, dass er wegen mangelnder Russischkenntnisse nicht in Leningrad, wie es vorgesehen war, studierte, sondern in Berlin? In diesem anderen, seinem nicht gelebten Leben, hätte er Claudia nicht kennengelernt, die ihn dann auch nicht hätte verlassen können, und ... Je tiefer Lichtenau ins Labyrinth seiner Was-wäre-gewesen-wenn-Erwägungen eindringt, desto mehr verliert er den festen Boden bisheriger Gewissheiten unter den Füßen.


    Ein ebenso erhellender wie federleichter Roman über eine Grundformel menschlichen Denkens und die Kraft von Fiktionen.


    Mein Lese-Eindruck:


    Anton Lichtenau, promovierter und habilitierter Philosoph, ist auf dem Weg zur „Hochschule für Kulturwissenschaften“, einer fiktiven Hochschule in Berlin. Dort hält er in Vertretung eines Gönners eine Vorlesungsreihe, und nun stehen die letzte Vorlesung und die Abschlussklausur an. Aber auf dem Weg dorthin wird er von einem Radfahrer-Rowdy angefahren. Er stürzt, und ab jetzt geht alles durcheinander. Zunächst muss er seine verstreuten Skripten wieder einsammeln und bringt sie auf die Schnelle nicht mehr in die richtige Ordnung, und ähnlich sieht es in seinem Kopf aus, auch dort wird einiges durcheinandergeschüttelt.


    Und hier beginnt nun das Spiel des Autors mit seiner Figur, mit deren beruflichem Tun und auch mit dem Leser.


    Anton Lichtenau fängt an zu überlegen, was gewesen wäre, wenn – wenn er als Schüler besser Russische gelernt hätte, wenn er in Leningrad studiert hätte (wie der Autor), wenn er seine verflossene Partnerin nicht kennengelernt hätte und so fort. Stück für Stück rollt er sein Leben nach rückwärts hin auf. Das Bild der Matrjoschka, eines Mitbringsels für seine Freundin, ist die passende Metapher, denn auch hier sieht er, wie Stück für Stück die Figuren ineinander verschachtelt sind – so wie sein bisheriges Leben.


    Und noch eines passt sehr gut. Lichtenau doziert nämlich in diesem Semester über Hans Vaihinger. Hans Vaihinger, ein Philosoph des 19. Jahrhunderts in der Nachfolge Kants, wurde bekannt durch sein Werk Als ob, in dem es um die Bedeutung von Fiktionalität im Leben des Menschen geht. Und damit ist ein weiteres Thema im Roman angeschlagen: die Fiktion. Was wäre, wenn? Lichtenau malt sich alternative Entwicklungen seines Lebens aus und erinnert sich sogar an Nicht-Geschehenes, das aber so hätte geschehen können:


    Zitat

    "Die Augen geschlossen, sah ich alles ganz deutlich vor mir: worauf es ankommt? Sich genau, in allen Einzelheiten, an das zu erinnern, was man nie erlebt hat.“ (S. 97)

    Witzigerweise stimmen seine und die Erinnerungen seiner Freundin an nicht-fiktive Erlebnisse auch nicht überein. Und auch das berufliche Leben seiner Freundin wird von Fiktionen bestimmt, weil sie als Lektorin für Groschenromane arbeitet.


    Sparschuh hat sich noch eine weitere Übereinstimmung ausgedacht, was seinen Protagonisten und Vaihinger angeht. Vaihinger nämlich setzte sich mit großer Außenwirkung für eine Institutionalisierung der Philosophie als wissenschaftlicher Disziplin ein. Und genau das wird zu Lichtenaus Auftrag: den Fortbestand der Fachschaft Philosophie an der Hochschule zu sichern. Das kann er aber nur, wenn er endlich ein lange geplantes Fachbuch veröffentlicht. Und daran hapert es. Als sein Gönner ihn fragt, ob er denn wenigstens schon einen Titel für das Buch habe, antwortet er: „Nicht wirklich.“ (S. 46) Was der Gönner als Titel missversteht.


    Fazit: Sparschuh gelingt hier ein ausgesprochen witziger Roman, der mit Fiktionen, Erinnerungen und Alternativen spielt.

    Man muss als Leser allerdings bereit sein für seine philosophischen Plänkeleien!


