Beiträge von Maarten

    Ach, unterstehe dich, "weniger zu schwafeln", deine Assoziationen sind echt bereichernd für mein eigenes Gedankenkarussell.

    Ich finde es ist eine Gratwanderung. Ich selbst habe - wie vermutlich fast jeder - ein paar Jahrzehnte gebraucht, bis ich das "Deutschinterpretation"-Trauma überwunden hatte (was ja auch hier im Buch mit Dr. Theuert angesprochen wird). Eine Interpretation bestand bei mir aus Einleitung, Schluss und ein paar strukturellen Aspekten. Mit einer halben Spalte kam ich für eine Gedichtsinterpretation hin, das reichte dann meist für eine 4.
    Aus meiner heutigen Sicht ist das, was damals bei uns im Deutschunterricht gemacht wurde, ungefähr so sinnvoll, wie einem Erstklässler die Aufgabenstellung zu geben, eine möglichst realistische Beschreibung eines Orgasmus zu verfassen.

    Nach der jahrzehntelangen Überwindung des "Deutschinterpretation"-Traumas brauchte ich noch etliche weitere Jahre um überhaupt eine Ahnung davon zu bekommen, was Kunst wohl sein könnte.

    Eine Leserunde wie diese ist bei einem Buch wie "Die Wahrheit über Metting" aus meiner Sicht deswegen eine Gratwanderung, weil man durch diese verquere Art des Kunstbegriffs, wie er z.B. aus dem Deutschunterricht kommt, ständig droht in einen Schlaumeier-Wettbewerb zu verfallen.
    Wie kommt man auf die absurde Idee Kunst z.B. im Sinne einer Deutschinterpretation zu einem benoteten Leistungswettbewerb von Kindern zu machen? Es ist abgründig, widersinnig!

    Tom hat uns ein Buch voller schillernder Fische gegeben und ich möchte gerne auf viele dieser Fische zeigen, weil sie so schön sind. Aber sie sind schnell wieder verschwunden, weil man sie nur sehen kann, wenn der Blickwinkel gerade der richtige ist und der ist bei jedem anders. Es ist ein gemeinsames Erlebnis, ein Teilen. Hat man den ersten Fisch erst mal gesehen und weiß, wie er aussieht, sieht man die anderen plötzlich leichter.
    Es ist ähnlich wie bei diesen 3D-Bildern, die nur dann 3D sind, wenn man ein bisschen schielt und einen Punkt hinter oder vor dem Bild fokussiert. Man kann nicht erklären, wie man drauf schauen soll, man kann nur sagen, was man sieht und schon fokussiert man falsch und es ist wieder verschwunden. Es ist auch ähnlich wie das Erklären eines Witzes, was einfach ziemlich sinnlos ist.
    Kunst zu erleben hat überhaupt nichts mit einer intellektuellen Leistung zu tun, sondern mit eigenen Erfahrungen, mit dem eigenen aktuellen Gemütszustand, mit einer Offenheit, dem richtigen Zeitpunkt.
    Durch den Deutschunterricht und das Bildungsbürgertum ist daraus ein höchst unsinniger Wettbewerb geworden und es ist schwer von Kunst zu reden, ohne zu einem Wettbewerbsteilnehmer zu werden. (Sorry, ich schreibe mich gerade in Rage...)

    Es ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis schöne Dinge zu teilen. Wenn ich schillernde Fische sehe, möchte ich gerne darauf zeigen und sagen, schau da dieser wunderbare Fisch. Aber ich weiß, dass womöglich nur ich ihn in diesem Moment gerade sehen kann und er auch für mich dann schon wieder weg sein kann. Und gleichzeitig gibt es eben noch das Problem, dass es seine Magie verliert, wenn man zu sehr darauf zeigt. Ich weiß nicht, ob ich dafür das richtige Gespür habe.
    Nichts ist so nah an Magie wie Kunst, es lässt einen tiefe Wahrheiten in einem selbst erkennen.
    Und es hat einfach rein gar nichts mit dem formelhaften Kram aus meinem Deutschunterricht zu tun.

    Ich liebe diesen Moment, wo aus der Fassade von ein paar Worten, einer Metapher plötzlich eine dreidimensionale Welt wird, man hinter die Kulisse treten kann und sieht, wie es wirklich ist.

