Bei
der Lektüre von Kafkas Erzählungen – oder wenn wir uns später an
sie erinnern – konzentrieren wir uns leicht auf die surrealen
Elemente. Da sind die Tiere – ein Riesenkäfer, ein Hund, Mäuse
oder ein Affe -, die, obgleich keineswegs vermenschlicht, doch mit
scharfem menschlichem Verstand ausgestattet sind. Sie analysieren
sich selbst in ihrer Tierhaftigkeit und lassen zugleich die
verwandten animalischen Züge des Menschen zutage treten. Oder die
phantastischen, stets fruchtlosen Zeitabläufe, etwa „Beim Bau der
Chinesischen Mauer“ oder „Vor dem Gesetz“; die unglaubliche
Kunst des „Hungerkünstlers“; die anscheinend mit Willen und
Bewusstsein ausgestatteten Spielbälle in „Blumfeld, ein älterer
Junggeselle“. Es ist zu Recht oft bemerkt worden, dass solche
Sequenzen Traumcharakter haben. Sie sind wie Alpträume, die in ihrer
konkreten Ausgestaltung hyperrealistisch wirken, so sehr, dass wir
lesend erschrecken, als hielten wir träumend den Schrecken für
real.
Daneben gibt es den Kafka, der die, häufig banale,
Realität des menschlichen Lebens auf ihrer alltäglichen
ökonomischen, psychologischen oder sonst wie gelagerten Ebene so
akkurat, ja übergewissenhaft und dabei mit größtmöglicher
stilistischer Brillanz darstellt, bis wir glauben, das quälend
Realistische wäre ein Alptraum und wir eben aus ihm aufgewacht. Für
dieses Verfahren stellt die kurze, erst posthum veröffentlichte
Erzählung „Das Ehepaar“ ein gutes Beispiel dar. Der Text
verzichtet auf Surreales vollständig. Der Ablauf ist mehr oder
weniger alltäglich, bis auf den Plot, der einer heutigen
Kurzgeschichte noch gut anstünde, gäbe es die von Kafka nicht
bereits.
Der Ich-Erzähler ist ein Geschäftsmann und
berichtet vom Aufsuchen eines Geschäftsfreundes in dessen
Privatwohnung. Mit wenigen Worten wird die allgemeine Wirtschaftslage
angedeutet: Depression und Labilität bestimmen sie. Der
Geschäftsfreund ist ein leidender alter Mann. Der Erzähler trifft
ihn an, wie er gerade mit seiner Gattin von einem Spaziergang
heimgekehrt ist. Man begibt sich in das Zimmer des Sohnes, der
gleichfalls krank ist. An dessen Bett sitzt bereits, zum
Missvergnügen des Erzählers, ein geschäftlicher Konkurrent, der im
Erzähler wie im Sohn sublime ambivalente Regungen hervorzurufen
scheint. Es folgen die scheinbar sinnentleerten Reden oder Handlungen
der männlichen Akteure, bis der alte Mann plötzlich alle Anzeichen
einer Agonie aufweist und dann tatsächlich tot zu sein scheint. Die
hilflose Verlegenheit der drei übrigen Männer endet, als die
vermeintlich Witwe Gewordene aus einem Nebenraum zurückkehrt und den
vermeintlich Toten als nur schlafend bezeichnet. In der Tat verhält
es sich so, und aufgewacht entfaltet der Alte sogleich eine
unangenehme Rührigkeit. Der Erzähler sieht ein, dass hier kein
Geschäft mehr zu machen sei, und tritt den Rückzug an.
Der
Text wäre nicht von Kafka, wenn er nicht voller Anspielungen und
Deutungsmöglichkeiten steckte. So fällt auf, dass der Sohn („ein
Mann in meinem Alter“) Symptome von Tuberkulose haben könnte –
Kafka war selbst zum Zeitpunkt der Niederschrift unheilbar an ihr
erkrankt. Der alte Geschäftsfreund verweist mit seiner Mischung aus
Hinfälligkeit und Dominanz auf Kafkas eigenen Vater. Wenn der Sohn
dem Erzähler mit der Faust droht, um ihn gegenüber dem Vater zum
Schweigen zu bringen, verrät sich damit möglicherweise ein innerer
Konflikt des Schreibenden. In diesem Fall wären Sohn und Erzähler
identische Figuren, verschieden nur wie Freudsche Instanzen. Der
Erzähler vermerkt dazu passend zur alten Gemahlin, „dass sie mich
ein wenig an meine Mutter erinnere“. Überdies ist die Aufspaltung
einer Person dem Autor Kafka nicht fremd. Schon in
„Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“ bleibt Raban im Bett
liegen und sagt sich: „Ich schicke meinen angekleideten Körper.“
Andere Details können als sexuelle Anspielungen
verstanden werden: das Gefuchtel des Konkurrenten mit seinem Hut –
„in seinem schönen, offenen, aufgebauschten Mantel saß er
großmächtig da“ - als exhibitionistische Geste, fraglich nur wem
gegenüber; die intensiven Bemühungen der alten Frau um den Pelz des
Gatten – „unter dem sie fast verschwand“ – als Liebesspiel
unter Senioren; und wenn der Alte sich nach seinem Erwachen aus dem
todesähnlichen Schlaf zur weiteren Erholung einfach zum
schwerkranken Sohn ins Bett legt, in die Zeitung schaut und
gleichzeitig die zwei Besucher barsch abfertigt, so haben wir damit
den restituierten Patriarchen vor uns, der den ödipalen Zweikampf
wie den geschäftlichen für sich entschieden hat. Die Fülle der
Interpretationsmöglichkeiten ist hiermit bloß angedeutet.
Ums
Geschäftsleben geht es in diesem Kafka-Text am wenigsten. Womöglich
ist „Geschäft“ nur eine Chiffre für Produktion und Vertrieb
eigener literarischer Werke, Kafkas Hauptberuf nach seinem
Verständnis, das Kafka senior durchaus nicht teilte. Stärker
schimmert die häusliche familiäre Konstellation durch, wenn auch
bearbeitet und gegenüber dem Original variiert, auf jeden Fall ein
Alt-Prager Neurosen-Gärtlein. Darauf und auf den fließenden
Übergang zwischen Traum und Realität bezieht sich schon jene
berühmte Briefstelle in der Korrespondenz mit Max Brod: „Ich jause
im Garten.“ Das hörte der aus einem Nachmittagsschlaf eben
erwachte junge Kafka eine Nachbarin seiner Mutter draußen zurufen,
und er resümiert gegenüber Brod später: „Da staunte ich über
die Festigkeit, mit der die Menschen das Leben zu tragen wissen.“
Dieses Erstaunen über die Leidensfähigkeit beim Erdulden des für
ihn kaum Erträglichen ist eine der Triebfedern der Kafkaschen
Produktivität: Leben scheint ihm wie Alpträumen und Alpträume wie
gelebtes Leben, beides nur schreibend zu ertragen.
Bei
der Kafka-Lektüre lohnt es sich, das Hauptaugenmerk von den
phantastischen Elementen ab- und den realistischen zuzuwenden. Es
kann die Entschlüsselung erleichtern, die gleichwohl zu bewältigen
ist. „Das Ehepaar“ – der Titel ist nicht von Kafka, sondern von
Max Brod – stellt sich dann als kurzes familiäres Drama heraus, in
dem auf ein paar Seiten in verhüllter Form die großen Schrecken der
modernen Kleinfamilie behandelt werden: erzwungene Nähe, Konkurrenz,
Versagen und Versagung, Frustration …