    7/10


    ASIN/ISBN: 346200140X

    ASIN/ISBN: 346200140X


    Jens Sparschuh, Nicht wirklich


    Icb habe mir das neue Buch von Jens Sparschuh gegönnt. Ich habe bisher noch nichts von Sparschuh gelesen, drum war ich sehr gespannt - und dann stolpere ich gleich über einen Philosophen Vaihinger, den ich zuerst für eine Fiktion hielt :saint:, den es aber tatsächlich gegeben hat, man lernt doch nie aus...

    Es geht um das "Als ob" oder "Was wäre, wenn..." - da sind amüsante Gedanken dabei, weil der Protagonist sein Leben quasi nach hinten aufrollt und sich immer überlegt, was gewesen wäre, wenn er in Leningrad studiert hätte, wenn er seine Partnerin nicht getroffen hätte, und so fort.

    Vor allem musste ich lachen, als ich gelesen habe, dass Vaihinger wegen seiner starken Kurzsichtigkeit einen schärferen Blick auf philosophische Fragestellungen entwickelt hätte.

    Ansonsten reißt mich das Buch nicht vom Hocker, jedenfalls noch nicht.

    ASIN/ISBN: 3608986375


    Klappentext:

    Camelot – die unvergleichliche Welt von Merlin, Lancelot, Sir Gawein, Morded und der schönen und nicht immer treuen Guinevere.

    Die Abenteuer König Arthurs und der Ritter seiner Tafelrunde sind eine der reichsten und farbigsten Quellen phantastischer Literatur überhaupt. Sie erzählen von dem Jungen, der zum König wurde, weil er ohne Mühe ein verzaubertes Schwert aus dem Stein ziehen konnte, und so fasziniert sie Leserinnen und Leser seit Jahrhunderten immer wieder aufs Neue.

    Kein anderes Werk der Fantasyliteratur hat so einzigartig gezeigt, was ein Ritter ist und was ein Zauberer, wie die Erzählungen über König Arthur, den Zauberer Merlin, Lancelot und seine Gefährten. Zahllose Abenteuer müssen sie bestehen und Britannien gegen Angreifer behaupten. Das Unglück beginnt, als Arthur zu einem Duell mit einem König Frankreichs aufbricht und seinem Sohn Mordred den Auftrag gibt, das Land zu verwalten… Wird des Königs eigener Sohn zum schlimmsten Verräter? Bis heute ist es ein Rätsel, ob Arthur den Wunden aus einem Kampf erlegen ist oder ob er nur auf die sagenumwobene Insel Avalon gebracht wurde, von der er eines Tages wiederkehren wird.

    John Matthews, einer der weltweit führenden Kenner altenglischer Sagen, erzählt aus bislang unbekannten Quellen gänzlich neue Geschichten um König Arthur und die Ritter der Tafelrunde und flicht sie in den Horizont der klassische Sagen: ein beispielloses Leseerlebnis und ein großes literarisches Ereignis!

    Die berühmteste Heldensage der Welt neu erzählt

    Mit zahlreichen bisher unveröffentlichten Geschichten

    Mit Illustrationen des berühmten Tolkien-Künstlers John Howe

    Mit einem Vorwort von Neil Gaiman


    Mein Lese-Eindruck:


    Dieses Buch hat mich an die Bücher meiner Kindheit erinnert, in denen man so versinken konnte, dass rund um einen herum die Welt nicht mehr existierte: die Sagen bzw. Mythen des „deutschen“ Mittelalters. Ob das das Nibelungen-Epos war, das Rolandslied, das Kudrun-Epos, die Sagen um Dietrich von Bern, um Beowulf etc.: alle entführten in eine andere Welt, in der es mächtige Helden und Zauberwesen einer anderen Welt gab wie Feen, Trolle, Drachen und andere magische Wesen. Und in diesem Buch wird der Leser entführt in die Welt des sagenhaften König Artus.


    John Matthews ist ein überaus belesener Artus-Kenner, das ist unbestritten. Er nutzt als Quelle Le Morte d’Arthur von Thomas Malory, eine Sammlung aus dem 15. Jahrhundert, und diese Sammlung wiederum stützt sich auf eine Zusammenstellung altfranzösischer Texte aus dem 13. Jahrhundert. Hier bedient sich Matthews und ergänzt die Sammlungen noch mit Texten aus anderen Sprachen, die Malory nicht zur Verfügung standen – und so entstand die Idee, in der Nachfolge Malorys Le Morte d’Arthur neu zu schreiben.