    Tante Li : ich merke beim Lesen Deiner Antwort, wie schwierig der Heimatbegriff in meinem Fall ist. Wenn die Familie Dorfgröße annimmt, man sich kaum noch kennt und sich über die Welt verteilt, taugt sie wenig als Heimat. Ich meinte auch eher die Entwicklung weg von einer religiös dominierten engen nationalen Gesellschaft zu einer offeneren, globaleren. Die leider gleichzeitig einhergeht mit einem aufkommenden Rechtspopulismus.

    Heimat ist bei mir auch deswegen schwierig, weil wir des Öfteren umgezogen sind.


    Aber zurück zum Buch: Aus meiner Sicht sind sie schon da, die positiven Seiten von Metting für Tom. Um das Eisdielenbeispiel zu nehmen: Eine Eisdiele ist ohne Freunde auch nur ein kalter freudloser Ort. Tom hatte einen Blutsbruder als Freund, was will man mehr. Ein Ort der Wärme und Geborgenheit war für ihn trotz der unglaublichen Enge die Wohnung von Mojca. Es gab David und Sylvia. Es gab Marieluise und das Vorlesen und es entwickelte sich etwas mit Melina.

    Der Bingopokal ist eine tiefe Erinnerung.


    All das wurde aber abrupt beendet.

    Und auch der Ring aus Eisstielen blieb unvollendet.

    Kap. 10 endet damit, dass Tom einen Schlüsselbund hat. In Kap. 11 geht's weiter mit seinem Blutsbruder Filip, der offensichtlich auch einen Schlüsselbund für seine Situation gefunden hat.

    Erst Dr. Kurtus, den er mal schön aufs Kreuz legt.

    (KorinthenkackerAlarm: 5-stellig ist nicht 6-stellig)


    Anschließend deckt er Frau Awusis Bezug zu Sinti auf. Eine schöne Szene, wie Filip die Augen verschließt und damit Frau Awusi die Macht über ihn entreißt und die anderen Kinder sich mit ihm solidarisieren.

    (Damit ist es allerdings so, dass die Ressentiments gegenüber Sinti sich zumindest in der hier durch Filip vorgetragenen Geschichte zu bewahrheiten scheinen. Später fällt Frau Asuwi auch noch bei einem Diebstahlversuch auf. Hmmm...)


    Schappkow: Dieses Kapitel war bei dieser Thematik natürlich unvermeidbar (es wäre mir lieber, wenn es nicht notwendig wäre).

    Die Nazizeit und Nazis wurden in der Literatur natürlich schon sehr häufig aufgearbeitet. Ich finde es hier sehr originell gelöst. (Hundöh!)


    Frau Käding klingt für mich wie das Öffnen einer Kasse... 😉


    Ansonsten geht alles in Metting den Bach runter, die Menschen, die man gerne um sich hat, sterben, tauchen unter, gehen weg. Die "Zigeuner" werden dauerhaft vertrieben, der Pfarrer in den Selbstmord getrieben (Strange fruits...).


    Es ist wirklich unglaublich herzlos von Toms Mutter den Papierkorb vor das Bananenzimmer zu stellen, selbst wenn Tom verboten ist, dort langzugehen.


    Es wird dringend Zeit für den 2. Teil. Marieluises Brief ist eine schöne Überleitung.


    Zur Predigt von Tizian Odol fällt mir wieder einiges an Assoziationen ein (Kann mir bitte einer einen Wink geben, wenn ich zu viel rumschwafele und ich näher am Buch bleiben soll...).

    Vielleicht lohnt sich ein Blick in meine niederländische Heimat, das ist natürlich anders als in Deutschland, aber thematisch kann man sich auch dort fragen, was steckt eigentlich hinter diesem Begriff Heimat? Auch in der Niederlande ist das wegen des Vormarsch der Rechtspopulisten ein wichtiges Thema.


    Ich kann da nur den Blick aus meiner Sicht bieten, der ja als Niederländer von Deutschland aus ist:

    Ich stamme aus einer sehr großen Familie, bei meiner Mutter 11, bei meinem Vater 12 Geschwister (wir selbst dann nur noch 3). Das liegt daran, dass zu der Zeit die Katholiken mit den Protestanten in der Gegend im Wettkampf lagen, wer mehr Anhänger hat. Der katholische Pfarrer ging regelmäßig durch die Gemeinde und forderte die nächste Geburt an. Bei gleichzeitigem Rückgang der Kindersterblichkeit führte das zu großen Familien.

