ZitatAlles anzeigenOriginal von Pelican
@ Charlotte
ich hatte bei dieser Szene den Eindruck, daß Du es bewußt darauf anlegst, daß der Leser ahnt, worauf es hinauslaufen wird und Du dies auch insbesondere durch die Darstellung der Person, durch Charakterisierung nach einem bestimmten Klischee erreichst.
Sehe ich das richtig oder liege ich da falsch? Und wenn das so ist, warum entscheidest Dich für diesen Weg und überraschst den Leser nicht damit, daß eine Figur sich so zeigt, der man das praktisch gar nicht zutraut?
Hallo Pelican,
zu der Szene wollte ich schon die ganze Zeit was sagen, wollte aber abwarten, bis eine konkrete Frage dazu kommt.
Für mich war das die schwerste Szene in dem ganzen Roman, schlimmer als all die Sterbeszenen. Ich konnte sie zuerst überhaupt nicht schreiben und habe, was ich sonst nie tue, die Ausführung an dieser Stelle ausgespart und sie erst in Angriff genommen, als das Buch fertig war. Normalerweise schreibe ich strikt chronologisch, Szene für Szene, entsprechend meinem Kapitel-Exposé. Das war mir an der Stelle nicht möglich.
Für mich hat sich bei der Schaffung dieser antagonistischen Figur die Frage gestellt, welches ist - auch für den Leser - das schlimmstmögliche Feindbild, eingehergehend mit einem Trauma, das einerseits Angst und Abscheu auslöst, andererseits aber die Hauptfigur nicht zu nachhaltig beschädigt, zugleich aber, und das ist der springende Punkt, eine Feindschaft auf Leben und Tod etabliert, ohne Kompromisse, mit allen einhergehenden Notwendigkeiten wie Flucht, Verteidigungsbereitschaft, bis hin zur Entschlossenheit, zur Abwehr des Bösen zu töten.
Der ganz "normale" Böse bietet dem Leser nicht das ultimative Konfliktpotenzial, d.h. löst nicht in so starker Form den unbewussten Wunsch aus, sich mit der Hauptfigur emotional zu identifizieren. - Was aber nicht heißt, dass nicht in jedem Roman auch diese gebrochenen Figuren vorkommen sollen; ein "Ensemble" aus mehreren Antagonisten sollte bei so vielen Handlungsträgern stets vorhanden sein.
Die Figur des Cattaneo habe ich übrigens einer historischen Figur nachempfunden, die tatsächlich gelebt hat und auch in dem Roman namentlich Erwähnung findet. Diese Figur hat mich sozusagen inspiriert, sie war aus meiner Sicht der Inbegriff des Schreckens, böser ging nicht.
Dass die Etablierung dieses Konflikts in einem Waisenhaus stattfindet, erfüllt natürlich in gewisser Weise ein Klischee, aber solche Dinge spielen sich auch in der Realität vor solchen Klischeekulissen ab; ich erinnere nur an den grausigen Fall, der sich vor Jahrzehnten auf einer englischen Kanalinsel zugetragen hat und erst vor Kurzem aufgedeckt wurde. Die Personen, die sich schuldig machen, stecken in Klischeerollen, die Betroffenen sind in Klischeesituationen.
Was Beo sagt - dass es quasi schon darauf hinauslief - war so gedacht und hat es nach meinem Dafürhalten vielleicht für den Leser aushaltbarer gemacht, als wenn der Übergriff auch noch mit Schockeffekt von unerwarteter Seite kommt.
LG,
Charlotte T.