    Damit steht Matthews vor einer gewaltigen Aufgabe. Es gilt, viele Fundstücke zusammenzusetzen, zu ergänzen und miteinander in Bezug zu setzen. Matthews findet erzählerische Parallelen und Abweichungen, d. h. er muss die Geschichten vereinfachen, er muss einzelnen Episoden wie wiederholte Kampfhandlungen weglassen und auf eine gewisse Stringenz der Geschichten achten.

    Matthews lässt sich noch einen erzählerischen Trick einfallen: er erfindet einen Erzähler, der seinem Leser die Sagen erzählt und sie auch kommentiert Damit imitiert er die Erzählsituation am Hof, wo der Sänger die höfische Gesellschaft mit den Heldenepen unterhielt. Matthews trifft den altmodischen, aber niemals antiquierten Sagenton recht sicher, von wenigen Ausnahmen abgesehen. So hat es mich z. B. zusammenzucken lassen, wenn Lancelot sagt: „Aber versucht nicht mich auszutricksen!“


    Und so tritt hier ein großer Reigen an Rittern und ihrer aventiure auf, von Merlins Geburt angefangen bis hin zum Tod des Königs und der Reise nach Avalon.


    Mir hat die Sage um den Sarazenen Palomides besonders gut gefallen. Nicht nur, weil sie mir neu war, sondern weil er und seine Brüder diskussionslos in die christliche Tafelrunde aufgenommen werden, obwohl sie Muslime sind.


    Fazit: Ein kurzweiliges Buch für Liebhaber mittelalterlicher Epen!


    9/10 P.

    ASIN/ISBN: B0BTDB7WZT


    Die ISBN des Hörbuchs wird nicht akzeptiert.


    Zur Autorin (Quelle HP):

    Angelika Rehse wurde in Sande/ Kreis Friesland geboren und wohnt heute mit ihrer Familie in Bad Salzuflen. Sie wuchs in einem Umfeld von Heimatvertriebenen auf. Unter dem Eindruck der erzählten und verschwiegenen Geschichten der Generation ihrer Eltern hat sie in einer späten Lebensphase mit „Josses Tal“ einen poetisch kraftvollen und politisch hellsichtigen Roman geschrieben.


    Klappentext:

    1930

    Der unehelich geborene Josef ist eine Schande für seinen Großvater und bekommt dies täglich zu spüren. Seine Kindheit ist geprägt von Angst und fehlender Nähe. Erst nach einem Umzug erfährt er in einer neuen Nachbarsfamilie Anerkennung und Zuneigung. Da ist vor allem Wilhelm, der ihn fördert und schützt, und Josefs Leben scheint sich endlich zum Guten zu wenden.
    Aber der arglose Junge ahnt nicht, dass hinter Wilhelms Freundlichkeit mehr steckt. Der aufstrebende SA-Mann formt Josef zu seinem ergebenen Helfer und benutzt ihn dazu, die Bewohner des Ortes auszuspionieren. Josef geht voller Stolz in dieser Mission auf. Doch dann erfährt er etwas, das sein bisheriges Leben aus den Fugen geraten lässt.


    Mein Hör-Eindruck:


    Der Roman erzählt die Geschichte eines jungen Verführten in den 30er Jahren und seinen radikalen Bruch mit dem Nationalsozialismus.


    Josef, der Protagonist, lebt mit seiner Mutter bei seinen Großeltern in einem kleinen Dorf in Schlesien. Wegen seiner unehelichen Geburt wird er von den Kindern des Dorfes ständig gehänselt und malträtiert und von seinem Großvater misshandelt. Als die Familie der Schande wegen in ein anderes Dorf umzieht, wird die Lage für Josef nicht besser.

    Schließlich findet er in Wilhelm, dem ältesten Sohn der Nachbarsfamilie, einen Beschützer, der ihm wohlwollend entgegentritt und in dessen Familie Josef zum ersten Mal in seinem Leben auf Zuneigung und Wertschätzung trifft. Zugleich aber nordet ihn Wilhelm subtil und stetig in Richtung Nationalsozialismus ein.