    Bei meinem Vater gingen die Söhne anschließend in die Priesterschule. Mein Vater war der vierte Sohn und mich gibt es nur, weil er aus der Priesterschule ausgerissen ist. Die nachfolgenden Söhne wurden dann nicht mehr dorthin geschickt.

    Mein ältester Onkel väterlicherseits hat seinerzeit eine Zeit lang Predigtverbot bekommen, weil er die Meinung vertrat, Himmel und Hölle wären lediglich Metaphern, das ewige Leben ebenfalls, es stände für die Nachwirkungen des eigenen Lebens auf der Erde.

    In der Niederlande gibt es trotz der geringen Größe auch so etwas wie einen Bibelgürtel, eine Gegend in der es z.B. auch Probleme mit Polio gab, da eine Impfung abgelehnt wird (Impfungen untergraben Gottes Wille).

    Zuweilen haben wir Familienfeste. Bei dem letzten mütterlicherseits waren es über 200 Gäste, das sind dann nur Onkel und Tanten von mir inkl. deren Kinder, Anhang und Kindeskinder. (Die väterliche Seite ist dank der Priester etwas weniger überbordend...)

    ("Nein, sag nichts, Du bist der ... von ...")

    Wir haben grob die Nationen der Gäste auf dem Fest durchgezählt und kamen auf 14.

    Soviel als Kurzexkurs zu meiner niederländischen Heimat...

    Die Erzählung bis zum Ende des 1. Teils verdichtet sich immer weiter bis zur eindringlichen Szene in Marieluises Zimmer.


    Es gibt hier so viele Anregungen, verwinkelte Stellen um nachzudenken. Gefällt mir ausgezeichnet...


    Ein "Negerpfarrer" in einem Gebäude mit einem konischen Turm.

    "10 kleine Negerlein" war in meiner Kindheit noch ein vollkommen normales Kinderlied...

    "Die Trauerfeiern bei Pfarrer Tizian Odol waren Legende."


    "Eine Beleidigung muss als Beleidigung gedacht sein, sonst ist sie keine."

    An dieser Stelle habe ich zunächst gedacht: Ja!!!

    Gleichzeitig denke ich an naiven Rassismus, wie er z.B. in der Niederlande in Form des zwarte Piet in der Tradition um Sinterklaas allgegenwärtig ist. (Ich bin Niederländer, auch wenn ich mit 4 Jahren nach Deutschland gezogen bin und dort grossgeworden bin, was damals aus niederländischer Sicht an Landesverrat grenzte).

    Es wird in der zwarte piet-Diskussion ebenfalls dieses Argument verwendet, es sei nicht beleidigend gemeint, es solle lediglich die schöne Tradition mit der man aufgewachsen ist, weitergeführt werden.


    Wichtig scheint mir, auf sich selbst zu hören, statt sich daran zu orientieren, was andere denken. Seinem inneren Kompass zu folgen, in der Entscheidung, was richtig ist.

    Dann ist es häufig gar nicht so schwer Lösungen zu finden.


    Es ist schön, dass Tom den Schlüsselbund (ich bin mit dem männlichen Schlüsselbund aufgewachsen) am Ende in Händen hält, auch wenn er ihn nochmal abgeben muss.

    Marieluise zum Älterwerden: Hier findet sich unsere Diskussion zum Begriff Horizont wieder: "Deine Welt wird kleiner, bis du sozusagen die Wände mit den Händen berühren kannst - die Wände des Gefängnisses, in dem du unschuldig einsitzen musst."

    Ich verstehe, dass sie so gerne liest. Es ist eine Möglichkeit aus dieser Enge auszubrechen.


