Beiträge von dracoma

    ASIN/ISBN: B0CN8KVVX7


    Ich habe meinen Lese-Eindruck eben eingestellt!

    Das Buch ist sicher nicht jedermanns Geschmack. Eine kraftvolle Sprache und ein Inhalt, der Zusammenhänge herstellt zwischen Natur und Umweltschutz einerseits und Nei-Kolonialismus andererseits.

    Ein Buch, das sehr nachdenklich macht.

    ASIN/ISBN: B0CN8KVVX7


    Zur Autorin (Quelle: Verlag):


    Gaea Schoeters, geboren 1976, ist eine flämische Autorin, Journalistin, Librettistin und Drehbuchautorin. 2012 hat sie den Großen Preis Jan Wauters für ihren kreativen Umgang mit Sprache gewonnen. Für Trophäe wurde sie mit dem Literaturpreis Sabam for Culture ausgezeichnet. Der Roman wurde von der niederländischen Presse sehr positiv besprochen.


    Klappentext:


    Gaea Schoetersʼ preisgekrönter Roman ist von einer außerordentlichen erzählerischen Wucht. Die Tiefenschärfe, mit der sie die Geräusche und Gerüche der Natur beschreibt, lässt einen sinnlich erleben, was einen moralisch an die Grenzen zwischen Richtig und Falsch führt. Hunter, steinreich, Amerikaner und begeisterter Jäger, hatte schon fast alles vor dem Lauf. Endlich bietet ihm sein Freund Van Heeren ein Nashorn zum Abschuss an. Hunter reist nach Afrika, doch sein Projekt, die Big Five vollzumachen, wird jäh von Wilderern durchkreuzt. Hunter sinnt auf Rache, als ihn Van Heeren fragt, ob er schon einmal von den Big Six gehört habe. Zunächst ist Hunter geschockt, aber als er die jungen Afrikaner beim flinken Jagen beobachtet … Ein Roman von radikaler Konsequenz.


    Mein Lese-Eindruck:


    Hunter White heißt der Protagonist, und der Name ist Programm: er ist der weiße Jäger. Er liebt das Jagen und wurde von frühester Kindheit von Vater und Großvater an die Jagd herangeführt. Er weiß wie jeder Jäger, dass die Jagd auch eine ethische Seite hat: der Schuss muss sitzen, eine Nachschau muss vermieden werden, und wenn ja, dann muss das Tier schnellstmöglich getötet werden, um sein Leiden abzukürzen.


    Hunter White liebt auch Trophäen, und auch seine Frau freut sich über die Präparate seiner Jagderfolge. In seiner Trophäensammlung der Big Five fehlt ihm jedoch noch ein Tier: das Nashorn. Und so verabredet sich Hunter White mit seinem Freund van Heeren zur ungesetzlichen Jagd im südlichen Afrika.


    Van Heeren ist ein Geschäftsmann, der weltweit große Landstriche aufkauft, um sie vor der Zerstörung, der Zersiedlung etc. zu retten, und so auch hier in Afrika. In seinem Gebiet liegt ein Dorf, das er unterstützt, und sein finanzieller Einsatz und sein Schutz ermöglichen es den Bewohnern, ihre Traditionen lebendig zu erhalten und wie ihre Vorfahren zu leben und zu jagen. Weil der Abschuss des Nashorns durch Wilderer nicht wie geplant abläuft, nimmt van Heeren seinen Freund auf einen Hochsitz mit, von dem aus sie die traditionelle Jagd von zwei Jungen aus dem Dorf beobachten. Hunter White, der weiße Jäger, ist fasziniert von der Naturkenntnis, der Beobachtungsschärfe, dem Eins-Sein mit der Natur, aber auch von der Schönheit der Bewegungen. Er empfindet die beiden Jungen als Teil der sie umgebenden Natur und ist sexuell erregt.


    Van Heeren beobachtet die Reaktion seines Freundes und bietet ihm daher die Big Six an – und nun entfaltet sich ein Jagderlebnis der besonderen Art. White befürchtet, dass er vom Jäger zum Gejagten wird und wird an die Grenzen seiner selbst getrieben. Am Ende durchschaut der weiße Jäger das makabre und menschenverachtende Spiel der Jagd, und er verliert seine Illusionen über den Naturschutz seines Freundes.


    Auch der Leser verliert seine Illusionen, sollte er welche gehabt haben. Schritt für Schritt erkennt er das neokoloniale Denken der weißen Protagonisten und ein perfides Abhängigkeitssystem, in dem auf beiden Seiten gegeben und genommen wird. Umweltschutz und Liebe zur Natur werden hier ins Gegenteil verkehrt, Gewissenlosigkeit und Geldgier korrumpieren die Menschen. Ethik und Moral sind lediglich die äußere Tünche.


    Das Buch besticht mit seinen grandiosen und detaillierten Naturbeschreibungen, die mit quälenden Szenen und mit fast alptraumartigen Sequenzen kontrastiert werden.

    Ein beeindruckendes Lese-Erlebnis mit einem aufwühlenden Schlussbild, das die Antwort auf die aufgeworfenen ethischen Fragen dem Leser überlässt.


    10/10 Pkt.

    ASIN/ISBN: B0CLRQKDN3



    Zum Autor (Quelle: Verlag)


    Unter dem Pseudonym Alvar Nurmi veröffentlicht der Schriftsteller Bernd Keller, Jahrgang 1980, seinen ersten Kriminalroman über Kommissar Mika Hämäläinen aus Helsinki. Der Autor lebt mit seiner Familie in der Region Freiburg. Die Figur des Kommissar Hämäläinen entstand aus seiner Liebe zu Finnland und der Freude daran, anderen Menschen eine spannende Geschichte zu erzählen.


    Klappentext:


    Das rätselhafte Verschwinden seiner Frau Niina ein halbes Jahr zuvor bestimmt noch immer das Denken und den Alltag von Kommissar Mika Hämäläinen aus Helsinki, als ein deutscher Kollege ermordet aufgefunden wird. Sven Hansen sollte die Arbeit der finnischen Beamten drei Wochen lang im Rahmen eines Austauschprogramms begleiten. Hämäläinen ahnt nicht, dass es sich dabei um eine tragische Verwechslung durch den Täter handelte, dessen Rachefeldzug gerade erst seinen Anfang genommen hat …


    Mein Lese-Eindruck:


    Der Autor liebt Finnland, und zwar so sehr, dass er sich ein finnisch klingendes Pseudonym zulegt. Mit dem Namen „Nurmi“ erinnert er an den legendären Olympiasieger Paavo Nurmi. Eine lustige Idee!