    Auch als Wilhelm zum Studium nach Berlin zieht, bleibt der enge Kontakt bestehen, und Josef übernimmt Schritt für Schritt als Hitlerjunge die Aufgaben, die Wilhelm ihm im Interesse der „Reinheit“ seiner Gemeinde und seines Kreises zuweist. Josef bespitzelt nun die Leute und legt Dossiers an, die er an einem geheimen Ort für Wilhelm hinterlegt. Bei diesen Bespitzelungen hört er allerdings auch Dinge, die ihn befremden und irritieren wie z. B. über die Anlage des Konzentrationslagers Groß-Rosen in der Nähe seines Dorfes. Josef wird unsicher und fragt sich, welche Ziele Wilhelm mit seiner Betreuung eigentlich verfolgt. Als er erkennt, dass er als „Versuchskaninchen“ für Wilhelm fungierte – Kaninchen spielen eine wichtige Rolle in dem Roman, siehe auch Titelbild! - , kommt es zum radikalen Bruch.


    Die Geschichte entfaltet sich auf zwei Zeitebenen. Josef lebt inzwischen als Einsiedler Josse in einem abgeschiedenen Tal in Norwegen und erzählt seine Geschichte einer jungen Frau, die dem Leben ihrer Urgroßmutter nachspürt. Folgerichtig wird daher die Geschichte zunächst aus Josefs Perspektive erzählt. Um die Perspektive der Erwachsenen unterzubringen, gibt die Autorin immer wieder Gespräche wieder, die Josef belauscht hat: vertrauliche Unterhaltungen anderer Jugendlicher, von Nonnen des nahegelegenen Waisenhauses, von Versammlungen beim Pfarrer, von Lehrern, seinen Nachbarn und so fort. Dieser erzählerische Kunstgriff wird zu oft angewandt und ermüdet daher, vor allem weil immer zufällig die Tür offensteht, die eigentlich geschlossen sein sollte, oder das richtige Fenster stets geöffnet ist und so fort. Zugleich werden in diesen Gesprächen mehr oder weniger schlüssig Erklärungen zur Zeitgeschichte untergebracht. Das hemmt einerseits die Dynamik der Handlung, aber andererseits kann man die Erläuterungen auch als geschichtlichen Nachhilfe-Unterricht betrachten, der sicher einigen Leuten nicht schadet.


    Einige Erzählelemente überzeugen jedoch nicht. Nur zwei Beispiele: Darf Josef tatsächlich die Schule für 8 Tage verlassen, um die Bücherverbrennung in Berlin zu erleben? Hat er alle Papiere und Zeugnisse dabei, wenn er lediglich Wilhelm beim Kistenauspacken helfen soll? Überhaupt kommt das Ende des Romans zu temporeich daher und wirkt aufgesetzt so wie Josefs romantische Entscheidung, als bäuerlicher Einsiedler Josse in einem abgeschiedenen norwegischen Tal zu leben.


    Dennoch halte ich das Buch für lesenswert. Die Recherchearbeit der Autorin verdient Respekt, auch wenn sie meiner Meinung nach bei der Ausgestaltung deutlichere Schwerpunkte hätte setzen müssen. Zudem zeigt sie sehr deutlich den inneren Kampf des älteren Josef und alten Josse um die Frage seiner Mitschuld.

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    Die Sprecherin des Hörbuches verdient ein besonderes Lob. Ihre warme und melodische Stimme macht das Hörbuch zu einem Vergnügen! Perfekt eingelesen!


    8/10

    Klappentext:

    Vietnam war Schauplatz zweier Kriege, die zu den längsten und opferreichsten der Geschichte zählen. Éric Vuillard, der die Leser immer wieder mit seinen brillanten Rhapsodien über blitzlichtartig beleuchtete Episoden der Weltgeschichte fesselt, gelingt es auch in dieser neuerlichen Inszenierung, Geschichte unmittelbar fassbar zu machen. Mit wütender Präzision schildert er, wie zwei der größten Mächte der Welt in einer kolossalen Umkehrung der Geschichte gegen ein kleines Volk in ungeheuer verlustreichen Kriegen verlieren. Er erzählt von dem siegreichen Kampf des Unterlegenen und dem Aufstand eines von Kolonialmächten ausgebeuteten und geschundenen Volks. Er lässt das gewaltige Geflecht aus wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen sichtbar werden und erweckt eine ganze Galerie schillernder Figuren zum Leben: Kautschukpflanzer, französische Generäle, ihre Ehefrauen, Politiker, Bankiers. Ein ehrenhafter Abgang ist eine zutiefst beunruhigende menschliche Komödie, die ständig aufs Neue aufgeführt zu werden scheint.