    Mettings große Zeit war in den 60ern. Es war Großes geplant, aber die Möglichkeiten wurden immer beschränkter (ein bisschen wie Älterwerden...). Dies führt u.a. zu einem Schulgebäude mit einer comichaften Justitia, Zellen im Keller und tiefergehängten Pinkelbecken. :-)


    Die nachfolgenden Passagen finde ich sehr dicht und verschlungen erzählt. Sehr gelungen. Es wird keine einzelne Begebenheit in Frau Awusis Gerichtssaal direkt geschildert, sondern sie wird als eine in einer Kette von Begebenheiten indirekt während des Essens bei Filips Mutter durch Tom vorsichtig aufgedeckt. Die Systematik gegenüber Filip und die Ohnmacht mit der er dieser begegnen kann, wird dadurch sehr deutlich. Gleichzeitig wird dadurch diese dichte Erzählung möglich, die Kombination mit der Rückkehr von Filips Vater und dem Einflechten von Melina.

    Wie bei Filip - seinem Blutsbrüder - steht dann etwas später auch bei Tom noch ein Essen an. Und wie bei Filip Probleme mit seinem Vater zu erwarten sind, sind bei Tom Probleme mit seiner Mutter zu erwarten. Die es dann auch prompt gibt.

    Auch hier wieder sehr verdichtet und geschickt erzählt.

    Hmm, ich erlebe ja gerade sowieso einige DejaVus in diesem Buch, da kann ich hierzu vielleicht auch was erzählen.

    Aber zunächst etwas Statistik: es gibt etwa 800000 Lehrer in Deutschland. Das ist eine so große Masse, dass da bei einzelnen Lehrern ohnehin alles möglich ist. Statistisch ist da vom Soziopathen über Rassisten, Kinderschänder usw. alles dabei. Ja, das ist ein ungemütlicher Gedanke. Man muss mit den individuellen Gegebenheiten umgehen.

    Ist Diskriminierung in der Schule in der hier geschilderten Art unwahrscheinlich? Gedankenexperiment: Lassen wir die Statistik raus und nehmen die demokratisch für den wichtigsten Posten der Menschheit gewählte Person. Das muss dann zwar ein unglaublich überqualifizierter Mensch für den Lehrerposten sein, aber doch sicher moralisch integer, weise, ausgleichend, intelligent. Stellen wir uns also Trump als Lehrer vor. Wäre Diskriminierung in der hier geschilderten Art in Trumps Klasse denkbar? Wie sieht es aus, wenn man stattdessen 800.000 Stellen besetzen muss?


    Ich bin auf eine Provinzschule gegangen. Bei uns wurde über diverse Lehrer gemunkelt, sie wären dorthin strafversetzt worden, keine Ahnung ob es stimmt.

    Wir mussten als Kinder regelmäßig einen Lehrer wecken gehen, weil er verschlief. Einer stellte sich immer so hin, dass er den Mädchen in den Ausschnitt schauen konnte.

    Einer kam regelmäßig stark betrunken zum Unterricht.

    Einer, der mich auf dem Kieker hatte, stellte mir immer am Anfang der Stunde eine Frage, die ich nicht beantworten konnte, um mich anschließend zu demütigen. Er war aus meiner Sicht einfach nur ein Soziopath, siezte die Kinder ab der 5. Klasse, um 'keine persönliche Beziehung aufkommen zu lassen, da er sonst nicht mehr objektiv urteilen könne'.

    An eine dieser Vorführungen kann ich mich noch erinnern.

    "Sie, in welchem Monat war die Oktober-Revolution?"

    "Das wird dann wohl im Oktober gewesen sein?"

    "Falsch, damals hatte man einen anderen Kalender. Es war im September. Ihre Leistungen lassen immer mehr zu wünschen übrig. Woran liegt es, haben sie private Probleme? Bettnässen vielleicht?" Usw.

    Das ging dann immer 5 Minuten in dieser Art, dann wurde normaler Unterricht gemacht.

    Meine Mutter habe ich mal in seine Sprechstunde geschickt. Sie kam zurück und meinte, 'so ein netter Mann'.


    Damals wurden evangelische Kinder in katholischen Gebieten und umgekehrt diskriminiert, Linkshänder waren ebenfalls in dieser Hinsicht beliebt.


    Unwahrscheinlich ist, dass ein 'Zigeunerkind' aufs Gymnasium ging.

    Aber Filip ist ja keines...


    Schafften Legastheniker es aufs Gymnasium und wie erging es ihnen dann da?