    Die Liebe des Autors zu Finnland kann jeder gut nachvollziehen, der Finnland, wenn auch nur partiell, bereist hat. Der Krimi spielt in Helsinki, und das Lokalkolorit zeigt sich weniger in den Landschaften und auch nicht in der beeindruckenden Lage Helsinkis, sondern in den Namen und vor allem der Tradition des Saunierens. Sogar während des Dienstes wird auf der Polizeistation sauniert: die Polizeistation hat eine Sauna, die pünktlich am Morgen vom Hausmeister angeschaltet wird. Erstaunlich!


    Der Krimi selber folgt dem bewährten Muster Dienst + Schnaps, also der Vermischung von Beruflichem und Privatem. Wir erfahren einiges über das nicht einfache Familienleben des Ermittlers Mika, denn wessen Frau verschwindet schon ohne Gepäck und ohne Geld?


    Die Ereignisse folgen chronologisch aufeinander, Tag für Tag. Wir erfahren jede Menge Details, vom Zähneputzen angefangen bis hin zum fehlenden Toner im Drucker und dem Baujahr seines Fords. Die tägliche Arbeit ist geprägt von Frust, von Ärger über Schlampereien der Kollegen, aber auch von schwer verständlichen Einzelgängen.


    Sprachlich überzeugt der Krimi nicht immer. Da liegen schon mal „rundliche Wangen... wie sanfte Hügel auf dem gepflegten Teint“, und Mika schmeißt teilweise mehrmals pro Seite etwas weg oder auch sich selbst aufs Bett.


    Trotzdem: Mika mit dem unaussprechlichen Nachnamen schafft das. Er geht in die Sauna, schwitzt eine Runde und löst den Fall.

    Zu meinem Vergnügen!


    07/10 Pkt.

    ASIN/ISBN: 3546100883


    Klappentext (gekürzt):


    Ein moderner Mythos, die literarische Karambolage all der konkurrierenden Geschichten in einem kolonisierten Land! Von Kibogo erzählt man sich in der Nacht am Feuer hinter vorgehaltener Hand. Leise lauscht man dem Geschichtenerzähler, der die Legenden der alten Hügel webt und der die verbotenen Geschichten noch zu erzählen weiß. Die, die Kirchenmissionare mit allen Mitteln auslöschen wollten.

    In vier verwobenen Teilen erzählt die ruandisch-französische Autorin Scholastique Mukasonga von den Wechselbeziehungen des alten ruandischen Glaubens mit dem Christentum sowie seinen Sendboten, den europäischen Missionaren.


    Zur Autorin (Quelle: Peter Hammer Verlag):


    Scholastique Mukasonga, 1956 in Ruanda in eine Tutsifamilie geboren, erlebte schon als Kind den ethnischen Konflikt zwischen Hutu und Tutsi. Sie besuchte das Gymnasium in Kigali, schloss ihre Ausbildung zur Sozialarbeiterin im Exil in Burundi ab und arbeitete für UNICEF und die Weltbank. Mit ihrem französischen Ehemann ging sie 1992 nach Frankreich, wo sie heute mit ihrer Familie in der Normandie lebt. Der größte Teil ihrer Familie fiel dem Völkermord in Ruanda zum Opfer. Für ihre Romane, die die Ereignisse in Ruanda verarbeiten, wurde die Autorin mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem „Prix Simone de Beauvoir pour la liberté des femmes 2021".


    Mein Lese-Eindruck:


    African storytelling!


    Scholastique Mukasonga flüchtete aus Ruanda nach Burundi, um dem Genozid an den Tutsis zu entgehen. Diesen Roman, in dem sie alte Erzählungen ihres Volkes aufgreift, kann man daher durchaus als ein Memoir begreifen, in dem sie ihrer verlorenen Heimat ein literarisches Denkmal setzt.


    Die Menschen in Ruanda erwarten dringend Regen. Das Land ist ausgedörrt, der Wind trocknet das Land zusätzlich aus, die Kartoffelfäule führt zu Missernten, die Menschen hungern. In dieser Situation erinnern sie sich an den legendären Königssohn Kibogo, der übernatürliche Kräfte besaß und mit seinem Opfertod sein Volk schon einmal vor dem Verhungern gerettet hatte. Die Alten erzählen nun diese Geschichten, die tief in die ruandische Geschichte zurückreichen, und als Leser hat man den Eindruck, selber im Kreis der Zuhörer zu sitzen und den Geschichten zu lauschen. Zu diesem Eindruck trägt auch die Einteilung des Buches in viele kleinere Unterkapitel bei und der eher einfache, fast märchenhafte Erzählton.


    Die rein mündliche Erzähltradition führt zu vielen Ausschmückungen, und in sehr humorvollen Szenen machen sich die alten Erzähler gegenseitig Konkurrenz, was den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichten angeht. Die jüngere Geschichte der Kolonialisierung wird aber nicht ausgeblendet, sondern mit verwoben. Sehr schön ist das Bild des westlichen Missionars, der mit einem laut knatternden Motorrad den Frieden der dörflichen Siedlung stört und das Eindringen der westlichen Lebensweise in die Traditionen Ruandas zeigt.


    Die Menschen vermischen ihre Traditionen mit den neuen des Kolonialismus, speziell der belgischen Missionare, und so entsteht die Vorstellung, dass Jesus und Kibogo identisch sind: beide haben ihr Volk gerettet, beide sind in den Himmel aufgefahren und werden wiederkommen und ein neues Reich errichten. Diese Konkurrenz von alten Mythen und Geisterglauben und dem Christentum auf der anderen Seite führt zu merkwürdigen Situationen, die die Autorin humorvoll ausmalt. Sinnfällig wird sie in der Kleidung eines Regenpriesters, der sich nicht nur mit dem Rosenkranz und Kruzifixen schmückt, sondern zur Sicherheit auch noch tierische (?) Knochen und Zähne trägt.


    Insgesamt ein humorvolles Buch, ein überaus poetisches Buch, mit wunderbaren Geschichten, die die Traditionen der ruandischen Tutsi wieder lebendig werden lassen. Ich bin begeistert!


    09/10 Pkt.

    Zur Autorin (Quelle: Verlag):


    Fang Fang ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Chinas. Sie wurde 1955 geboren und lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr in Wuhan. In den letzten 35 Jahren hat sie eine Vielzahl von Romanen, Novellen, Kurzgeschichten und Essays veröffentlicht. Stets spielten die Armen und Entrechteten in ihren Werken eine große Rolle. 2016 veröffentlichte sie den von der Kritik gefeierten Roman Weiches Begräbnis, für den sie mit dem renommierten Lu-Yao-Preis ausgezeichnet wurde.