    Mein Lese-Eindruck:


    Das Buch beginnt mit einem Paukenschlag: eine Delegation der französischen Gewerbeaufsicht bereist im Jahre 1928 die Kautschuk-Plantagen der Firma Michelin. Es hatte einen Arbeiteraufstand gegeben, es gab gehäufte Selbstmorde und Fluchtversuche der „befreiten“ Vietnamesen, und die Gewerbeaufsicht will sich ein Bild verschaffen.

    Das Bild, das sich ihnen bietet, ist an Menschenverachtung kaum zu überbieten: trostlose monotone Arbeitsbedingungen, drakonische Strafmaßnahmen und Folter, halbverhungerte Elendsgestalten. Die Delegation ist entsetzt und verfasst einen entsprechenden Bericht, „die Behörden sprechen ein paar Empfehlungen aus. Ihnen folgt weder Reform noch Verurteilung. In jenem Jahr erzielte die Firma Michelin einen Rekordgewinn von dreiundneunzig Millionen Francs“. Damit benennt Vuillard gleich zu Beginn die Nutznießer der französischen Kolonialherrschaft in Indochina: die Industrie und auch die Banken.


    Es geht in dem Buch um das Ende der französischen Kolonialherrschaft in Indochina, den heutigen Ländern Vietnam, Kambodscha und Laos. Vuillard zeigt auf, wie das Ende begann und wie die Tragödie von Dien Bien Phu das Ende besiegelte. Im Mittelpunkt stehen aber weniger die konkreten militärischen Ereignisse, sondern eher die Hintergründe, und die sind mehr als anrüchig. Der Autor hat genau recherchiert und führt die Schuldigen am Desaster vor: die Industrie und die Banken, die das Land ausbeuteten. Während in Frankreich noch das nationale Pathos hochkochte, war ihnen schon früh die Hoffnungslosigkeit der Lage klar. Sie räumten der französischen Armee – die zum überwiegenden Teil aus Vietnamesen und Kolonialsoldaten bestand – keine Chance gegenüber den Vietminh ein, trotz ihrer strategischen Überlegenheit, die die Vietminh durch hohen Personeneinsatz und hohe Motivation kompensierten. Daher brachten Wirtschaft und Banken ihre Investitionen frühzeitig in Sicherheit und fuhren zugleich hohe Gewinne ein, indem sie die Truppen weiterhin belieferten.


    Vuillard beschreibt sehr launig eine Parlamentsdebatte, in der die Möglichkeit eines Verhandlungsfriedens voller Pathos und Empörung zurückgewiesen wird, um dann schließlich doch zur Erkenntnis zu kommen, dass man einen „ehrenhaften Abgang“ aus dem Indochina-Krieg versuchen müsse. Ein „ehrenhafter Abgang“, der mit -zigtausenden von Toten, Gefangenen und Verwundeten einherging.

    Frankreich wurde unterstützt von den USA (Hintergrund: Koreakrieg, Blockbildung, Antikommunismus), und so schließt das Buch mit dem „ehrenhaften Abgang“ der Amerikaner aus Saigon: ein Desaster ohnegleichen.


    Das Buch stellt uns also ein dunkles Kapitel der französischen Geschichte vor.


    Vuillard schafft lebhafte Situationen, wenn er den Personen ihre Gedanken und Äußerungen zuschreibt, die sie so vermutlich nicht gemacht haben, aber gemacht haben könnten. Insofern ist sein Buch keine Dokumentation, sondern Belletristik.


    Aber mir hat nicht alles gefallen. Trotz des packenden Themas und der spannenden Darbietung: muss das sein, dass der Autor mit blumigen Metaphern seinem Leser das Verständnis erschwert? Da regnet es Blütenblätter vom Himmel – wieso sagt er nicht, dass hier über 2000 französische Fallschirmjäger in Dien Bien Phu landen?

    Dann wieder sind seine Ausdrücke alles andere als blumig, sondern einfach nur unangebracht und ordinär: „heiratete und machte ihr drei Bälger“. Ähnliche Textstellen finden sich immer wieder.

    Vielleicht sollte man nicht zu streng sein. In Vuillards Sprache zeigt sich sein großes Engagement, seine Verachtung und seine große Wut auf die Machenschaften von Industrie und Banken bzw. auf den heutigen Kapitalismus.