    Ich hatte ja auf den post von Maarten geantwortet, der den Horizont als etwas festes, unabänderliches darstellte. Als Lebensende quasi. Für mich passt der Zusammenhang aus den genannten Grund nicht.

    Und ich hatte den Horizont im Kontext des "Horizont" mit Lebenshorizont assoziiert. Dessen Ende sich nicht verschiebt, wenn man sich ihm nähert.

    Daher die Verwirrung...

    Nur in Metting, sonst vier. :(


    Falls noch jemand darüber stolpert, das ist mir schon zugetragen worden, und es stimmt leider: Früher war die Ziehung der Lottozahlen tatsächlich nach der Samstagabendshow.

    😄

    Sorry, wollte nicht pedantisch sein.

    Ich hab's nur als fortschrittlich gegenüber unserem heutigen System empfunden, bereits mit 10 Jahren über den weiteren Weg der Kids entscheiden zu müssen (zumindest hier in NRW).

    Ist einfach viel zu früh.

    Der Beginn irritiert mich etwas. Tom spricht von seiner Legasthenie als wäre er ein Experte für Rechtschreibung, gleichzeitig scheint er eine Dyskalkulie zu haben, weil er sich bei einer simplen Rechnung verrechnet. Das passt zwar in gewisser Weise wieder ins Thema, aber ist es wirklich gewollt?


    War in Niedersachsen die Grundschule 6 Jahre lang?


    Ansonsten schlagen wir thematisch aus meiner Sicht eine Brücke zu Sommer-Stumpenhorst und ähnlichen Methoden. Eine Methode, die verspricht, die LRS-Quote zu senken, meiner Erfahrung nach genau das Gegenteil erreicht.

    Ich finde die Assoziationen zum Begriff Horizont interessant. Für mich ist es im Kontext hier der Lebenshorizont, der Tag für Tag näher rückt und für die Bewohner des Horizonts bereits erdrückend nah gekommen ist.

    Auf Metting bezogen ist es für mich der Tellerrand über den man nicht hinausblickt. Assoziiert mit dem eigenen Mief in dem man erstickt. (Vielleicht liegt's daran, dass ich selbst in einer Stadt in einem Talkessel lebe...)

    Hmm, ich weiß nicht, wie man am Handy die Zitate einkürzt, deswegen leider als länger Block.


    David Sylvian: ich konnte mir schon keinen Reim darauf machen.


    Morgan: Tatsächlich habe ich sein letztes Buch immer noch nicht gelesen, obwohl ich es schon lange habe. Ich finde ihn unglaublich gut, aber auch wirklich harte Kost, die man ertragen können muss. Und sehr pessimistisch. Am Ende bleibt seinen soziopathischen Protagonisten eigentlich nichts anderes übrig als die Welt niederzubrennen. Ich kann ihre Wut gut nachvollziehen, hoffe aber auf bessere Lösungen.


    Die Wahrheit über Metting ist ein tiefgehendes durchdachtes Buch. Ich ärgere mich immer, wenn ich bei Amazon Rezensionen lese, die solche Bücher zerreißen, weil die vordergründige Story nicht mit den Baseliks dieser Welt mithalten kann. Es ist eine Gratwanderung zwischen Kunst und Reichweite, beides ist wichtig. Morgan geht seinen Weg über das Genre, macht dafür ansonsten keine Kompromisse. Du gehst da einen anderen Weg. Beides finde ich spannend.

    Ich lese typischerweise auch erst die vordergründige Geschichte und schaue dann ggfls nochmal genauer hin, wenn es sich lohnt. In einer Leserunde versuche ich das im ersten Durchgang, eine Leserunde ist intensiver.

    Das Fliess ist mir aufgefallen, ich konnte mir noch keinen Reim auf die Anzeiger machen. Kommt noch...

    Die Wahrheit über Metting weckt aber auch sehr viele persönliche Erinnerungen in mir. Ich hatte z.B. lange eine Brandnarbe auf dem Bein durch eine unglückliche Geschichte mit meinem Vater, die mit Lesen, Licht beim Camping und eine dafür ungeeignete Aufhängung einer Gaslaterne zu tun hatte...

    Ich bin ein paar Tage unterwegs und tippe ins Handy, ich hoffe die Autokorrektur hält sich zurück...