    Klappentext (Quelle: Verlag), gekürzt:


    Dieser heute in China unterdrückte Roman machte Fang Fang bei seinem Erscheinen 1987 schlagartig berühmt: Glänzende Aussicht erzählt das Leben einer einfachen Arbeiterfamilie aus Wuhan aus Sicht des verstorbenen jüngsten Sohnes. Es ist ein drastisches Porträt: Zu elft haust die Familie in einer dreizehn Quadratmeter kleinen Hütte. Schon die Jüngsten lernen stehlen, um ihren Beitrag zum Familienleben zu leisten. Im Schatten eines Vaters, der vor allem mit der Faust erzieht, versuchen die neun Brüder und Schwestern auf je eigene Weise, den Fesseln ihrer Herkunft zu entkommen und eine bessere Zukunft zu finden.


    Mein Lese-Eindruck:


    „Das Leben war ein Ameisendasein, der Tod wie ein Staubkorn“


    Der Roman beginnt sehr eindringlich mit drei identischen Satzanfängen: „Bruder Sieben sagt“. Und schon weiß der Leser: hier gibt nicht traditionell der älteste Bruder den Ton an, sondern ein nachgeborener Sohn. Wie es zu dieser Verschiebung kommt, erzählt der Roman.


    Wie in ihrem beeindruckenden Roman „Weiches Begräbnis“ nimmt uns die Autorin mit in ihre Heimatstadt Wuhan und entfaltet das Geschehen, indem sie die Geschichte einer Familie erzählt. Eine proletarische Familie, die mit 11 Personen in einem einzigen Raum, einem Bretterverschlag von 13 qm in dem Barackenviertel von Wuhan lebt. Hier lebt die Familie dicht an dicht mit anderen ehemaligen verarmten Kleinbauern, die in die neuen Städte zogen, um Arbeit zu finden. Alle behalten sie ihre gewohnten patriarchalischen Strukturen bei: Kinderreichtum ist erwünscht, die Familie ist der Bezugspunkt, der Vater hat das Sagen, Töchter zählen nichts, und die Durchnummerierung der Söhne zeigt die hierarchische Struktur der Familie.


    Gewalt ist an der Tagesordnung: Gewalt auf der Straße, am Arbeitsplatz, in organisierten Banden und vor allem in der Familie. Besonders Bruder Sieben ist der täglichen Gewalt des Vaters schutzlos ausgesetzt. Bruder Acht stirbt mit 2 Wochen und wird von seinen Brüdern beneidet um dieses glückliche Los; er ist es, der die Geschichte seiner Familie erzählt.


    Der Leser begleitet die Familie und erlebt mit ihnen die wesentlichen Etappen des chinesischen Wegs nach dem II. Weltkrieg, wobei der Fokus auf der Entwicklung des Bruders Sieben liegt, der sich nichts sehnlicher wünscht, als „dass Vater auch ihm eine Kiste zimmern würde, in der er schlafen konnte“. Landreform, Kollektivierung. der sog. Große Sprung mit der furchtbaren Hungersnot, die Kulturrevolution ab den 60er Jahren und die Landverschickung der städtischen Jugend – all das spiegelt sich in der Geschichte der Familie. Auch die damit einhergehende Änderung der Gesellschaft zeigt sich: Bruder Sieben gelingt es, in den Parteikadern Fuß zu fassen und nun „gehört er nicht mehr der Familie, sondern der Regierung“, er hat glänzende Aussichten, so wie einige seiner Brüder auch. Und wie auch der kleine Ich-Erzähler. Die Baracken werden abgerissen und durch Hochhäuser ersetzt – glänzende Aussichten für alle Bewohner – und er wird auf einem ordentlichen Friedhof neben einem seiner Brüder begraben, „dann können sie sich Gesellschaft leisten“.

    Auch das ist eine glänzende Aussicht...


    Es ist die Art und Weise, wie Fang Fang diese Geschichte erzählt, die den Roman so eindringlich macht. In ihrem Wuhan Diary schreibt sie: „Ich habe mich bemüht, mein Hirn Stück um Stück vom ganzen Müll und Gift zu säubern, die man in der Vergangenheit in mein Hirn gequetscht hat“. Statt vorgefertigte und erwünschte ideologische Überhöhungen zu übernehmen, will sie die Ereignisse festhalten und dem Vergessen entreißen.


    Sie vermeidet dabei jede politische Note. Sie verfällt weder in den erwünschten Lobgesang noch in eine Kritik. Es gibt kein Gut und Böse, kein Falsch und Richtig, es ist keine Rede von Klassenkampf und Klassenfeinden, sie klagt nicht an und nennt keinen Schuldigen, sondern sie hält sich an das, was sie gesehen und erkannt hat. Es ist möglich, dass sie aus Angst vor der Zensur keine Urteile abgibt, immerhin hat Fang Fang hinreichend Erfahrung mit der repressiven Kulturpolitik Chinas. Aber gerade dieser Rückzug auf Fakten und ihre ambivalente Literarisierung machen den Roman packend.

    Der Roman wurde übersetzt von Michael Kahn-Ackermann, dem ehemaligen Direktor des Pekinger Goethe-Instituts, der ein sehr hilfreiches Nachwort angefügt hat.


    Fazit: Ein ungemein packender Ausflug in 20 Jahre chinesische Geschichte.


    10/10 Pkt.


    ASIN/ISBN: 3455016782

    ASIN/ISBN: 3401607448


    Klappentext (Verlag):


    Seit vor fünf Jahren plötzlich Drachen die Menschen angegriffen haben, hat sich Noahs Welt komplett verändert: Statt in die Schule zu gehen oder sich mit Freunden zu treffen, streift der 12-Jährige nun auf der Suche nach Lebensmitteln durchs völlig zerstörte New York City. Und auch das geht nur in den Monaten, in denen die Drachen Winterschlaf halten, denn im Sommer jagen sie erbarmungslos jeden, der in den Straßenschluchten unterwegs ist. Für Noah ist völlig klar, wer die Schuld daran trägt, dass sein Leben diese schreckliche Wendung genommen hat: die Drachen. Niemand ist vor ihnen sicher und niemals wird Noah sich wieder unbeschwert durch die Stadt bewegen können, niemals wieder einen Sommer im Freien verbringen dürfen.

    Doch dann trifft er auf ein junges Drachenmädchen. Zwischen den beiden entsteht eine verbotene Freundschaft – und eine gefährliche. Denn Noahs Vater versucht mit allen Kräften, die Drachen auszurotten. Kann Noah seine neue Freundin und ihre Familie retten?