    Fazit: ein düsteres Kapitel der französischen Kolonialgeschichte. Informativ, aufrüttelnd und lesenswert!


    9/10


    ASIN/ISBN: 3751809082

    Es ist schwer, das Buch nicht zu mögen.

    Oh, das gelingt mir auch gelegentlich :):):)!

    Ich lege es mal oben auf meinen Stapel. Nach einem Schwung Sachbüchern über grässliche Zeiten tut mir ein Blick in eine Anderwelt bestimmt gut!

    ASIN/ISBN: 3608986375


    "Das Summen" habe ich mir als Hörbuch gegönnt, das kommt als nächstes dran.


    Ich habe krankheitsbedingt einen Leselauf.

    Das tut mir leid. Lieber gesund und weniger Zeit zum Lesen!

    Gute Besserung!

    Klappentext:


    Lussus brillante Darstellung des frühen italienischen Faschismus ist ein hochaktuelles Lehrstück für jede Demokratie.

    2022 jährt sich Mussolinis Marsch auf Rom zum 100. Mal. Er verlief als Farce und sollte dennoch eine verhängnisvolle Auswirkung auf die italienische und europäische Geschichte haben. Emilio Lussu, der seinen literarischen Bericht bereits zehn Jahre danach, 1932, im Pariser Exil schrieb, erlebte diese Schmierenkomödie der Macht als Oppositionspolitiker auf Sardinien. Er zeigt, wie eine improvisierte Aktion durch das Versagen der demokratischen Institutionen, durch Opportunismus und das Stillhalten des Königs Vittorio Emanuele III. schließlich Mussolinis Griff nach der absoluten Macht begünstigte. Die Tragikomödie mutierte endgültig zur Katastrophe. Lussus satirischer Witz und seine Kompetenz als Augenzeuge machen sein Buch in höchstem Maß authentisch und – bei aller Ernsthaftigkeit des Themas – zu einer äußerst unterhaltsamen Lektüre.


    Zum Autor:

    Emilio Lussu (1890 – 1975) stammte aus einer wohlhabenden großbäuerlichen Familie auf Sardinien. Nach dem Abschluss seines Jura-Studiums leistete er Kriegsdienst an verschiedenen Stellen und wurde mehrfach mit Tapferkeitsmedaillen geehrt. Nach dem Krieg kehrte er nach Sardinien zurück und gründete eine regionale Partei, die sich vor allem für die Aufteilung des Großgrundbesitzes und eine ökonomische Besserstellung Sardiniens einsetzte. Damit geriet er in den Gegensatz zu den zentralistisch ausgerichteten Faschisten, der sich nach der Ermordung des Abgeordneten Matteotti verschärfte. Lussu, inzwischen Parlamentsabgeordneter, wurde schließlich von einem faschistischen Sondergericht nach einer längeren Haftstrafe auf die Insel Lipari deportiert, von wo ihm nach 4 Jahren die Flucht nach Paris gelang. Nach Mussolinis Sturz kehrte er nach Italien zurück und kämpfte in der Resistenza gegen das nationalsozialistische Deutschland. In der Folge übte er mehrmals Minister-Ämter aus, war Abgeordneter, Mitglied des Senats und Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung.

    Lussu war verheiratet mit Gioconda (gen. Joyce) Paleotti, einer aktiven Sozialistin aus dem italienischen Hochadel.



    Mein Lese-Eindruck:


    Faschismus ist wieder in, wenn man sich die neue Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihre postfaschistische Partei Fratelli d’Italia anschaut, zuverlässig flankiert von den rechten Parteien Lega Nord und Forza Italia. Zwar bekennt sich Meloni nicht mehr öffentlich zu Mussolini, aber ihre Anhänger treten in schwarzen Hemden auf wie die berüchtigten paramilitärischen squadristi.

    2022 jährte sich der sog. Marsch auf Rom, die große inszenierte Drohgebärde Mussolinis, die letztlich auch Erfolg hat – und Emilio Lussus Bericht über die Anfänge des Faschismus wurde neu herausgegeben.


    Lussu ist nicht nur Politiker, sondern ebenfalls ein Literat, der seine Sätze zu setzen weiß. Und so erwartet den Leser ein ausgesprochen unterhaltsames und spannendes Buch, in dem Lussu die Anfänge des Faschismus aus seiner persönlichen Perspektive heraus beschreibt.