    In meiner Grundschulzeit standen schwul und Spasti ebenfalls ganz oben im verwendeten Wortschatz. Zum Glück nahm meine Mutter uns Recht schnell beiseite, als sie diese Wörter von uns bei irgendeinem Spiel draußen hörte und fragte uns, ob wir wüssten, was sie bedeuten. Wir waren da genauso unwissend wie Tom in Metting. Ihre anschließende Erklärung hinterließ zwar noch viele Fragen, aber als Schimpfwörter wurde schwul und Spasti von uns tatsächlich nie mehr benutzt.


    Die umgedrehten Papierkörbe sind wirklich unglaublich herzlos, passen aber gut zum System 'Horizont'.


    'Georg Täter' verdreht in der Namensgebung Opfer und Täter, es ist das Gegenteil drin von dem was draufsteht. Und die Wahrheit droht hinter dem Anschein zu verschwinden, wie an vielen anderen Stellen in Metting (und der realen Welt) auch.


    Wahrheit und Lüge erkennt Tom bei seinem Vater sofort. In der schwierigen Situation nach der Entdeckung beim Sex mit Jockel ist Toms Vater ehrlich und aufrichtig. Er bürdet sein Geheimnis nicht Tom auf. Respekt!

    "Es fühlt sich gut an, aber gleichzeitig fühle ich mich nicht gut dabei. Ich glaube nicht, dass Du Dir das vorstellen kannst. Niemand kann das."

    ...genau das ist es, was Morgan in 'the Steel remains' versucht begreifbar zu machen und was als Leser sehr schwer zu ertragen ist.

    Für den Rahmen hier finde ich diese Szene sehr gelungen.


    David und Sylvia lockern die ernste Thematik auf (Zufall, dass ich immer an David Sylvian denken muss?)


    Zurück zum Heimatroman zu Herbert Adolf Zeck. Und wieder wird die Wahrheit verdreht, die Einwohner von Metting-Zeck werden als Zecken bezeichnet, dabei sind sie es, die ausgesaugt werden. Eine davon ist Filips Mutter, eine großherzige und taffe Frau. Sie ist deutsch, aber nicht deutsch genug für Metting: Schwarze Haare, olivfarbene Haut, Akzent (wer kennt schon hessisch).

    Frau Awusi diskriminiert deswegen Filip als 'Zigeunerjungen' (obwohl der Name Awusi auch einiges vermuten lässt...)

    Filips Probleme mit seiner Namensschreibung in der Schule kann ich gut nachvollziehen. Ich habe selbst mehrere Zeugnisse mit 'Marten' und eines mit 'Marteen'.

    Auch in der versuchten Vergewaltigung von Melanie findet sich wieder die Verdrehung von Täter und Opfer.

    Bin ich zu ahnungslos? Ich verstehe den Zusammenhang zwischen Wurstwasser und Kindesmissbrauch und wie man darauf kommt nicht.

    Und wenn der Vater um die 40 ist, kann er seine Homosexualität nicht in der Nazizeit entdeckt haben. :gruebel

    Metting wird sicher viele verborgene Geheimnisse enthalten. Vielleicht liegts aber auch nur daran, dass meine Liebste Bewährungshelferin ist und ich dadurch einen anderen Blickwinkel habe. Die Stelle ist jedenfalls kunstvoll geschrieben. Es lohnt sich sie nochmal zu lesen.

    Der Vater ist 42. Aber stimmt, ich habe sein Alter von meiner Erinnerung an die Grundschulzeit abgezogen (73) statt dem wahrscheinlich richtigeren 78. So oder so war Homosexualität in Deutschland bis 1969 strafbar und wurde exzessiv verfolgt. Es macht also nicht so viel aus.

    Marieluise am Anfang des Buches hat mich sofort sehr an meinen Lieblingsonkel erinnert, der Anfang diesen Monat gestorben ist. Er war ein wunderbarer, lebensfreudiger und sehr unkonventioneller Mensch, der seinem eigenen inneren Kompass folgte, der immer in die richtige Richtung zeigte. Nach dem Tod meiner Tante vor 4 Jahren, mit der er über 6 Jahrzehnte zusammen war und 6 Kinder hatte, hat er nach einem Jahr eine neue Beziehung gefunden und hat mit seiner neuen Freundin bis kurz vor seinem Tod mit 93 Jahren trotz vieler körperlicher Probleme die Welt bereist. Er meinte, in seinem Alter wäre jeder weiterer Tag ein Geschenk, er hätte nichts mehr zu verlieren. Er war ein unverbesserlicher Optimist. "Morgen geht die Sonne wieder auf", war sein Motto. Auch an seinem Todestag meinte er, wenn ich heute durchkomme, geht es mir morgen bestimmt schon wieder etwas besser. Er starb zuhause, nachdem er sich mit Corona angesteckt hatte.