    Zur Autorin (Quelle: Verlag):


    Mari Mancusi wollte immer einen Drachen als Haustier haben. Leider waren die Kosten für die Feuerversicherung ein bisschen zu hoch und ihr Haus ein bisschen zu klein, deshalb hat sie stattdessen lieber ein Buch über Drachen geschrieben. Wenn sie nicht schreibt, ist sie gerne auf Reisen, macht Cosplay, spielt Videospiele und schaut kitschige (und schaurige) Horrorfilme. Sie lebt mit Mann, Tochter und zwei Hunden in Austin, Texas.


    Unser Lese-Eindruck:


    Einer unserer kleinen Mitbewohner gehört zur Zielgruppe: K. ist 10 Jahre alt, und daher haben wir das Buch beide gelesen. K. hat das Buch zügig gelesen und begeistert davon erzählt.

    Er fand es spannend und insgesamt richtig gut. Besonders gut fand er, wie sich die Einstellung der Menschen zu den Drachen und umgekehrt ändert. Hatten sie beide vorher die Auffassung, dass die jeweils andere Partei ein Feind ist und daher vernichtet werden muss, ändert sich nun ihre Einstellung. Sie erkennen, dass sie sich ergänzen und gegenseitig das Leben leichter machen können. Diesen Perspektivenwechsel fand ich selber auch sehr gelungen, und ich denke, dass die jungen Leser hier etwas für ihr Leben mitnehmen.


    Weniger gut fand K. aber, dass Noahs Vater „so stur“ ist; ein bisschen weniger Verbissenheit hätte ihm bei der Zeichnung dieser Figur besser gefallen. Allerdings kam er selber zum Schluss, dass dann die Spannungskurve etwas abgeflacht wäre.


    Welcher Figur brachte K. die größten Sympathien entgegen? Das war eindeutig Noah. Und warum? „Weil der sich was getraut hat.“ K. hat Recht: diese Figur ist hilfsbereit, verantwortungsbewusst und entwickelt eine gehörige Portion Zivilcourage, ohne jedoch überzeichnet zu sein. Sie muss auch Misserfolge hinnehmen, aber lässt sich dadurch im Grundsätzlichen nicht beirren. Insofern bietet der Protagonist einem jungen Leser ein hohes Identifikationspotential.


    Wir waren uns einig: ein spannendes, kurzweiliges Buch mit einem tollen Cover!

    9/10 Pkt.

    ASIN/ISBN: B0C1JL43YK


    Klappentext:


    Als Stacey MacAindra ihre Heimatstadt Manawaka in der Erwartung auf ein neues Leben vor vielen Jahren verließ, rechnete sie nicht damit, einmal so zu enden: als Hausfrau mit einem abwesenden, einsilbigen Ehemann, vier Kindern und einer existenziellen Krise. Sie kann nicht glauben, dass ihr Leben nicht mehr zu bieten hat – und brennt darauf, aus der nervtötenden Routine ihrer Tage auszubrechen und die Leidenschaft ihrer Jugend wieder zu entfachen, die nur noch eine dunkle Erinnerung zu sein scheint. Auch im dritten ihrer Manawaka-Romane schenkt uns Margaret Laurence eine unvergessliche Heldin – menschlich, voller Ironie und Humor. In der Erzählung von Staceys Leben steckt der ganze Reichtum, der Schmerz und die Schönheit des Alltäglichen, und die vergessene Lebensfreude, die jeder von uns in sich trägt.


    Mein Lese-Eindruck:


    „Was ist mit uns los, dass wir nicht reden können?“

    Eine Frau in der Mitte ihres Lebens, verheiratet, ohne Beruf, Hausfrau, vier Kinder, kanadische Kleinstadt – und bis ins Innerste unzufrieden mit ihrer Situation. Ist das alles, was sie vom Leben erwarten kann? Ein Abendkurs in griechischer Mythologie brachte nicht den erhofften Aufbruch, der Smalltalk mit den Nachbarinnen erfüllt sie auch nicht, die täglichen Arbeitsabläufe erbittern und öden sie an, die Streitereien der Kinder untereinander nerven sie. Sie ist unausgeglichen und sprunghaft. Schließlich fängt sie das Trinken an und blamiert ihren aufstiegswilligen Mann übel, wenn sie betrunken schlüpfrige Witze erzählt. Kurz: sie ist eine Person, die nicht zur Identifikation einlädt.


    Als Leser kann man Verständnis für sie empfinden und das typische Leben einer Frau aus dem Mittelstand in den 50er Jahren beklagen. Man kann sich aber auch abgestoßen fühlen vom Selbstmitleid einer Frau, die aus ihrem (vermeintlich) festgefahrenen Leben ausbrechen will und es nicht schafft, ihr Leben zu ihrer Zufriedenheit zu gestalten.


    Eines aber weckt auf alle Fälle das Mitleid des Lesers: ihre Einsamkeit. Stacey leidet unter der Kommunikationsunfähigkeit ihres Mannes, ihrer Familie und ihrer Freunde. Die Gespräche bleiben unverbindlich an der Oberfläche und erschöpfen sich im Austausch von Plattitüden. Ihre Wut wächst bis hin zu gelegentlichen Gewaltfantasien, und so erklärt sich auch der Titel: das „Glutnest“ ist Staceys Inneres.


    Was den Roman aber zu einem großen Lese-Genuss macht, ist die sprachlich-stilistische Gestaltung. Der Leser nimmt direkt an Staceys temperamentvollen Gedankenkarrussell teil und folgt ihr in schöne Erinnerungen ihrer Jugend oder in Fantasien ihrer Zukunft. Die Dialoge werden zusammenmontiert mit Liedtexten und Kinderreimen, mit Fetzen aus der Fernsehwerbung und auch mit Nachrichten, die Staceys kleine Befindlichkeiten im Großen widerspiegeln. Gegenwart, Vergangenheit und eventuelle Zukunft werden miteinander vermischt, aber ohne dass der Leser Orientierungsprobleme hat. Dazu gelingen der Autorin wunderbar bissige Schilderungen z. B. einer Art Tupperparty im Nachbarhaus.


    Diese Mischung aus Sarkasmus und Ernst macht den Roman so wohltuend menschlich.

    Lese-Empfehlung!


    09/10 Pkt.

    Ich bin schon ein Murakami-Fan, ich habe früher ganz viel von seinen Büchern gelesen.

    Beim Aufräumen habe ich gestern ein älteres Buch

    ASIN/ISBN: 3832178996

    gefunden, und weil mir "Die Pilgerjahre" ganz gut gefallen haben, werde ich das demnächst lesen.

    Ich hatte ganz vergessen, wie wunderbar er erzählen kann.