    Er erkennt sehr präzise die Quellen, aus denen sich der Faschismus speist. Da sind seiner Darstellung nach vor allem die arditi, die Kämpfer des I. Weltkrieges, die im zivilen Leben keinen Fuß mehr fassen können und eine Revolution wollen – und von Gewalt verstehen sie etwas, das war ihr Beruf. Gewalt wird daher auch das bevorzugte Mittel der Faschisten, ihre Ziele bzw. ihre Herrschaft durchzusetzen. Lussu beleuchtet auch erstaunlich klarsichtig den Einfluss, den das Futuristische Manifest von Marinetti hat, und vor allem sieht er den Einfluss des Dichter Gabriele d’Annunzio auf die jungen Hitzköpfe der Zeit und vor allem auf Mussolini. D’Annunzio konstruierte nämlich eine Art italienische Dolchstoßlegende um die Gebietszuweisungen nach dem I. Weltkrieg (konkret: es geht um die Stadt Fiume) und prägt hier den Begriff „Marsch auf Rom“ als Drohgebärde gegenüber dem Staat.


    Lussu bricht seine Erklärungen aber immer wieder herunter auf seine persönlichen Erlebnisse. Er erlebt die Verschleppung und grausame Ermordung des Abgeordneten Matteotti als Wendepunkt. Hatte sich bisher Mussolini als gesetzes- und verfassungstreuer Ministerpräsident gegeben, wendet sich nun das Blatt: er entscheidet sich für die Diktatur und die unverhohlene Gewalt, um den politischen Gegner einzuschüchtern.


    Und so erzählt Lussu von den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Cagliari, wenn die Faschisten Jagd auf Antifaschisten machen, er erzählt von Plünderungen und Gewaltexzessen, denen die Bürger eingeschüchtert zusehen müssen. Lussu muss erleben, wie Menschen dem Druck nicht standhalten können und ihre Gesinnung wechseln, wie aus erklärten Anti-Faschisten nun karrierebewusste Faschisten werden. Er wird Zuschauer bei sog. Faschistentaufen, einer Strafmaßnahme, bei denen „renitenten“ Antifaschisten literweise Rizinusöl eingetrichtert wird. Er ist Augenzeuge, wie ein 16jähriger Arbeiter, als Kommunist bekannt, von 60 squadristi in Sekundenschnelle halbtot geknüppelt wird, wie ein junger Vater mit seinem Kind auf dem Arm kurzerhand erstochen wird, weil er die Mütze nicht schnell genug abnimmt und so fort. Und immer wieder berichtet er, wie die Polizei auf Weisung von oben nichts unternimmt, sondern ganz im Gegenteil die Schlägertrupps schützt und die Antifaschisten ins Gefängnis setzt.

    Lussu selber wird wiederholt in seinem Haus belagert, sieht sich Morddrohungen ausgesetzt, muss in sein Bergdorf fliehen, muss sich verstecken, wird immer wieder angegriffen und einmal so übel zusammengeschlagen, dass er wochenlang im Krankenhaus liegt.

    Zustände, denen der König tatenlos zusieht, während Papst Pius XI. zufrieden ist: „Die Vorsehung hat ihn (Mussolini) uns geschickt, um das Volk von der Irrlehre des Liberalismus zu befreien.“


    Lussus Bericht ist nicht frei von Humor, das zeigt schon der Titel des Buches. Sein Humor ist aber ein bitterer und sarkastischer Humor. So macht er sich z. B. darüber lustig, dass Mussolini von Mailand aus agiert. Wieso nicht von Rom aus, der Hauptstadt? Für Lussu ist klar: Mailand liegt eben näher an der Schweizer Grenze!


    Mir hat Lussus Klarsichtigkeit imponiert. Er vertritt die Meinung, dass der Staatsstreich Mussolinis durch das überlegene Militär hätte verhindert werden können. Obwohl er Zeitgenosse ist und man bekanntlich hinterher immer alles besser weiß, halten seine Einschätzungen und Beobachtungen der aktuellen wissenschaftlichen Literatur stand.


    Fazit: ein lesenswerter und kurzweiliger Bericht über die Anfänge des italienischen Faschismus.


    9 von 10 Punkten

    (Punktabzug, weil ich gerne mehr über die Zeit auf Lipari gelesen hätte...)


    ASIN/ISBN: 385256865X