    Was hat das mit der Wahrheit über Metting zu tun?
    "Es sind nicht die Orte, es sind immer die Menschen."
    Metting ist ein imaginärer Ort mit einem Kreisverkehr ohne Ausfahrt, einem Altenheim namens Horizont und einem imaginären Lyrikdichter der es scheinbar geschafft hat Deutschland während der Nazizeit nicht entfliehen zu müssen und trotzdem später den Nobelpreis zu bekommen. Einem Lyrik-Dichter mit imaginärer Lyrik die keine ist, sie ist vermutlich durch irgendeinen willkürlichen Algorithmus entstanden.
    Metting hat eigentlich nichts zu bieten außer einem Schulgebäude, dass zu Höherem bestimmt war und diesen geheimnisvollen Dichter, der gleichzeitig mit Metting nichts zu tun haben möchte.


    Und ich fühle mich sofort erinnert an das eigene provinzielle Kaff in dem ich wohne, auch wenn es hier immerhin ein Landgericht und sogar eine große Universität gibt.
    Auch fühle ich mich an meine eigene Kindheit erinnert, 78 war ich 13, das passt gut. Wobei ich mich eher an meine Zeit in der Grundschule erinnert fühle, also eher 74. Ich wohnte in einem kleinen Dörfchen umgeben von Weizenfeldern. Hauptattraktionen des Jahres eines winzige Kirmes, eine Tombola zu St. Martin (Hauptgewinn neben vielen Schokotafeln, Kaffeepackungen usw. eine lebende Gans, die ich tatsächlich in einem Jahr gewonnen habe), riesigen Scheiterhaufen zu St. Martin (damals durfte man die noch aus Autoreifen stapeln). Ab und zu campten auch in der Nähe dieses Dorfes Menschen die Zigeuner genannt wurden und deren Kinder dann für wenige Wochen zu uns in die Schule kamen und beäugt wurden. In solchen Zeiten wurde im Dorf davor gewarnt auf seine Sachen aufzupassen, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, dass wirklich jemanden mal was weggekommen ist.
    Jedenfalls weckt das Buch viele Erinnerungen bei mir...

    Aber zurück zum Anfang:
    Die Truhe von Marieluise: Ein gelungener Einstieg, die Truhe macht mich direkt neugierig auf die Geschichte, auch oder vielleicht gerade, weil ich mittlerweile eine Vermutung habe, welches Geheimnis in ihr verborgen ist. Ich bin gespannt auf die Auflösung.

    Der Vater: Der Vater dürfte seine Homosexualität in der Nazizeit entdeckt haben. Es ist verständlich, dass er sie unterdrückt/versteckt hat. Die Stelle mit dem Uropa und dem Wurstwasser klingt nach Kindesmissbrauch.
    Tom , Du schreibst an anderer Stelle, dies ist ein Buch über Heimat. In diesem Kontext denke ich sofort an Alan Turing: Genie und Kriegsheld mit der Entschlüsselung der Enigma, 1952 wegen seiner Homosexualität zur chemischen Kastration verurteilt, in Folge der Hormonbehandlung depressiv mit Suizid 2 Jahre später. Eine Begnadigung wurde noch 2011 trotz Petition abgelehnt. Erst 24.12.2013 endlich ein "Royal Pardon".
    Heimat? "Es sind immer die Menschen..."
    Ich bin nicht wirklich glücklich mit "Wurstwasser", vielleicht ist mir das Thema zu ernst. Aber wie Du merkst: Die Wahrheit über Metting beschäftigt mich, ich lese es gerne.
    (Ich fand zu diesem Thema Richard Morgans "The steel remains" sehr gelungen, allerdings keine leichte Kost, schwer erträglich.)