    Was David Nathan angeht: ich habe einige Hörbücher mit ihm gehört und war sehr zufrieden. Vorlesen ist ja nicht nur, dass einer den Text herunterliest, sondern immer schon eine Art Interpretation.


    Wieso er hier bei diesem Roman die Satzkurve so oft nach oben führt, weiß ich auch nicht. Bei anderen Hörbüchern ist mir das nicht aufgefallen.

    Ich könnte nicht sagen, dass der Roman bisher mein absolutes Highlight ist, aber ich höre ihn doch sehr gerne und bin immer wieder begeistert von den Ideen und schönen Sätzen und natürlich auch von David Nathan

    Ich glaube auch nicht, dass ich ein Murakami-Fan werde, aber mir gefällt diese Leichtigkeit, mit der Murakami erzählt, und auch die Fantasie, die er entwickelt. Und dann erfindet er Figuren wie diesen unwirklichen Herrn Koyasu, den man einfach gern haben muss.

    Ich wünsche Dir viel Spaß beim Weiterhören!


    Mit David Nathan war ich nicht so zufrieden, weil er die Satzenden zu oft in der Luft hängen lässt, aber ich habe mich daran gewöhnt.

    ASIN/ISBN: B0CL5LH2HX


    Begeistert in dem Sinne, dass ich vor Glück herumhüpfe, hat mich das Buch nicht. Im Gegenteil: mich hat einiges gestört, z. B. die vielen Wiederholungen und auch diese merkwürdig unverbindlichen Frauengestalten, nicht Fisch und nicht Fleisch.

    Aber das Buch spielt so wunderschön mit den Realitäten, dass man am Ende wirklich überlegt, ob es nicht neben unserer sichtbaren Welt noch andere Realitäten gibt - in unserem Unterbewusstsein, in unseren Träumen -, in die man eindringen kann und in denen man leben kann.

    Der Roman schwebt wie eine Seifenblase, schillernd, aber nicht zu greifen.

    Und Murakami kann einfach sehr sehr schön erzählen.

    ASIN/ISBN: B0CL5LH2HX


    Klappentext:


    Eine geheimnisvolle Bibliothek in einer ummauerten Stadt am Ende der Welt, die nur betreten kann, wer seinen eigenen Schatten zurücklässt: Hier lebt das wahre Ich des Mädchens, in das sich der namenlose Erzähler mit siebzehn Jahren unsterblich verliebt. Er macht sich auf die Suche, gelangt in die Stadt, doch das Mädchen erkennt ihn nicht mehr.

    Unter rätselhaften Umständen gerät der Erzähler zurück in die Welt jenseits der Mauer. Er zieht nach Tokio, arbeitet im Buchhandel, hat wechselnde Freundinnen. Die Erinnerung an das Mädchen und die ummauerte Stadt lässt ihn nicht los. Schließlich kündigt er und nimmt eine Stelle in einer alten Bücherei in der Präfektur Fukushima an. Die Realität gerät knirschend ins Wanken – und der Erzähler muss sich fragen, was ihn an diese Welt bindet.

    Ein melancholischer, zärtlicher und philosophischer Roman über eine verlorene Liebe, Selbstfindung und die Möglichkeit, Mauern zu überwinden – bewegend gelesen von David Nathan.


    Mein Hör-Eindruck:


    „An jenem Sommerabend wanderten wir, den süße Duft von Gräsern atmend, flussaufwärts. ... Das klare kühle Wasser umspülte unsere Knöchel, und unsere Füße sanken tief ein in den feinen Flusssand – wie in weiche Wolken wie in einem Traum. Ich war siebzehn, du ein Jahr jünger.“


    So poetisch beginnt Murakamis neuer Roman: mit den Erinnerungen ein eine Jugendliebe, die er zeit seines Lebens nicht vergessen kann. Die Suche nach dieser Jugendliebe ist der Motor des Romans. Das namenlose Mädchen ist es nämlich, die ihm von der „Stadt mit den ungewissen Mauern“ erzählte. In dieser Stadt lebe ihr wahres Ich, hier auf dieser Welt sei sie nur ein Schatten dieses Ichs.


    Die Sehnsucht nach dem Mädchen und der geheimnisvollen Stadt macht den Protagonisten zu einem einsamen und ständig suchenden Menschen. Die Stadt wird bewacht von einem mächtigen Wächter – man denkt an Kafka. Sie wird beherrscht von einer großen Bibliothek, kann nur von goldenen Einhörnern und von Menschen ohne Schatten betreten werden. Auch das Motiv ist bekannt, z. B. aus Volksmärchen und Adalbert v. Chamissos „Peter Schlemihl“: der Menschen verkauft seinen Schatten an eine übernatürliche Macht, um Vorteile – Geld, ewiges Leben – zu erlangen. Der Vorteil in diesem Roman besteht darin, in eine andere Realität zu gelangen und eine andere Identität zu leben.


    Mit diesen Realitäten beginnt der Autor ein fein konstruiertes Spiel. Beide Realitäten bestehen nebeneinander. Die eine ist geprägt von der Zeit, die andere nicht; in ihr hat der Uhrturm keine Zeiger und das Ablaufen der Zeit ist aufgehoben. Eine weitere Realität erschafft er mit dem Inventar der Bibliothek: hier werden Träume gesammelt, und das Traumlesen wird zur Lebensaufgabe des Protagonisten. Der Inhalt der Träume? Das lässt der Autor offen.


    Mit den Realitäten verbunden sind die verschiedenen Bewusstseinsebenen, die Frage nach dem Ich und dem zweiten Ich, dem Schatten-Ich, Verschwinden und Materialisieren, Geister und reale Menschen, und alle diese Ebenen vermischt der Autor mit leichter Hand. Dadurch erhält der Roman eine merkwürdig schwebende Konsistenz, wie Seifenblasen, die in der Luft schweben und nicht eindeutig zu fassen sind. Die vielen Wiederholungen, v. a. bei den Erinnerungen an das junge Mädchen seiner Jugend, tragen zu diesem Eindruck bei; sie wirken wie ein Singsang, der den Leser einlullt. Etwas weniger Wiederholungen hätten dem Roman aber durchaus gutgetan.


    Ausgesprochen witzig fand ich daher, wie der Autor einen Kontrapunkt schafft und die uns bekannte Realität in den Roman hineinholt: der Protagonist kauft ein, er wäscht und bügelt seine Hemden und gibt sich allen möglichen Haushalts-Tätigkeiten hin – und zwar immer montags. Sein Alltag ist also streng geordnet und der Zeit unterworfen, und umso schwebender werden die anderen Realitäten.


    Das Hörbuch wurde eingelesen von David Nathan. Sein Vorlesen erleichtert den Zugang zum Roman. Seine Art, sehr oft am Satzende die Stimmkurve nach oben zu führen, verleiht dem jeweiligen Satz etwas Offenes und Fragendes. Das kann einen stören. Man kann diese schwebenden Satzenden aber auch als Interpretation sehen, passend zum schwebenden Inhalt.


    Fazit: ein langatmig komponierter Roman mit großer Sogkraft! Und einfach nur schön erzählt.


    08/10 Pkt.

    Zu Autor, Illustrator und Übersetzer (Quelle: Verlag):


    Timo Parvela (geboren 1964) ist ein vielfach preisgekrönter finnischer Kinderbuchautor. Seine Werke wurden in mehr als dreißig Sprachen übersetzt.

    Pasi Pitkänen (geboren 1984) studierte Grafikdesign an der Aalto-Universität. Er hat für seine Illustrationen zahlreiche Preise gewonnen, und die von ihm illustrierten Bücher wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt.


    Stefan Moster, geboren 1964 in Mainz, lebt als Autor, Übersetzer, Lektor und Herausgeber in Berlin. Er unterrichtete an den Universitäten München und Helsinki. 2001 erhielt er den Staatlichen finnischen Übersetzerpreis, 2022 wurde er mit dem Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und dem Jane-Scatcherd-Preis ausgezeichnet.


    Klappentext:


    Ein Junge verkauft seinen Schatten …

    Der 13-jährige Pete ist verzweifelt. Seine beste Freundin Sara ist unheilbar krank. Als letzten Ausweg flüstert Pete dem Weihnachtsmann im Kaufhaus seinen sehnlichsten Wunsch ins Ohr. Er erhält das Versprechen, dass Sara geheilt wird, aber unter einer Bedingung: Pete muss seinen Schatten hergeben. Pete zögert keine Sekunde. Wer braucht schon einen Schatten? Der Plan geht auf und Sara wird über Nacht gesund. Aber bald stellt Pete fest, dass er nicht nur seinen Schatten verloren hat, und dass ein Mensch ohne Schatten kein richtiger Mensch mehr ist. Pete und Sara schmieden einen Plan, wie sie die Schatten zurückerobern können. Aber ihr Gegner ist eine sehr, sehr dunkle Macht ...


    Mein Lese-Eindruck:


    Pete, 13 Jahre alt, hat nur einen einzigen Weihnachtswunsch: seine Freundin Sara soll wieder gesund werden. Sara leidet an einer rätselhaften Krankheit und wird zusehends kränker, alle rechnen mit ihrem Tod. Für ihre Gesundung gibt er gerne seinen Schatten her.


    Timo Parvela spielt hier mit einem altbekannten Motiv: dem Verkauf des Schattens an eine übernatürliche Macht. Und folgerichtig setzt sich die Handlung im nächsten Kapitel nun auf einer übernatürlichen Ebene fort. Der Leser lernt die Schattenflickerin Uudit kennen und taucht ein in die Welt der Trolle, der Wichtel und der Gnome. Diese Anderwelt bereichert der Autor noch um den Mythos des Weihnachtsmannes, der hier recht ungewohnt auftritt.


    Die Geschichte lebt von diesen beiden Erzählebenen: der realen und der fiktiven. Beide Erzählebenen werden behutsam und ausgesprochen phantasievoll miteinander verschränkt und durchdringen sich gegenseitig.


    Petes Suche nach seinem Schatten wird eine spannende Geschichte, die er nur mit Hilfe von Freunden bewältigt. Dabei erlebt Pete auch die selbstlose Freundschaft eines Jungen, dem er zunächst eher ablehnend gegenüberstand. Auch in der Anderwelt – z. B. bei der Schattenflickerin Uudit - gibt es diesen Wunsch, der den jugendlichen Lesern aus der Seele sprechen wird: der Wunsch dazuzugehören und Teil einer Gemeinschaft zu sein.


    Das Buch spielt mit leichten Grusel-Effekten, wie man sie auch bei der Anderwelt erwartet, aber mit seinem Humor wird jeder Gruselschreck abgemildert, sodass vermutlich kein Kind um seinen Schlaf gebracht wird. Zur Abmilderung tragen auch die einfach nur wunderschönen Illustrationen bei, die gleichzeitig den Eindruck der Unwirklichkeit verstärken.

    Die Handlung lässt viele Fragen offen. Das Buch ist offensichtlich so konzipiert, dass man den Folgeband lesen muss. Vermutlich wird sich dann auch die Bedeutung des eindrucksvollen Covers erklären.


    07/10 Pkt.


    ASIN/ISBN: 3845850825

    ASIN/ISBN: 3039260650




    Klappentext (Quelle: Verlag)


    In seinem autobiografischen Roman schildert Jakob Senn mit umwerfendem Charme das Heranwachsen des Hans Grünauer, eines Bauernsohns, der früh an den Webstuhl gesetzt wird, um zum Unterhalt der Familie beizutragen. Seine Leidenschaft aber gilt den Textgeweben: Süchtig liest er jedes gedruckte Wort, das er auftreiben kann, und bald beginnt er, selbst zu schreiben, mangels Papier auf jede erdenkliche Unterlage, von der Hemdmanschette bis zum Webstuhlrahmen.


    Zum Autor (Quelle: Verlag):


    Jakob Senn (20.03. 1824– 02.03.1879), geboren in Fischenthal, Kanton Zürich. Nach dem Besuch der Primarschule Arbeit auf dem väterlichen Hof. Erste literarische Versuche mit zwanzig Jahren, Bekanntschaft mit dem Volksschriftsteller Jakob Stutz. 1856 angestellt in einem Zürcher Antiquariat, ab 1862 freier Schriftsteller, 1864 Heirat und Übersiedlung nach St.Gallen. 1867 Ausreise nach Südamerika, Rückkehr 1878, 1879 Freitod in der Limmat.


    Mein Lese-Eindruck:


    Jakob Senn ist ein Schriftsteller, der im Schweizer Oberland und Zürich als Volksschriftsteller sicherlich eher bekannt ist als im übrigen deutschsprachigen Raum. Umso schöner ist es, dass der Limmat-Verlag zum 200. Geburtstag Jakob Senns sein Hauptwerk neu herausgibt.


    Der Roman erinnert schon im Titel an ein berühmtes Werk eines weitaus berühmteren Kollegen: an den Entwicklungsroman „Der Grüne Heinrich“ von Gottfried Keller. Auch Senns Roman trägt deutliche autobiografische Züge. Der Leser wird versetzt in die Mitte des 19. Jahrhunderts, in ein kleines Dorf im Töss-Tal in der Nähe von Zürich. Hier wird Hans Grünauer, das Alter Ego Senns, in eine Kleinbauernfamilie hineingeboren, darf fünf Jahre lang zur Schule gehen und muss dann am Webstuhl und mit harter Arbeit in der Landwirtschaft zum Unterhalt der Familie beitragen. Trotz seiner entbehrungsreichen Kindheit gibt er seine Liebe zu Büchern und zur Dichtkunst nicht auf. Er liest, was ihm in die Hände fällt, und das ist überwiegend fromme Erbauungsliteratur. Seine Eltern, vor allem seine Stiefmutter, machen ihm als Nichtsnutz das Leben schwer, aber in seinem Bruder Jakob findet er eine gleichgestimmte Seele und einen lebenslangen treuen Freund.


    Die Krisen der Zeit wie das Aufeinanderprallen von protestantischen Liberalen und katholischen Demokraten, die schlimme Hungersnot Mitte der 40er Jahre und die Gründung des Bundesstaates fließen nur am Rande in den Roman ein. Der Autor konzentriert sich auf die literarische Entwicklung seines Helden. Im Lauf der Zeit findet Hans Förderer für sein autodidaktisches Lernen, und recht launig beschreibt er z. B. den geldgierigen Dorfapotheker oder den schrulligen Volksdichter Zellberger, der als Eremit lebt und einen Kreis von ergebenen Jüngern um sich schart.

    Ausgesprochen burlesk ist auch die Geschichte seiner erzwungenen Brautschau, und von seinem Freigeist zeugt z. B. seine Beobachtung, dass die meisten medizinischen Werke zur Frauenheilkunde von Priestern geordert werden.


    Was den Roman so lesenswert macht, ist nicht nur diese besondere Biografie, sondern auch der Blick in die Zeit. Das harte Leben der Kleinbauern, die langen Fußwege bei Wind und Wetter, die bigotte Frömmigkeit und das pietistische Frömmlertum, Entbehrungen, das unzureichende Schulwesen, dörfliche Bräuche und vieles mehr lässt Senn vor seinem Leser auferstehen. Trotz der Härte des Lebens – „keine Blumenpfade“- findet der Autor einen humorvollen und immer versöhnlichen Ton.

    Das Nachwort liefert hilfreiche Informationen zu Jakob Senn.


    10/10 Pkt.

    ASIN/ISBN: B0CNPXB9LR



    Klappentext (Quelle: Wallstein Verlag):


    Das Porträt einer Generation und ein packendes Stück deutscher Geschichte. Eine Jugend in Deutschland, voller Hoffnung und voller Enttäuschung: Als Freiwilliger zieht Ernst Toller begeistert in den Ersten Weltkrieg und kehrt, für kriegsuntauglich erklärt, als bekennender Pazifist zurück. In München schlägt er sich im November 1918 auf die Seite der Revolution, wird zum Anführer der Räterepublik und erlebt deren tragisches Scheitern. Er wird geächtet, festgenommen und zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Als er im Juli 1924 das Gefängnis verlässt, ist Ernst Toller eine internationale Berühmtheit. In seinem aufrichtigen, meisterhaft lakonisch erzählten Buch beschreibt der Schriftsteller die ersten dreißig Jahre seines Lebens – ein Klassiker der autobiographischen Literatur und ein Schlüsseltext zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.


    Zum Autor (Quelle: Wallstein Verlag):


    Ernst Toller (1893-1939) Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus Samotschin (Posen), Studium in Grenoble, kehrte 1914 als Kriegsfreiwilliger nach Deutschland zurück, wandelte sich 1916 zum Kriegsgegner, unter dem Einfluss von Kurt Eisner und Gustav Landauer wurde er zum Vertreter eines »ethischen« Sozialismus. Beteiligung an der Münchner Räterepublik, fünf Jahre Festungshaft, 1933 wurden seine Werke in Deutschland verboten, er emigrierte daraufhin über England in die USA, wo er sich 1939 das Leben nahm.

    Werke u. a.: Die Wandlung (1919), Masse Mensch (1920), Hinkemann (1923), Hoppla, wir leben! (1927), Eine Jugend in Deutschland (1933), Briefe aus dem Gefängnis (1935).


    Mein Hör-Eindruck:


    Tollers Aufzeichnungen umfassen die Jahre 1893 bis 1939, und schon in den ersten Sätzen macht er klar, um was es ihm geht: seine persönliche Geschichte ist für ihn typisch für seine Generation in dieser Zeit.


    Aufgewachsen in wohlhabenden Verhältnissen, genießt er eine unbeschwerte Kinderzeit. Allerdings erhält er durch seinen Kinderfreund Einblick in andere, kargere wirtschaftliche Verhältnisse, und die ungleiche Verteilung von Geld und Wohlstand beschäftigt ihn. Die Antwort seiner Mutter „Gott will das so“ beruhigt ihn zunächst, aber nicht auf Dauer, und die Beseitigung dieser und anderer Ungleichheiten wird zu seiner Lebensaufgabe werden.


    Toller erzählt von der großen Kriegsbegeisterung, mit der seine Generation in den I. Weltkrieg gezogen ist. Im Feld aber kommt die große Ernüchterung er entwickelt sich zum leidenschaftlichen Pazifisten. Weil er als Kriegsursache das Streben der Hochfinanz nach Bodenschätzen und Gewinn erkennt, wendet er sich dem Sozialismus zu.


    Sehr lebhaft beschreibt er in der Folge die Revolution, die Bildung der Arbeiter- und Soldatenräte und er bedauert das Zaudern der Revolutionäre vor institutionalisierten Machtstrukturen, die eine gründliche Umwälzung verhindern und das Erstarken der Konterrevolution begünstigen. Das Scheitern der Räterepublik, der Wirrwarr der Revolution, die blutigen Kämpfe zwischen Weiß- und Rotgardisten – Tollers Erzählungen und die eingefügten Augenzeugenberichte lassen diese unruhige Zeit lebendig werden. Ebenso lebendig in ihrer Grausamkeit und ihrer Menschenverachtung wird die Zeit der 5jährigen Festungshaft.


    Toller ist ein außergewöhnlicher Mensch, ein leidenschaftlicher und dabei hoch moralischer Mann. Er weiß inzwischen, dass die Aussage seiner Mutter „Gott will es so“ nicht stimmt, und er setzt seine ganze Energie und Wortgewalt ein für eine Zukunft frei von Ungleichheiten, frei von Kriegen und Nationalismus, und für eine Zukunft, in der das Recht unparteiisch ist und nicht, wie er es erlebt hatte, ein Instrument der Macht. Sehr scharfsichtig erkennt er Hitler als einen üblen nationalistischen Agitatoren, der einer solchen Zukunft im Wege steht.


    Seine Erinnerungen sind zugleich ein Memento Mori für seine ermordeten Weggefährten, allen voran Eisner, Landauer, Leviné und Erich Mühsam.

    Tollers Leidenschaft wird vom Sprecher Richard Barenberg äußerst wirkungsvoll in Sprache umgewandelt.


    Hörenswert!!

    10/10 Pkt.

    ASIN/ISBN: 3772530222


    Irland zur Zeit der Großen Hungersnot - keine leichte Kost. Auch sprachlich keine leichte Kost, weil der Autor ganz konsequent die Perspektive des jungen Mädchens Grace wahrt. Sie ist erst 14 und sie beschreibt das Leben auf der Straße, die streunenden halbverhungerten Kinderbanden, die gespenstischen Züge der hungernden Menschen und so fort.

    Sprachlich und inhaltlich ein sehr wuchtiges Buch.

    ASIN/ISBN: 3772530222


    Klappentext (Verlag):


    Es begann damals 1845. Aber Grace, die einzigartige Heldin des Iren Paul Lynch, ist vollkommene Gegenwart in diesem bildreich-poetischen Roman, der mit ihren Sinnen und Gefühlen die grausame Wirklichkeit der großen Hungersnot erleben lässt.

    Grace, vierzehn, wird in Männerkleidern von zu Hause fortgeschickt, um irgendwo Arbeit, irgendwie Nahrung zu finden in einem Land, wo jeder danach sucht. Ihr zur Seite: der jüngere Bruder Colly. Seine muntere Stimme in ihrem Kopf. Und verschiedene andere merkwürdige Begleiter. Wer wird sie sein, wenn sie diese Wanderschaft durchsteht?

    Ein historischer Roman abseits der Norm, von großer sprachlicher Schönheit und mit einer unvergesslichen Protagonistin.

    Für seinen Roman ›Prophet Song‹ wurde Paul Lynch mit dem Booker Prize 2023 ausgezeichnet. ›Grace‹ ist derzeit der einzige in deutscher Sprache vorliegende Roman des Preisträgers!


    Zum Autor (Verlag, gekürzt):


    Paul Lynch, 1977 in Limerick geboren und im County Donegal aufgewachsen, wurde für seine Romane ›Red Sky in Morning‹ (2013), ›The Black Snow‹ (2014) ›Grace‹ und ›Beyond the Sea‹ (2019) vielfach ausgezeichnet. Für seinen jüngsten Roman ›Prophet Song‹ (2023) erhielt er den Booker Prize. Paul Lynch lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Dublin.

    ›Grace‹ ist derzeit der einzige in deutscher Sprache vorliegende Roman des Preisträgers.

    Christa Schuenke, geboren 1948 in Weimar, ist frei- und hauptberuflich als literarische Übersetzerin aus dem Englischen tätig.


    Mein Lese-Eindruck:


    Der Roman versetzt uns in das Irland der Großen Hungersnot in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Über fünf Jahre hinweg fielen die Kartoffelernten aufgrund der sog. Kartoffelfäule aus und führten zu einer katastrophalen Hungersnot, die durch die englischen Exporte und fehlende Hilfsmaßnahmen noch verschärft wurde.


    Grace, gerade 14 Jahre alt, wird von ihrer Mutter als Junge verkleidet auf den Weg gebracht: sie soll sich Arbeit suchen und für sich selber sorgen. Grace liebt ihre kleinen Brüder und trennt sich schwer von ihnen, aber Colly, einer der Brüder, begleitet sie heimlich.


    Was nun beginnt, ist eine Odyssee durch das hungernde Land. Immer durch Graces Augen sieht der Leser die Not der Menschen: Bettelnde und heruntergekommene Menschen, die ihren Besitz und sich selbst verkaufen für einen Penny oder ein Stück Brot; verwahrloste und halb erfrorene Kinder, verhungerte Menschen in Straßengräben, gespenstische Kolonnen von Hungernden, die durchs Land ziehen, verwahrloste Kinderbanden. Gras, Vogelmiere, Kräuter – alles wird gegessen, Haustiere sowieso, und die Vögel werden vom Himmel geholt. Und immer gegenwärtig die Angst vor den Constablern und die Angst, als Diebin am Galgen zu enden.


    Der Hunger lässt die Menschen verrohen, niemand ist sicher vor seinem Mitmenschen, und Grace muss mit ihrem Messer ständig auf der Hut sein vor Diebstahl und Übergriffen. Die seltenen milden Gaben von wohltätigen Reichen sind nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein, sondern sie rufen bei Grace auch einen unbändigen Hass hervor auf die Nutznießer der Hungersnot. Der Hass wird gesteigert, wenn sie sieht, wie die reichen Bauern ihren Besitz sichern. Sie schrecken dabei vor Mord und Totschlag nicht zurück und lynchen auch halbverhungerte Kinder. Der Wolf ist des Menschen Wolf geworden.


    Auch Grace verroht, der Hunger macht sie mitleidlos und hart. Sie stiehlt, sie schlägt, sie setzt ihr Messer ein, sie schüttelt bettelnde Kinder von ihrem Arm. Aber sie leidet unter ihren Taten, und die Toten kommen als Hungerhalluzinationen zu ihr, sodass sie schließlich Traum und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten kann.

    Der Autor wahrt streng die Perspektive des jungen Mädchens, und damit macht er es dem Leser nicht immer leicht. Grace ist noch ein Kind, sie versteht einiges nicht, und so bleibt es dem Leser überlassen, sich das Geschehen zusammenzureimen. Mit diesen Leerstellen gelingen dem Autor aber auch äußerst anrührende Stellen, z. B. im Zusammenhang mit dem geliebten kleinen Bruder, mit dem sie auch nach dessen Tod ständige Zwiesprache führt.


    Ein sprachlich dichter Roman, düster, lyrisch und poetisch, allerdings mit Längen.


    09/10 Pkt.

    Julia Nachtmann liest die Geschichte sehr gut, ich zumindest bin mehr als zufrieden.

    Ich auch. Sie liesrt perfekt.

    Bei dieser Lesung handelt es sich ja um die gekürzte Fassung.

    Ich denke, das hat der Geschichte nicht geschadet.

    Das sehe ich auch so :), vermutlich gibt es bei der ungekürzten Fassung noch mehr Wiederholungen und Zusammenfassungen. Jedenfalls hatte ich wegen der Kürzung keinerlei Verständnisprobleme.

    Normalerweise höre ich nur ungekürzte Hörbücher, hier habe ich es übersehen.